Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 10.02.2020, Az. 1 AV 1/20

1. Senat | REWIS RS 2020, 3758

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Gegenstand

Bestimmung des zuständigen Gerichts im Asylverfahren


Tenor

Das [X.] wird als zuständiges Gericht bestimmt.

Gründe

I

1

Das [X.] hat mit Beschluss vom 29. Januar 2020 das [X.] zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts angerufen. Für den Antrag des in [X.] aufhältigen Antragstellers zu 1, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Ersuchen [X.]s auf Übernahme seines Asylverfahrens stattzugeben und sich für das Asylverfahren für zuständig zu erklären, sei das [X.] gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 2, Nr. 3 Satz 3, Nr. 5 VwGO zuständig. Für den entsprechenden Antrag der Antragsteller zu 2 und 3, für die auf ihren Asylantrag hin ein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 [X.] festgestellt worden ist und die über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 [X.] verfügen, sei gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3 i.V.m. Nr. 3 Satz 2 VwGO nach deren Wohnsitz das [X.] zuständig. Da die Annahme einer notwendigen Streitgenossenschaft nicht fernliegend sei, bedürfe es einer Zuständigkeitsbestimmung nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO.

II

2

1. Das [X.] ist für die Zuständigkeitsbestimmung nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 3 VwGO als nächsthöheres Gericht zuständig, weil Gerichtsstände verschiedener Länder in Betracht kommen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24. Juli 1962 - 7 ER 420.62 - [X.] 310 § 52 VwGO Nr. 2 S. 2, vom 20. Januar 1978 - 7 ER 401.77 - [X.] 310 § 53 VwGO Nr. 11 S. 6 und vom 29. Mai 2017 - 3 AV 3.16 - juris Rn. 5).

3

a) Für den Antrag des Antragstellers zu 1 ist das [X.] als das Gericht der Hauptsache (§ 123 Abs. 2 Satz 1 VwGO) gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3 i.V.m. Nr. 3 Satz 2, 3 und Nr. 5 VwGO örtlich zuständig.

4

Gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO ist in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Ausländer nach dem Asylgesetz seinen Aufenthalt zu nehmen hat; ist eine örtliche Zuständigkeit danach nicht gegeben, bestimmt sie sich - auch für die vorliegend begehrte Mitwirkung des [X.] im sogenannten [X.] - nach § 52 Nr. 3 VwGO und - soweit auch danach keine örtliche Zuständigkeit bestimmt werden kann - nach der Auffangregelung in § 52 Nr. 5 VwGO.

5

Bei den von den Antragstellern begehrten Handlungen der Antragsgegnerin, die sich nach den Bestimmungen der Verordnung ([X.]) Nr. 604/2013 des [X.] und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. [X.]) - [X.] - richten, handelt es sich um "Streitigkeiten nach dem Asylgesetz". Der mit der Schaffung von § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO verfolgte Zweck einer asylrechtlichen Zuständigkeitsdezentralisierung zur Entlastung des [X.] und des [X.] in [X.] ([X.]. 8/1836 S. 4, 8/1935 S. 5 sowie 8/1936 S. 5 f.), ohne dabei unterschiedliche [X.] unterschiedlichen Gerichten zuzuweisen ([X.]. 9/875 S. 27), streitet für eine weite Auslegung dieser Bestimmung. Maßgeblich ist, ob das Asylanerkennungsverfahren im weiteren Sinne betroffen ist (BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 1984 - 9 A 1.84 - [X.] 310 § 50 VwGO Nr. 11 S. 2 f.). Die Abgabe von Erklärungen in einem Überstellungsverfahren ist genauso wie die Überstellung selbst zwar nicht im Asylgesetz, sondern in der [X.] geregelt. Das unionsrechtliche Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats und eine daran anknüpfende Überstellung stehen als denknotwendige Vorstufe aber in einem engen Zusammenhang mit dem im Asylgesetz geregelten Asylanerkennungsverfahren. Zudem enthält das Asylgesetz eine Verordnungsermächtigung zur (innerstaatlichen) Bestimmung der zuständigen Behörden in [X.] (§ 88 Abs. 1 [X.]). Nach der hiernach erlassenen [X.] ist das [X.] ([X.]) u.a. auch für Entscheidungen über Auf- und [X.] anderer Mitgliedstaaten zuständig (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 1 Nr. 2 AsylZBV).

