Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 05.02.2024, Az. 1 AV 1/23

1. Senat | REWIS RS 2024, 1062

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Gegenstand

Örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts bei länderübergreifender Verteilung


Leitsatz

In Streitigkeiten betreffend die länderübergreifende Verteilung nach § 51 AsylG bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit auch dann nach § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO, wenn das danach zuständige Verwaltungsgericht einem anderen Land angehört als die Behörde, die nach § 51 Abs. 2 Satz 2 AsylG über den Antrag zu entscheiden hat.

Tenor

Als zuständiges Gericht für die Entscheidung über die Klage wird das [X.] bestimmt.

Gründe

I

1

Die Antragstellerin, eine [X.] Staatsangehörige, stellte im Juli 2023 einen Asylantrag, über den nach Aktenlage noch nicht entschieden wurde. Nach [X.] in der Erstaufnahmeeinrichtung in [X.] wurde sie verpflichtet, ihren Wohnsitz in [X.] im Kreis [X.] ([X.]) zu nehmen. Mit Schreiben vom 9. August 2023 beantragte sie ihre Umverteilung nach [X.] im R.-Kreis) [X.]). Mit Bescheid vom 25. Oktober 2023 lehnte der Beklagte den Antrag ab.

2

Entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung in diesem Bescheid hat die Klägerin beim [X.] Klage erhoben, mit der sie die Aufhebung des Bescheids und hilfsweise die Verpflichtung begehrt, sie der Stadt [X.] zuzuweisen. Gleichzeitig hat sie einen Antrag auf Eilrechtsschutz gestellt.

3

Das [X.] hat sich mit Beschluss vom 22. November 2023 für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das [X.] verwiesen. Eine eigene Zuständigkeit ergebe sich nicht aus § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO, weil diese Vorschrift

"mit Blick auf das sich aus Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz - GG - ergebende Föderalismusprinzip der [X.] [...] dahingehend verfassungskonform auszulegen [sei], dass Streitigkeiten nach dem Asylgesetz, die das Verwaltungshandeln einer Behörde eines anderen [X.]eslandes als [X.]behörde beträfen, nicht von § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO umfasst"

seien. Vielmehr sei das [X.] gemäß § 52 Nr. 5 VwGO örtlich zuständig.

4

Das [X.] hat sich mit Beschluss vom 7. Dezember 2023 ebenfalls für örtlich unzuständig erklärt und dem Verweisungsbeschluss des [X.] wegen eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 2 Satz 2 GG die Bindungswirkung abgesprochen. Zugleich hat es das [X.] zur Bestimmung des zuständigen Gerichts angerufen.

II

5

1. Das [X.] ist für die Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem [X.] und dem [X.] gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO zuständig. Nach dieser Vorschrift wird das zuständige Gericht durch das nächsthöhere Gericht bestimmt, wenn sich verschiedene Verwaltungsgerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, rechtskräftig für unzuständig erklärt haben. [X.] gemeinsames Gericht ist im Fall eines negativen Kompetenzkonflikts zwischen Verwaltungsgerichten verschiedener [X.]esländer das [X.] ([X.], Beschluss vom 9. Januar 2023 - 10 AV 1.23 - NVwZ 2023, 434).

6

2. Das [X.] ist für die Entscheidung im vorliegenden Verfahren gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO örtlich zuständig (a). Dem Verweisungsbeschluss dieses Gerichts ist ausnahmsweise die Bindungswirkung des § 83 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG abzusprechen (b).

7

a) Die örtliche Zuständigkeit des [X.] folgt aus § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO. Nach dieser Vorschrift ist in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Ausländer nach dem Asylgesetz seinen Aufenthalt zu nehmen hat. Nach dieser Sonderregelung kommt es in [X.] allein darauf an, wo sich der Asylsuchende aufzuhalten hat (§§ 44 ff. [X.]). Nicht entscheidend ist, wo der Asylsuchende sich tatsächlich aufhält oder aufhalten möchte. Der Wohnsitz des Asylsuchenden ist lediglich dann maßgeblich, wenn nach § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO eine örtliche Zuständigkeit nicht gegeben ist. Nur dann richtet sich die Zuständigkeit gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 2 VwGO nach § 52 Nr. 3 VwGO. Das ist für Fälle bejaht worden, in denen noch kein Zuweisungsbescheid ergangen oder ein ergangener Zuweisungsbescheid widerrufen oder zurückgenommen worden ist (vgl. [X.], Beschluss vom 28. Juli 1997 - 9 AV 3.97 - juris Rn. 4). Eine derartige Konstellation ist nicht zu erkennen. Vielmehr war die eine länderübergreifende Umverteilung begehrende Antragstellerin im maßgeblichen Zeitpunkt der Klageerhebung (vgl. § 83 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17 Abs. 1 Satz 1 GVG) verpflichtet, ihren Wohnsitz im Kreis [X.], mithin im Zuständigkeitsbereich des [X.], zu nehmen.

