Bundesfinanzhof, Beschluss vom 23.06.2014, Az. X B 167/13

10. Senat | REWIS RS 2014, 4684

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Gegenstand

Verzicht auf mündliche Verhandlung - Auslegung einer Prozesshandlung


Leitsatz

1. NV: Der Verzicht auf mündliche Verhandlung muss klar, eindeutig und vorbehaltslos erklärt werden.

2. NV: Der BFH ist bei der Auslegung und Beurteilung dieser Prozesshandlung nicht an die Feststellungen des FG gebunden.

Tatbestand

1

I. Der anwaltlich nicht vertretene Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erhob am 28. Februar 2011 vor dem [X.] ([X.]) Untätigkeitsklage. Er beantragte, den Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --[X.]--) zu verurteilen, zum einen den Einkommensteuerbescheid 2009 unter Berücksichtigung von bestimmten Aufwendungen zu ändern und zum anderen das anhängige Rechtsbehelfsverfahren abzuschließen. Im Schriftsatz vom 9. März 2011 erklärte der Kläger, er sei in dem Klageverfahren "wegen Untätigkeit der Einspruchsbearbeitung zur Einkommensteuer 2009" mit der Entscheidung durch die Berichterstatterin ohne mündliche Verhandlung einverstanden. Nachdem das [X.] die Einspruchsentscheidung am 14. Dezember 2011 erlassen hatte, zeigte der Kläger am 27. Dezember 2011 "Klageerledigung für die Untätigkeit des Beklagten durch Erlass der Einspruchsentscheidung" an und formulierte die Anträge neu. Mit Schriftsatz vom 2. Juni 2013 widerrief der Kläger seine Verzichtserklärung, da sich die Prozesslage seit dem 9. März 2011 bei objektiver Betrachtung in diesem Verfahren nachträglich wesentlich geändert habe. Die Erklärung sei für das Verfahren der Untätigkeitsklage erteilt worden; diese sei erledigt. Derzeit werde die Klage mit geänderten Klageanträgen als Verpflichtungsklage fortgeführt.

2

Am 25. Juli 2013 wies das [X.] die Klage ohne mündliche Verhandlung ab. Es war der Auffassung, eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung sei möglich gewesen, da der Kläger sein erteiltes Einverständnis nicht habe wirksam widerrufen können. Ein Verzicht auf die mündliche Verhandlung könne nur ausnahmsweise widerrufen werden, wenn sich die Prozesslage nach Abgabe der Einverständniserklärung wesentlich geändert habe. Dies sei im Streitfall indes nicht gegeben gewesen.

3

Zur Begründung seiner Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision trägt der Kläger u.a. vor, das [X.] habe dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör versagt, da es ohne mündliche Verhandlung entschieden habe. Die Auslegung des Schriftsatzes vom 9. März 2011 lasse lediglich eine Teileinverständniserklärung für das Verfahren bezüglich der Untätigkeitsklage zu. Das [X.] habe zudem den Sachverhalt nicht ausreichend erforscht; auch sei die Revision zur Sicherung der Rechtseinheit zuzulassen.

Entscheidungsgründe

4

II. [X.] ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

5

1. Der von dem Kläger geltend gemachte Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, liegt vor. Das [X.] hat dem Kläger rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 [X.]O) versagt, indem es den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, obwohl die Voraussetzungen für eine Entscheidung des [X.] ohne mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 2 [X.]O nicht gegeben waren (vgl. Urteile des [X.] --[X.]-- vom 4. November 1992 [X.], [X.] 1993, 372; vom 5. Juli 1995 [X.], [X.], 301, [X.] 1995, 842, und vom 31. August 2010 VIII R 36/08, [X.], 1, [X.], 126, jeweils m.w.N.).

6

Im vorliegenden Fall hat der Kläger --entgegen der Auffassung des [X.]-- nicht wirksam auf die mündliche Verhandlung verzichtet.

7

a) Der Verzicht auf die mündliche Verhandlung ist eine Prozesshandlung; bei ihrer Auslegung und Beurteilung ist der Senat nicht an die Feststellungen des [X.] gebunden (vgl. [X.]-Urteil vom 20. Juni 1984 I R 22/80, [X.], 32, [X.] 1985, 5). Als Prozesshandlung muss der Verzicht klar, eindeutig und vorbehaltlos erklärt werden (ständige [X.]-Rechtsprechung, vgl. z.B. Beschluss vom 9. Januar 2006 XI B 176/04, [X.] 2006, 1105, m.w.N.).