6

Da der in [X.] aufhältige Antragsteller zu 1 (derzeit) seinen Aufenthalt nicht nach den Vorschriften des [X.] Asylgesetzes zu nehmen hat (§ 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO) und im [X.] auch nicht über einen Wohnsitz verfügt (§ 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO), kommt für die örtliche Zuständigkeit wegen der Rechtsfolgenverweisung in § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 2 VwGO hier nur die Auffangregelung in § 52 Nr. 5 VwGO in Betracht. Danach ist das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Antragsgegnerin ihren Sitz hat. Wird der Antrag gegen die [X.] gerichtet, ist auf den Sitz der Behörde abzustellen, die gehandelt hat oder handeln soll (BVerwG, Urteil vom 18. April 1985 - 3 C 34.84 - BVerwGE 71, 183 <188> und Beschluss vom 9. März 2000 - 1 AV 2.00 - juris Rn. 2). Dies ist hier das [X.], das seinen Sitz in [X.] und damit im örtlichen Zuständigkeitsbereich des [X.] hat.

7

b) Für den Eilantrag der in [X.] wohnhaften Antragsteller zu 2 und 3 ist hingegen das [X.] gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3 i.V.m. Nr. 3 Satz 2 VwGO örtlich zuständig, weil sie nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 [X.] ihren Aufenthalt nicht mehr nach dem Asylgesetz zu nehmen haben, sondern in [X.] und damit in dessen örtlichen Zuständigkeitsbereich wohnen. Der Umstand, dass ihr Asylverfahren abgeschlossen ist, nimmt der von ihnen begehrten Mitwirkung des [X.]s bei der Bestimmung des für das Asylbegehren des Antragstellers zu 1 zuständigen Mitgliedstaats nicht den Charakter einer asylrechtlichen Streitigkeit.

8

c) Die Annahme einer notwendigen Streitgenossenschaft der Antragsteller liegt jedenfalls nicht fern, sodass eine Zuständigkeitsbestimmung auch erforderlich ist (BVerwG, Beschluss vom 2. Juli 2019 - 1 AV 2.19 - juris Rn. 8).

9

Zwar ist im Regelfall einer subjektiven Klagehäufung kein Raum für eine Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 53 VwGO. Denn gemäß § 64 VwGO i.V.m. §§ 59 f. ZPO ist u.a. Voraussetzung für die Zulässigkeit der Verbindung mehrerer prozessualer Ansprüche in einem Verfahren, dass für die Verfahren dasselbe Gericht örtlich zuständig ist; ist dies nicht der Fall, ist dem durch Abtrennung und teilweiser Verweisung zu begegnen. [X.] gilt bei einer notwendigen Streitgenossenschaft (§ 64 VwGO i.V.m. § 62 Abs. 1 ZPO) auf [X.] oder Antragstellerseite. § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO lässt genügen, dass verschiedene Gerichte "in Betracht kommen", dass ein solcher Fall zumindest nicht fernliegt; es ist nicht Sinn eines Verfahrens zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit, schwierige Rechtsfragen, die im eigentlichen Verfahren vom zuständigen Gericht zu klären sind, abschließend zu entscheiden (BVerwG, Beschluss vom 2. Juli 2019 - 1 AV 2.19 - juris Rn. 9 m.w.N.).

Die Annahme einer (unechten) notwendigen Streitgenossenschaft gemäß § 64 VwGO i.V.m. § 62 Abs. 1 ZPO liegt hier jedenfalls nicht fern. Sie liegt vor, wenn mehrere Kläger bzw. Antragsteller derart miteinander verbunden sind, dass einerseits zwar ein gesondertes Verfahren Einzelner möglich ist, andererseits aber, wenn sie gemeinschaftlich um Rechtsschutz nachsuchen, die Sachentscheidung für oder gegen alle identisch sein muss. Die Anträge der Antragsteller sind auf das gleiche Ziel gerichtet und gründen auf einem identischen Lebenssachverhalt. Es liegt zudem nahe, dass eine Sachentscheidung einheitlich ergehen muss (BVerwG, Beschluss vom 2. Juli 2019 - 1 AV 2.19 - juris Rn. 10).

Für die Zuständigkeitsbestimmung nach § 53 VwGO ist ein Anspruch und die sich daraus ableitende Antragsbefugnis des in der [X.] aufhältigen Antragstellers zu 3 für den auf Familienzusammenführung mit dem Antragsteller zu 1 im [X.] gerichteten Rechtsschutzantrag jedenfalls nicht - offenkundig - ausgeschlossen. Nach der Rechtsprechung des [X.]s ist der Ehegatte eines Ausländers gegen einen Bescheid, der diesem die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis versagt, selbst dann klagebefugt, wenn dieser den Bescheid hat bestandskräftig werden lassen, soweit er einen Eingriff in seine von Art. 6 GG geschützte Sphäre geltend macht (BVerwG, Urteil vom 27. August 1996 - 1 C 8.94 - BVerwGE 102, 12; s.a. [X.], Beschluss vom 15. Februar 1999 - 11 S 1854/98 - [X.] 1999, 419 ; [X.], Urteil vom 16. Dezember 2003 - 8 B 26.02 - juris ; VG [X.], Beschluss vom 14. April 2016 - 6 L 186/16 - juris; a.A. - mit Blick auf § 81 Abs. 1 [X.] - für die Antrags- und Klagebefugnis einer Tochter für den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Vater - [X.], Urteil vom 17. Januar 2015 - 11 S 164/15 - [X.] 2015, 433). Mit Blick auf das Vorbringen der Antragstellerseite im vorliegenden Verfahren und die hierzu vorgelegten Dokumente ist auch nicht von vornherein auszuschließen, dass es sich bei dem Antragsteller zu 1 tatsächlich um den leiblichen Vater des Antragstellers zu 3 handelt.