8

b) Eine Zuständigkeit des [X.] folgt nicht daraus, dass das [X.] das Verfahren mit Beschluss vom 22. November 2023 an das [X.] verwiesen hat. Der Verweisungsbeschluss ist für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, zwar grundsätzlich - selbst bei Fehlerhaftigkeit - bindend (§ 83 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG). Die Bindungswirkung entfällt jedoch bei extremen Rechtsverstößen ([X.], Beschlüsse vom 10. März 2016 - 6 AV 1.16 - [X.] 300 § 17a [X.] Rn. 4 und vom 16. Juni 2021 - 6 AV 1.21 - [X.] 421.10 Schulrecht Nr. 20 Rn. 10). Ein solcher liegt vor, wenn sich die Verweisung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diesen beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist. Hiervon kann ausgegangen werden, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist ([X.], Beschluss vom 16. Juni 2021 - 6 AV 1.21 - [X.] 421.10 Schulrecht Nr. 20 Rn. 10) oder wenn das verweisende Gericht die herkömmlichen Methoden der Interpretation eines Gesetzestexts, der seine Zuständigkeit normiert, [X.] und damit die Bahnen ordnungsgemäßer Rechtsfindung verlässt ([X.], Beschluss vom 1. Dezember 1992 - 7 A 4.92 - [X.] 407.3 VerkPBG Nr. 3).

9

So liegt es hier. Dem [X.] ist beizupflichten, dass die gesetzliche Zuständigkeitsregelung eindeutig ist. Bei der Interpretation einer Norm darf das gesetzgeberische Ziel nicht in wesentlichen Punkten verfehlt oder verfälscht werden (vgl. [X.], Beschluss vom 16. Dezember 2014 - 1 BvR 2142/11 - [X.]E 138, 64 Rn. 86 m. w. N.). Die von dem [X.] vorgenommene einschränkende Auslegung des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO geht hieran vorbei und ist daher offensichtlich unhaltbar. Die von ihm vertretene Annahme, dass Streitigkeiten nach dem Asylgesetz, die das Verwaltungshandeln der Behörde eines anderen [X.]eslandes als [X.]behörde betreffen, nicht von § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO umfasst sein sollen, ist mit der gesetzgeberischen Grundentscheidung, Asylstreitigkeiten an dem in der Norm bezeichneten Verwaltungsgericht zu konzentrieren, nicht zu vereinbaren (aa). Eine einschränkende Auslegung ergibt sich auch nicht aus dem [X.] ([X.]). Örtlich zuständig ist daher das [X.] (cc).

aa) Mit dem Erlass der [X.]ordnung hat der [X.] von seiner Gesetzgebungsbefugnis nach Art. 74 Abs. 1 Satz 1 GG Gebrauch gemacht und die örtliche Zuständigkeit in § 52 VwGO abschließend geregelt ([X.], Beschluss vom 7. Mai 1974 - 2 BvL 17/73 - [X.]E 37, 191 <198>). Entsprechend ist § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO, der durch das [X.] zur Änderung der [X.]ordnung vom 25. Juli 1978 ([X.] 1107) eingefügt wurde, als abschließende Sonderregelung für Streitigkeiten nach dem Asylgesetz zu verstehen. Der Gesetzgeber beabsichtigte mit dieser Regelung, die im Einklang mit der Verfassung steht (vgl. [X.], Beschluss vom 9. September 1980 - 9 ER 402.80 - [X.] 310 § 52 VwGO Nr. 19), die örtliche Gerichtszuständigkeit bei [X.] zu dezentralisieren. Nicht der Sitz des [X.]esamtes, sondern allein der Wohnsitz oder Aufenthalt des Asylbewerbers, den dieser in rechtlich zulässiger Weise begründet hat, ist für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit des [X.] maßgeblich (vgl. [X.]. 8/1935, [X.], 5 f.). Das hiernach bestimmte Gericht soll für alle Streitigkeiten über Verwaltungsakte nach dem Asylrecht zuständig sein, die gegen Asylbewerber getroffen werden, um zu vermeiden, dass unterschiedliche Gerichte über zusammengehörende Maßnahmen entscheiden (vgl. [X.]. 9/875, S. 27).

