Bundesfinanzhof, Urteil vom 23.08.2016, Az. V R 50/11

5. Senat | REWIS RS 2016, 6447

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Gegenstand

(Kindergeld: Persönliche Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten - Begriff des "Haushalts" - Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 23.08.2016 V R 19/15)


Leitsatz

1. NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612) .

2. NV: Einen Haushalt besitzt jemand dort, wo er allein oder mit anderen eine Wohnung innehat, in der hauswirtschaftliches Leben herrscht, an dem er sich persönlich oder finanziell beteiligt (Bestätigung der Rechtsprechung) .

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.]vom 21. November 2011  5 K 2527/10 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist [X.]Staatsbürger. Er lebt in der [X.](Deutschland) und ist als Gewerbetreibender selbständig. Er ist Vater der Kinder V, geboren 1995, und F, geboren 1999, die im Streitzeitraum in [X.]im Haushalt der vom Kläger geschiedenen Kindsmutter lebten. Die Kindsmutter ist [X.]Staatsangehörige. Sie war in [X.]jedenfalls bis April 2010 erwerbstätig und bezog bis 2009 Familienleistungen nach [X.]Recht.

2

Die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsklägerin (die Familienkasse) lehnte einen Antrag des [X.]auf Kindergeld für seine beiden Kinder ab Mai 2010 ab, da die Kindsmutter vorrangig kindergeldberechtigt sei. Den dagegen eingelegten Einspruch wies sie im Juli 2010 zurück. Die daraufhin erhobene Klage hatte im Wesentlichen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) verpflichtete die Familienkasse mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 627 abgedruckten Urteil, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des [X.]zu bescheiden und wies die Klage im Übrigen ab. Dagegen wendet sich die Familienkasse mit der Revision.

3

Der Senat hat das Verfahren mit Beschluss vom 23. September 2014 bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der [X.](EuGH) in der Rechtssache [X.]C-378/14 ausgesetzt. Nach Veröffentlichung des [X.][X.]vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2015, 1501) hat der Senat das Verfahren wieder aufgenommen und den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich zu dem EuGH-Urteil zu äußern. Die Familienkasse ist der Auffassung, der [X.]habe ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.

4

Die Familienkasse beantragt,
das [X.]aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.

6

Der Kläger ist der Auffassung, auch unter Berücksichtigung des [X.]stehe der Kindsmutter kein Kindergeld zu. Aufgrund der Scheidung sei sie aus Sicht des [X.]keine Familienangehörige und könne daher auch nicht kindergeldberechtigt sein. Zudem seien die Kinder des [X.]nicht in einen Haushalt der Kindsmutter aufgenommen. Da die Kindsmutter über kein eigenes Erwerbseinkommen verfüge, könne sie keinen Haushalt innehaben.

Entscheidungsgründe

7

II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des [X.]und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das [X.]verletzt § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG). Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes.

8

1. Die [X.]der [X.]ist aufgrund eines Organisationsakts (Beschluss des Vorstands der [X.]Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der [X.]- Familienkasse eingetreten (s. dazu Senatsurteil vom 19. September 2013 V R 25/12, BFH/NV 2014, 322, unter II.1.).

9

2. Der Kläger ist zwar kindergeldberechtigt, weil er in [X.]lebt und Vater zweier Kinder ist, die ihren Wohnsitz in [X.]haben (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 EStG) und für die ein Anspruch auf Kindergeld besteht (§ 32 Abs. 3 EStG).

Der Kläger hat aber keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes; denn mit Blick auf das Unionsrecht ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG die Kindsmutter vorrangig anspruchsberechtigt.

a) Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.

b) Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des [X.]und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der [X.]Sicherheit (VO Nr. 883/2004) --wie hier der Kläger nach Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 883/2004-- Anspruch auf Familienleistungen (wie hier Kindergeld nach Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j VO Nr. 883/2004) nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier: [X.]gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO Nr. 883/2004) auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 VO Nr. 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des [X.]und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der [X.]Sicherheit die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten --insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt-- unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH-Urteil Trapkowski, EU:C:2015:720, [X.]2015, 1501).

Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im [X.]lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. dazu im Einzelnen Urteil des [X.]--BFH-- vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, [X.]2016, 612).

c) So verhält es sich im Streitfall: [X.]leben im Haushalt der ebenfalls kindergeldberechtigten Kindsmutter, so dass der Kläger gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG keinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes hat. Die dagegen vorgebrachten Einwendungen des [X.]greifen nicht durch.

aa) Die Kindsmutter ist ungeachtet der Ehescheidung Familienangehörige i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 VO Nr. 883/2004 und damit beteiligte Person i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009. Dazu gehören neben den Eltern und dem Kind alle Personen, die nach nationalem Recht anspruchsberechtigt sind (EuGH-Urteil Trapkowski, EU:C:2015:720, [X.]2015, 1501; BFH-Urteil in BFHE 253, 134, [X.]2016, 612, Rz 18), also hinsichtlich des Kindergelds auch der jeweils andere Elternteil, unabhängig davon, ob er mit dem im Inland lebenden Elternteil verheiratet ist oder war (BFH-Urteil vom 28. April 2016 III R 68/13, BFHE 254, 20, [X.]2016, 776).

bb) Entgegen der Auffassung des [X.]kommt es für die Haushaltsaufnahme nicht darauf an, ob die Kindsmutter ein eigenes Erwerbseinkommen erzielt. Einen Haushalt besitzt jemand dort, wo er allein oder mit anderen eine Wohnung innehat, in der hauswirtschaftliches Leben herrscht, an dem er sich persönlich oder finanziell beteiligt (BFH-Urteile vom 13. Dezember 1985 VI R 203/84, BFHE 145, 551, [X.]1986, 344, unter 1.a.; vom 22. Dezember 2011 III R 70/09, BFH/NV 2012, 1446, Rz 13; [X.]vom 28. Februar 2012 III B 54/10, BFH/NV 2012, 1151, Rz 13). Woher er die finanziellen Mittel bezieht, ist unerheblich.

3. [X.]beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Meta

V R 50/11

23.08.2016

Bundesfinanzhof 5. Senat

Urteil

vorgehend FG München, 21. November 2011, Az: 5 K 2527/10, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 67 S 1 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009, Art 1 Buchst i Nr 1 EGV 883/2004, EStG VZ 2010

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 23.08.2016, Az. V R 50/11 (REWIS RS 2016, 6447)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 6447

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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