Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.06.2016, Az. III R 73/11

3. Senat | REWIS RS 2016, 9910

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Gegenstand

Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten


Leitsatz

NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13).

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 27. Oktober 2011  5 K 2614/10 im [X.] ganz und im Übrigen insoweit aufgehoben, als es die [X.] und P betrifft.

Insoweit wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des finanzgerichtlichen Verfahrens haben der Kläger zu 61 % und die Beklagte zu 39 % zu tragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Streitig sind die [X.] und [X.] für den Zeitraum [X.]ai 2010 bis Juli 2010.

2

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist [X.] Staatsangehöriger und wohnt seit Juli 2008 in der [X.] ([X.]). Er ist in [X.] als selbständiger Gewerbetreibender tätig.

3

Der Kläger ist der Vater dreier Kinder, nämlich des im April 1993 geborenen [X.], des im November 1996 geborenen [X.] und des im [X.]ai 2006 geborenen [X.] Die Kinder haben jeweils unterschiedliche [X.]ütter, die alle [X.] Staatsangehörige sind und mit ihrem jeweiligen Kind in [X.]olen leben.

4

Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte mit [X.] vom 10. Juni 2010 die Festsetzung von Kindergeld für [X.] und [X.] jeweils ab [X.]ai 2010 ab. Ebenso hob die Familienkasse mit [X.] vom 10. Juni 2010 die Festsetzung des Kindergeldes für O ab [X.]ai 2010 auf. Zur Begründung führte sie aus, [X.], [X.] und O lebten im Haushalt der [X.] in [X.]olen; diese seien somit vorrangig kindergeldberechtigt.

5

Die Einsprüche blieben ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 8. Juli 2010).

6

[X.]it der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger inländisches Kindergeld für [X.] und [X.] für den Zeitraum [X.]ai 2010 bis Juli 2010 sowie [X.] für O ab Juli 2010.

7

Das Finanzgericht ([X.]) gab der Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (E[X.]) 2012, 249 veröffentlichten Urteil zum Teil statt. Es war der Ansicht, dem Kläger stehe für den Streitzeitraum von [X.]ai 2010 bis Juli 2010 inländisches Kindergeld für seinen in [X.]olen lebenden [X.] [X.] sowie ab Juli 2010 [X.] für seinen in [X.]olen lebenden [X.] O zu. Das [X.] verpflichtete die Familienkasse weiter, unter Beachtung seiner Rechtsauffassung den [X.] für [X.] für den Zeitraum [X.]ai 2010 bis Juli 2010 zu bescheiden. Im Übrigen wies es die Klage ab.

8

[X.]it ihrer Revision wendet sich die Familienkasse gegen das Urteil des [X.] im Hinblick auf die Kindergeldansprüche für [X.] und [X.] und rügt insoweit die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts.

9

Die Familienkasse beantragt sinngemäß,
das Urteil des [X.] [X.]ünchen vom 27. Oktober 2011  5 K 2614/10 hinsichtlich der Kindergeldansprüche für [X.] und [X.] aufzuheben und die Klage insoweit abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

[X.]it Beschluss vom 2. Dezember 2014 hat der [X.] ([X.]) das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen [X.]/14 angeordnet. Der [X.] hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 [X.]/14 ([X.]:C:2015:720, [X.] 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils insoweit, als es die [X.] betrifft; insoweit ist die Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld für [X.] und für [X.] dem Kläger zusteht. Denn der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§ 62 EStG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). Aber der Kindsmutter des [X.] und der Kindsmutter des [X.] stehen nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangige Kindergeldansprüche zu (dazu 2. bis 6.).

1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Dies wurde --für den [X.] bindend (vgl. § 118 Abs. 2 [X.]O)-- vom [X.] festgestellt. Unerheblich ist insoweit, dass [X.] und [X.] ihren Wohnsitz in [X.]olen haben (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

2. Allerdings sind die jeweiligen [X.] --entgegen der Rechtsauffassung des [X.]-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt, weil gemäß Art. 67 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des Europäischen [X.]arlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] --[X.]-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] 883/2004 ([X.]. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des Europäischen [X.]arlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der [X.]odalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] 987/2009 ([X.] zu unterstellen ist, dass diese mit [X.] und mit [X.] in [X.] wohnen.

a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der jeweiligen Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz bei den beiden [X.]n tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der [X.] (dazu 3.). Dadurch wird gemäß Art. 67 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 ein Inlandswohnsitz der jeweiligen Kindsmutter fingiert (dazu 4.). Zudem erfüllen die [X.] jeweils auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung (dazu 5. und 6.).

3. Der Anwendungsbereich der [X.] 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und [X.] der danach zuständige [X.]itgliedstaat.

a) Der Kläger ist [X.] Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der [X.] 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der [X.] 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der [X.] 883/2004 eröffnet ist.

b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der [X.] 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten [X.]ersonen den Rechtsvorschriften nur eines [X.]itgliedstaats. Da der Kläger im Streitzeitraum eine selbständige Erwerbstätigkeit in [X.] ausgeübt hat, unterlag er den [X.] Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der [X.] 883/2004).

4. Aus Art. 67 Satz 1 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der jeweiligen Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird hierzu auf die Entscheidungsgründe in dem [X.]surteil vom 28. April 2016 III R 68/13 Bezug genommen.

5. Die Kindsmutter des [X.] und die Kindsmutter des [X.] erfüllen jeweils neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.

Ein vorrangiger Anspruch des [X.] ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG. Denn nach den Feststellungen des [X.] unterhielt der Kläger weder mit der Kindsmutter des [X.] noch mit der Kindsmutter des [X.] einen gemeinsamen Haushalt; die [X.] unterhielten vielmehr jeweils eigene Haushalte. Ein gemeinsamer Haushalt kann sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 ergeben. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der Kindsmutter des [X.] und der Anspruch der Kindsmutter des [X.] nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur die jeweiligen [X.], nicht dagegen der Kläger [X.] und [X.] in ihren Haushalt aufgenommen haben.

6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die jeweilige Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in [X.] gestellt hat. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auch insoweit auf die Entscheidungsgründe in dem [X.]surteil vom 28. April 2016 III R 68/13 Bezug genommen.

7. [X.] beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 [X.]O.

Da die Revision der Familienkasse Erfolg hat, kann die Kostenentscheidung des [X.] keinen Bestand haben. Der [X.] hält es für angemessen, über die Kosten nach Verfahrensabschnitten zu entscheiden. Auch eine solche Entscheidung wahrt den Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung (z.B. BFH-Urteil vom 24. Juli 2013 XI R 24/12, [X.], 1920, Rz 28, m.w.[X.]). Danach haben nach dem Verhältnis des jeweiligen Obsiegens und Unterliegens die Kosten des Verfahrens vor dem [X.] der Kläger zu 61 % und die Familienkasse zu 39 % zu tragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Meta

III R 73/11

15.06.2016

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG München, 27. Oktober 2011, Az: 5 K 2614/10, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 1 Buchst z EGV 883/2004, Art 2 Abs 1 EGV 883/2004, Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004, Art 11 Abs 1 EGV 883/2004, Art 11 Abs 3 Buchst a EGV 883/2004, Art 67 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 EGV 987/2009, EStG VZ 2010

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.06.2016, Az. III R 73/11 (REWIS RS 2016, 9910)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 9910

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