Im Sinne dieser gesetzgeberischen Zielsetzung ist der Begriff der Streitigkeiten nach dem Asylgesetz in § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO weit auszulegen (vgl. bereits [X.], Beschluss vom 27. Juni 1984 - 9 A 1.84 - [X.] 310 § 50 VwGO Nr. 11 S. 2). Erfasst werden sämtliche Rechtsstreitigkeiten, die ihre rechtliche Grundlage im Asylgesetz haben. Geht es um die Anfechtung eines belastenden Verwaltungsakts gegenüber einem Ausländer, ist allein entscheidend, auf welche Rechtsvorschrift die Behörde ihre Maßnahme tatsächlich gestützt hat ([X.], Urteil vom 31. März 1992 - 9 C 155.90 - [X.] 402.25 § 22 AsylVfG Nr. 4).

[X.]) Diesem Verständnis des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO stehen die verfassungsrechtlichen Erwägungen des [X.] nicht entgegen. Das [X.] (Art. 20 Abs. 1 GG) verbietet es nicht grundsätzlich, dass das Verwaltungsgericht eines [X.] über Maßnahmen einer Behörde entscheidet, die einem anderen Land angehört. Vielmehr ist dies für die Tätigkeit von Behörden, deren Zuständigkeit sich auf mehrere [X.]bezirke erstreckt, in § 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO gesetzlich vorgesehen; § 52 Nr. 3 Satz 4 VwGO stellt insoweit nur eine Ausnahmeregelung für die Maßnahmen der in der Vorschrift bezeichneten Behörde dar. Soweit die den föderativen [X.] berücksichtigende grundsätzliche Ausgestaltung der [X.]barkeit als [X.]gerichtsbarkeit es ausschließt, dass über die Verwaltungstätigkeit eines [X.] im Zusammenhang mit Dienstverhältnissen im Sinne des § 52 Nr. 4 Satz 1 VwGO Gerichte eines anderen [X.] befinden (vgl. [X.], Beschluss vom 24. Februar 1988 - 2 ER 401.87 - [X.] 310 § 53 VwGO Nr. 15 m. w. N.), lässt sich diese einschränkende Auslegung auf die nach ihrem Wortlaut, ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Zwecksetzung eindeutige Regelung des § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO ersichtlich nicht übertragen. Die vom [X.] schließlich noch herangezogene Zuständigkeitsregelung in § 51 Abs. 2 Satz 2 [X.] betrifft, wie das [X.] selbst erkennt, allein die behördliche Zuständigkeit.

cc) Maßgeblich sind hier, wie sich aus dem angefochtenen Ablehnungsbescheid ergibt, Normen des Asylgesetzes, namentlich § 51 Asyl[X.] Somit handelt es sich nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen um eine Streitigkeit im Sinne des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO (ebenso die nahezu einhellige Auffassung in Rechtsprechung und Literatur; vgl. etwa [X.], Urteil vom 2. Februar 2006 - [X.] S 929/05 - [X.] 2006, 293 Rn. 15; [X.], in: [X.] Ausländerrecht, Kluth/[X.], Stand: 1. Oktober 2023, § 51 [X.] Rn. 16; [X.], in: [X.], [X.]ordnung, 16. Aufl. 2022 § 52 Rn. 19; [X.], in: [X.] Migrations- und Integrationsrecht, [X.]/[X.]/[X.], Stand: 15. Oktober 2023, § 51 [X.] Rn. 24; im Ergebnis auch [X.], in: [X.]/[X.], Verwaltungsrecht, Stand: März 2023, § 52 VwGO Rn. 23 f.). Örtlich zuständig für die gerichtliche Entscheidung über das Umverteilungsbegehren ist allein das Verwaltungsgericht, in dessen Bezirk der Ausländer seinen Aufenthalt zu nehmen hat - hier das [X.] -, und nicht das Verwaltungsgericht, in dessen Bezirk der Ausländer umverteilt werden will.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst (vgl. [X.], Beschluss vom 9. Januar 2023 - 10 AV 1.23 - juris Rn. 11).

Meta

1 AV 1/23

05.02.2024

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AV

vorgehend VG Arnsberg, 7. Dezember 2023, Az: 9 K 3973/23, Beschluss

§ 51 Abs 2 S 2 AsylVfG 1992, § 52 Nr 2 S 3 VwGO, § 17a Abs 2 S 3 GVG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 05.02.2024, Az. 1 AV 1/23 (REWIS RS 2024, 1062)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 1062

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1 BvR 2142/11

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