8

b) Dem Schriftsatz des nicht vertretenen [X.] vom 9. März 2011 kann ein dergestalt klarer, umfassender und unbedingter Verzicht auf die mündliche Verhandlung nicht mit der notwendigen Eindeutigkeit entnommen werden.

9

aa) Die --vom Wortlaut fast unmissverständliche-- Verzichtserklärung kann nur dahingehend verstanden werden, dass der Kläger lediglich in Bezug auf die künftige Entscheidung des [X.] wegen der Untätigkeit des [X.] auf eine mündliche Verhandlung verzichten wollte und verzichtet hat.

Dem Kläger war im Zeitpunkt seiner Verzichtserklärung durchaus bewusst, dass es in dem [X.]-Verfahren ggf. auch zu einer materiellen Prüfung der Rechtslage kommen konnte, da er den Aspekt der Untätigkeit des [X.] ausdrücklich von der Frage, welche Aufwendungen im Einkommensteuerbescheid 2009 ggf. noch zu berücksichtigen waren, getrennt hat. Dies ergibt sich zum einen aus seinem Klageantrag vom 28. Februar 2011, in dem er seine beiden Begehren unter zwei unterschiedlichen Ziffern aufgeführt hat. Zum anderen hat der Kläger auch in seinem Schreiben vom 28. März 2011 ausdrücklich zwischen der Untätigkeit des [X.] differenziert, indem er den diesbezüglichen Antrag zurückgenommen hat, und der angestrebten Abziehbarkeit von weiteren Aufwendungen, indem er diesen Punkt ergänzt und neu gefasst hat.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht möglich, die auf die Untätigkeit des [X.] bezogene Verzichtserklärung des nicht beratenen [X.] über den Wortlaut hinaus so auszulegen, dass sie auch die gerichtliche Prüfung der materiellen Rechtslage [X.] sollte (vgl. auch [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 90 [X.]O Rz 9, der darauf hinweist, dass bei durch Auslegung nicht zu überwindenden Zweifeln darüber, wie die Verzichtserklärung aufzufassen ist, nicht wirksam verzichtet wurde).

bb) Diese wortlautgetreue und restriktive Auslegung der Verzichtserklärung ist aufgrund der besonderen Interessenlage der Beteiligten auch geboten. Denn der Verzicht hat für die Beteiligten weitreichende Folgen, weil er als Prozesshandlung nach der Rechtsprechung des [X.] nicht wegen Irrtums anfechtbar und auch nicht frei widerrufbar ist (ständige [X.]-Rechtsprechung, vgl. z.B. Urteil in [X.], 1, [X.], 126, m.w.N.; Mai in [X.], [X.]O § 90 Rz 23).

2. Da die Verzichtserklärung des [X.] nach den vorstehenden Maßgaben das weitere über das Verfahren wegen der Untätigkeit des [X.] hinausgehende prozessuale Geschehen nicht mitumfasste und insoweit keine Wirkung zeitigen konnte, war der Kläger nicht nach den [X.] vertreten (§ 119 Nr. 4 [X.]O; vgl. z.B. [X.]-Beschlüsse vom 12. Januar 2007 II B 41/06, [X.] 2007, 755, und vom 8. Februar 2008 XI B 190/07, juris; vgl. auch Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 119 Rz 19, m.w.N.).

Dieser Verfahrensfehler ist ein absoluter Revisionsgrund, bei dem gemäß § 119 Nr. 4 [X.]O davon auszugehen ist, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruht. Daher hält es der Senat für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 [X.]O zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 [X.]O).

Meta

X B 167/13

23.06.2014

Bundesfinanzhof 10. Senat

Beschluss

vorgehend Sächsisches Finanzgericht, 25. Juli 2013, Az: 6 K 328/11, Urteil

§ 90 Abs 2 FGO, § 119 Nr 4 FGO, Art 103 Abs 1 GG, § 118 Abs 2 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 23.06.2014, Az. X B 167/13 (REWIS RS 2014, 4684)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 4684

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