Eine - offenkundige - Unzulässigkeit des [X.] des Antragstellers zu 3 mangels Antragsbefugnis folgt auch nicht aus Unionsrecht. Die Regelungen der [X.] schließen eine Antragsbefugnis sowohl des im zuständigen Mitgliedstaat ansässigen Familienangehörigen als auch desjenigen, der aus einem anderen Mitgliedstaat in den zuständigen Staat überstellt werden will, jedenfalls nicht ausdrücklich aus. Vielmehr kommt auch nach Unionsrecht - vorbehaltlich einer etwaigen abschließenden Klärung durch den Gerichtshof der [X.] - ein subjektives Recht nicht nur des Antragstellers zu 1, sondern auch des Antragstellers zu 3 auf die gerichtliche Durchsetzung der Einhaltung der Art. 9 ff. [X.] und der daran anknüpfenden Überstellungsregelungen (Art. 18, 29 ff. [X.]) in Betracht. Dies legen die Erwägungsgründe 13, 14 und 15 der [X.], Art. 47 der Charta der Grundrechte der [X.] ([X.]) sowie Art. 6 GG nahe. Der [X.] hat für Vorschriften der [X.] verschiedentlich dahin erkannt, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt, im gerichtlichen Verfahren auf eine Einhaltung dieser Regelungen berufen kann (vgl. nur [X.], Urteile vom 26. Juli 2017 - [X.]/16 [[X.]:[X.]:[X.]], [X.] - Rn. 62 und vom 25. Oktober 2017 - [X.]/16 [[X.]:[X.]:[X.]], [X.] - Rn. 44). Ob diese Rechtsprechung auf die vorliegende Fallkonstellation zu übertragen ist, ist nicht - offenkundig - ausgeschlossen und wird das nach der Zuständigkeitsbestimmung zuständige Gericht zu entscheiden haben.

2. Die - hier dem [X.] als nächsthöherem Gericht vorbehaltene - Entscheidung nach § 53 Abs. 1 VwGO hat sich an den Wertungen der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung sowie dem Gebot einer effektiven und sachgerechten Verfahrensdurchführung zu orientieren (BVerwG, Beschlüsse vom 13. März 2009 - 7 AV 1.09 - juris Rn. 3, vom 9. Februar 2012 - 8 AV 1.12 - [X.] 310 § 52 VwGO Nr. 40 und vom 18. April 2019 - 2 AV 1.19 - juris Rn. 20). Der [X.] hält es hiernach für zweckmäßig, das [X.] als zuständiges Gericht zu bestimmen.

Der Antragsteller zu 3 wohnt mit seiner Mutter (der Antragstellerin zu 2) in [X.] und damit im örtlichen Zuständigkeitsbereich des [X.] Stuttgart. Für die Bestimmung des [X.] Stuttgart als zuständiges Gericht spricht zudem, dass - sollte eine Familienzusammenführung erfolgen und der Antragsteller zu 1 seinen Aufenthalt bei dem Antragsteller zu 3 in [X.] begründen - das [X.] für alle weiteren asylrechtlichen Streitigkeiten gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO örtlich zuständig wäre. Damit wird zugleich dem Anliegen entsprochen, einzelne [X.] nicht unterschiedlichen Gerichten zuzuweisen. Demgegenüber hat das Interesse der Antragsgegnerin an einer Konzentration der Rechtsschutzverfahren im Zusammenhang mit Überstellungsbegehren bei dem für den [X.] zuständigen Verwaltungsgericht zurückzutreten.

Meta

1 AV 1/20

10.02.2020

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AV

vorgehend VG Stuttgart, 29. Januar 2020, Az: A 12 K 7781/19, Beschluss

Art 6 GG, § 52 VwGO, § 52 Nr 5 VwGO, § 53 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 10.02.2020, Az. 1 AV 1/20 (REWIS RS 2020, 3758)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 3758

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A 12 K 7781/19 (Verwaltungsgericht Stuttgart)


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