Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.06.2016, Az. III R 67/13

3. Senat | REWIS RS 2016, 9891

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Vorrangiger Kindergeldanspruch des im anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden Elternteils


Leitsatz

NV: Ein in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebender Elternteil kann gegenüber dem im Inland lebenden Elternteil nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorrangig kindergeldberechtigt sein, wenn er sein Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an Senatsurteil vom 10. März 2016 III R 62/12, BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616).

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 27. Mai 2013  16 K 4052/12 Kg aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) lebt in der [X.] ([X.]) und hat die [X.] Staatsangehörigkeit. Er ist der Vater einer im Jahre 2002 geborenen Tochter (T), die mit ihrer Mutter seit September 2008 in [X.] wohnte. Vorher lebte die nicht mit dem Kläger verheiratete Mutter in [X.] und bezog bis September 2008 [X.]s Kindergeld. In [X.] erhielt die Mutter kein Kindergeld, weil dieses dort erst ab dem zweiten Kind gewährt wird.

2

Der Kläger bezog zunächst ab Oktober 2008 Kindergeld. Mit Bescheid vom 4. Mai 2012 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung gegenüber dem Kläger ab Juni 2012 gemäß § 70 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) mit der Begründung auf, die Mutter sei nach § 64 EStG vorrangig kindergeldberechtigt.

3

Der gegen den Aufhebungsbescheid gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 10. Oktober 2012).

4

Das Finanzgericht ([X.]) gab der Klage statt und hob den Aufhebungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung auf. Es war der Ansicht, der Anspruch auf Kindergeld stehe auch ab Juni 2012 dem Kläger und nicht der in [X.] lebenden Kindsmutter zu. Aus den Art. 67, 68 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der [X.] Sicherheit --VO Nr. 883/2004 ([X.] ([X.] --[X.]-- 2004 Nr. L 166, S. 1) sowie aus Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der dazu ergangenen Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der [X.] Sicherheit --[X.] ([X.] ([X.] 2009 Nr. L 284, S. 1) ergebe sich nicht, dass der Anspruch auf Kindergeld vorrangig der Kindsmutter zustehe.

5

Gegen das Urteil richtet sich die Revision der Familienkasse, mit der sie eine unzutreffende Auslegung von § 64 EStG und damit eine Verletzung von Bundesrecht geltend macht. Die Kindsmutter sei vorrangig kindergeldberechtigt, denn es sei gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] zu unterstellen, dass sie mit dem Kind in [X.] lebt.

6

Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

8

Durch Beschluss vom 11. September 2014 hat der zuvor zuständige VI. Senat des [X.] das Verfahren bis zur Entscheidung des [X.] ([X.]) über das Vorabentscheidungsersuchen vom 8. Mai 2014 III R 17/13 ([X.], 522, [X.], 329) ausgesetzt. Der [X.] hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 [X.]/14 ([X.]:C:2015:720; [X.] 2015, 1190) in der Rechtssache [X.] über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

9

II. A. Die Familienkasse ... ist aufgrund eines Organisationsaktes im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der [X.] ... eingetreten (vgl. Senatsurteil vom 8. Mai 2014 III R 21/12, [X.], 389, [X.], 135, Rz 11).

B. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld (vorrangig) dem Kläger zusteht. Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht anspruchsberechtigt (§§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes --EStG--). Die Anwendung von Unionsrecht führt jedoch dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig der Kindsmutter zusteht.

1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Dies wurde --für den Senat bindend (vgl. § 118 Abs. 2 [X.]O)-- vom [X.] festgestellt und ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Für die Kindergeldberechtigung ist unerheblich, dass die [X.] im Streitzeitraum ihren Wohnsitz in [X.] hatte (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

2. Allerdings ist die Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt, weil sie ihre [X.] in ihren Haushalt aufgenommen hat und gemäß Art. 67 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 zu unterstellen ist, dass sie mit der [X.] in [X.] wohnt.

a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird das Kindergeld nur einem Berechtigten gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der [X.] 883/2004 und der [X.] 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2004 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert (dazu 4.). Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung (dazu 5. und 6.).

3. Der Anwendungsbereich der [X.] 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und [X.] ist der zuständige Mitgliedstaat.

a) Der Kläger ist [X.] Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der [X.] 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der [X.] 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der [X.] 883/2004 eröffnet ist.

b) Nach Art. 11 Abs. 1 der [X.] 883/2004 unterliegen die von dieser Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Im Streitfall ergibt sich die Anwendung der [X.] Rechtsvorschriften jedenfalls aus Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der [X.] 883/2004.

4. Aus Art. 67 Satz 1 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird.

Zur weiteren Begründung verweist der Senat auf seine Urteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13 ([X.], 134, [X.], 612, Rz 18 bis 19) und vom 10. März 2016 III R 62/12 ([X.], 236, [X.], 616, Rz 19 bis 23).

5. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.

Es bestehen weder Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte [X.] i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, noch dass sie mit dem Kläger einen gemeinsamen Haushalt im Streitzeitraum in [X.] hatte (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Denn ein gemeinsamer Haushalt kann sich nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009.

6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in [X.] gestellt hat. Auch insoweit verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf sein Urteil in [X.], 236, [X.], 616, Rz 32.

7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 [X.]O.

Meta

III R 67/13

15.06.2016

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Düsseldorf, 27. Mai 2013, Az: 16 K 4052/12 Kg, Gerichtsbescheid

§ 32 Abs 1 EStG 2009, § 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 67 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 EGV 987/2009, EStG VZ 2012

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.06.2016, Az. III R 67/13 (REWIS RS 2016, 9891)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 9891

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

XI R 7/15 (Bundesfinanzhof)

(Teilweise Parallelentscheidung zum BFH-Urteil vom 13.7.2016 XI R 33/12 - Kindergeld: Vorrangige Anspruchsberechtigung des im …


XI R 33/12 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld: Vorrangige Anspruchsberechtigung des im anderen EU-Mitgliedstaat lebenden Elternteils - fiktive Übertragung der Wohnsituation ins …


XI R 44/13 (Bundesfinanzhof)

(Teilweise Parallelentscheidung zum BFH-Urteil vom 13.7.2016 XI R 33/12 - Kindergeld: Vorrangige Anspruchsberechtigung des im …


V R 50/11 (Bundesfinanzhof)

(Kindergeld: Persönliche Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten - Begriff des "Haushalts" - Im Wesentlichen inhaltsgleich mit …


III R 27/13 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.