Bundessozialgericht, Beschluss vom 23.05.2013, Az. B 4 AS 247/12 B

4. Senat | REWIS RS 2013, 5561

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - keine Gelegenheit zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung - Nichterhalt der Terminbestimmung - Verantwortung des Gerichts - Ausnahme nur bei Unregelmäßigkeiten und Auffälligkeiten nach Aktenlage - Abstellen auf den Einzelfall


Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 1. Februar 2012 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger beantragte im Oktober 2009 [X.][X.] II-Leistungen und wurde von dem [X.]eklagten aufgefordert, bis spätestens 16.11.2009 einen Schufa-Auszug, eine Unbedenklichkeitsbescheinigung vom Finanzamt und eine Rentabilitätsvorschau in [X.]ezug auf seine geplante Selbständigkeit vorzulegen (Schreiben vom 30.10.2009). Den hiergegen gerichteten Widerspruch verwarf der [X.]eklagte als unzulässig (Widerspruchsbescheid vom [X.]). Klage und [X.]erufung hatten keinen Erfolg (Gerichtsbescheid des [X.]; Urteil des [X.]). Zur [X.]egründung seiner Entscheidung hat das [X.] ausgeführt, der Senat könne auch in Abwesenheit des [X.] verhandeln und entscheiden, weil in der ordnungsgemäßen Terminbenachrichtigung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sei. Zwar bestünden Zweifel, ob das [X.] die Klage zu Recht als unzulässig habe abweisen können, weil der Widerspruchsbescheid eine Regelung treffe. Die Klage sei jedoch unbegründet, weil der [X.]eklagte zu Recht entschieden habe, dass der Widerspruch mangels eines vorliegenden Verwaltungsaktes unzulässig sei. Das Schreiben vom 30.10.2009 enthalte nur eine Mitwirkungsaufforderung ohne konkreten Regelungsinhalt. Das [X.] habe durch Gerichtsbescheid entscheiden dürfen. Die diesbezügliche Mitteilung brauche keinen weiteren Inhalt aufzuweisen.

2

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, es liege ein wesentlicher Verfahrensfehler vor, weil das [X.] im Termin am 1.2.2012 durch Urteil entschieden und nicht wegen seiner Abwesenheit vertagt habe. Der [X.] habe mit Ladungsverfügung vom 17.12.2011 für Mittwoch, den 1.2.2011, um 13.35 Uhr terminiert. Er habe die Terminnachricht nicht erhalten und entsprechend den Termin nicht wahrnehmen können. Nach dem Sitzungsprotokoll des [X.] sei bei [X.] am 1.2.2012 um 13.37 Uhr für den [X.]eklagten lediglich dessen [X.] anwesend gewesen. Feststellungen zu seinem Nichterscheinen seien nicht getroffen worden. Da nur der [X.]eklagte mit [X.] geladen worden sei, habe sich das [X.] gedrängt fühlen müssen, ggf über die Geschäftsstelle nachzufragen, ob Gründe für sein Nichterscheinen bekannt seien. Aus der Akte sei ersichtlich gewesen, dass er nur mit einfachem [X.]rief zum Termin geladen worden sei, so dass nicht als sicher angesehen werden konnte, dass er die Terminmitteilung erhalten habe. Zudem habe das [X.] aus seinen Schriftsätzen den Eindruck gewinnen müssen, dass es ihm um die Sache selbst gegangen sei. [X.]edenken bestünden auch wegen der Nichteinhaltung einer angemessenen Wartezeit, weil das [X.] keinen - in der Regel üblichen - Zeitraum von 15 Minuten berücksichtigt habe, sondern bereits um 13.37 Uhr den Rechtstreit aufgerufen habe.

3

II. Die [X.]eschwerde ist zulässig und begründet. Der von dem Kläger gerügte Verfahrensmangel einer unzureichenden Gewährung rechtlichen Gehörs liegt vor und führt hier gemäß § 160a Abs 5 [X.]G iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]G zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.].

4

Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist [X.] begründet, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Das [X.]erufungsurteil ist unter Verletzung des Anspruchs des [X.] auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]G) ergangen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs erfordert, dass den [X.]eteiligten ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen gegeben werden muss, dies vor allem in der mündlichen Verhandlung ([X.][X.] [X.] 3-1500 § 62 [X.] 5; [X.][X.] [X.] 3-1500 § 128 [X.] 14). Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, müssen die [X.]eteiligten die Möglichkeit haben, hieran teilzunehmen. Diese Möglichkeit hatte der Kläger jedoch nicht, weil er die Terminbenachrichtigung zu dem Termin am 1.2.2012 nach seinen Angaben nicht erhalten hat.

5

Zwar müssen Terminbestimmungen und Ladungen nach § 63 Abs 1 Satz 2 [X.]G (idF des 6. [X.]G-Änderungsgesetzes vom [X.] - [X.]) nicht (mehr) zugestellt werden; es genügt schon die [X.]ekanntgabe, etwa durch einfachen [X.]rief oder durch Einwurfschreiben. Es liegt jedoch weiterhin vorrangig in der Verantwortung des Gerichts, den Anspruch auf rechtliches Gehör sicherzustellen. Dieses muss sich - je nach den Gegebenheiten des Einzelfalls - gegebenenfalls Gewissheit darüber verschaffen, ob ein für die Wahrung des rechtlichen Gehörs bedeutsames, aber mit einfachem [X.]rief übersandtes Schreiben den [X.]eteiligten auch tatsächlich erreicht hat.

6

Dass der Kläger die Terminmitteilung nicht erhalten hat, ergibt sich aus seiner [X.]eschwerdebegründung. Ein Nachweis über den Erhalt dieses Schreibens fehlt. Es kann nicht regelmäßig allein aufgrund des bloßen Absendens einer Terminmitteilung gefolgert werden, dass dieses Schreiben den [X.]eteiligten auch erreicht hat. Wird auf eine förmliche Zustellung mit Nachweis des Erhalts des Zugangs über die Terminmitteilung oder Ladung zu einem Verhandlungstermin verzichtet, muss sich das [X.] - je nach den [X.]esonderheiten des Falls - damit befassen, ob dieses Schreiben den [X.]eteiligten auch erreicht hat und sich ggf Gewissheit darüber verschaffen, dass dieses zugegangen ist (vgl zum [X.] nach § 153 Abs 4 Satz 2 [X.]G: [X.][X.] [X.]eschluss vom 29.11.2012 - [X.] [X.]/12 [X.], juris Rd[X.] 5 mwN). Zwar kann nicht in allen Fällen einer "schlichten" [X.]ekanntgabe einer Terminbestimmung oder Ladung von einer Verletzung des § 63 [X.]G ausgegangen werden, wenn ein [X.]eteiligter behauptet, die Ladung nicht erhalten zu haben, etwa wenn sich nach Aktenlage bereits Unregelmäßigkeiten und Auffälligkeiten bei Übersendungen mit einfachem [X.]rief im Zugangs- und "Herrschaftsbereich" des dafür erforderlichen Adressaten ergeben haben (vgl hierzu [X.][X.] [X.] 4-1500 § 62 [X.] 2; [X.]eschluss des Senats vom [X.] - [X.] 4 [X.]/12 [X.]). Ein derartiger Fall ist hier jedoch nicht gegeben, weil der - jeweils mit Postzustellungsurkunde zugestellte - Gerichtsbescheid des [X.] und der [X.]eschluss des [X.] über die Ablehnung der [X.]efangenheit vom 23.8.2011 sowie die sonstigen Schriftsätze den Kläger unproblematisch erreicht haben.

7

Es liegen zudem einzelfallbezogene [X.]esonderheiten vor, die es - nach Auswertung des Akteninhalts dieses Verfahrens - nahelegen, dass der Kläger auf den Erhalt der Terminmitteilung über den Verhandlungstermin vor dem [X.] am 1.2.2012 reagiert hätte. So hat er auf ausdrückliche Nachfrage des [X.]erichterstatters beim [X.] zu einem Einverständnis ohne mündliche Verhandlung vom 10.1.2011 deutlich gemacht, dass er hiermit nicht einverstanden sei und weitere rechtliche Erörterungen durch das [X.]erufungsgericht für erforderlich halte. Zudem hat er ausdrücklich kritisiert, dass das [X.] in seinem [X.] vom 28.10.2010 zum Gerichtsbescheid keine Hinweise zu der dort vertretenen Auffassung, es handele sich um ein Verfahren ohne besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art, gegeben habe. Auch wegen des hierdurch dokumentierten Interesses des [X.] am Ausgang des Verfahrens geht der Senat bei zusammenfassender Würdigung davon aus, dass die Terminmitteilung nicht in den Herrschaftsbereich des [X.] gelangt ist.

8

Weiteres Vorbringen des [X.] war nicht erforderlich, weil "wegen des besonderen Rechtswertes der mündlichen Verhandlung" im allgemeinen davon auszugehen ist, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten daran hindert, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, für die Entscheidung ursächlich geworden ist (vgl nur [X.][X.] [X.] 3-1750 § 227 [X.] 1 Rd[X.] 16). Gründe die eine Ursächlichkeit des gerügten Verfahrensfehlers für das angefochtene Urteil ausschließen könnten, sind hier nicht ersichtlich (vgl auch Urteil des Senats vom 19.2.2009 - [X.] 4 AS 10/08 R und Urteil vom 24.2.2011 - [X.] [X.]/09 R - [X.] 4-4200 § 60 [X.] 1).

9

Nach § 160a Abs 5 [X.]G kann das [X.][X.] mit dem [X.]eschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen. Da letzteres hier der Fall ist, macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch und verweist in der Sache insofern auch auf das Urteil des 14. Senats des [X.][X.] vom 24.2.2011 ([X.] [X.]/09 R - [X.] 4-4200 § 60 [X.] 1).

Die Entscheidung über die Kosten des [X.]eschwerdeverfahrens bleibt dem [X.] vorbehalten.

Meta

B 4 AS 247/12 B

23.05.2013

Bundessozialgericht 4. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Köln, 19. November 2010, Az: S 28 AS 3547/10, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 63 Abs 1 S 2 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 23.05.2013, Az. B 4 AS 247/12 B (REWIS RS 2013, 5561)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 5561

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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