Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 07.09.2010, Az. 10 C 11/09

10. Senat | REWIS RS 2010, 3598

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Gegenstand

Feststellung eines Abschiebungsverbots; Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG


Tatbestand

1

Der Kläger, ein [X.] Staatsangehöriger [X.] Volkszugehörigkeit, erstrebt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 [X.].

2

Der 1976 in der [X.] geborene Kläger reiste im Dezember 1990 nach [X.] ein und beantragte Asyl, weil ihm wegen Unterstützung der [X.] in der [X.] politische Verfolgung drohe. Aufgrund des rechtskräftigen Urteils des [X.] erkannte das [X.] (jetzt: [X.]) - [X.] - den Kläger im Juli 1995 als Asylberechtigten an und stellte das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 bezüglich der [X.] fest (Flüchtlingsschutz). In den Entscheidungsgründen des Urteils heißt es, der Kläger habe die [X.] wegen drohender politischer Verfolgung verlassen ([X.]). Er habe glaubhaft dargelegt, dass er in den Verdacht geraten sei, Sympathisant der [X.] zu sein. Als solchem habe ihm jedenfalls ein polizeiliches Ermittlungsverfahren und asylrechtlich erhebliche Haft und Folter gedroht. In der [X.] werde insbesondere im Polizeigewahrsam systematisch gefoltert.

3

Nachdem der Kläger im Dezember 2000 wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und zugleich die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden war, widerrief das [X.] mit Bescheid vom 11. Oktober 2005 die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung des [X.], weil er den Ausschlusstatbestand des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.] erfüllt habe, und stellte ferner fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.] nicht vorlägen. Eine konkrete Gefahr für den Kläger, bei einer Rückkehr in die [X.] der Folter oder anderen menschenrechtswidrigen Maßnahmen unterzogen zu werden, sei nicht ersichtlich. Gegen die Strafverfolgung in der [X.] bestünden inzwischen - nach der Strafrechtsreform - keine durchgreifenden rechtsstaatlichen Bedenken. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln seien keine Fälle mehr bekannt geworden, in denen abgelehnte Asylbewerber in Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden seien.

4

Das Verwaltungsgericht hat der Klage gegen den [X.] stattgegeben. Das Oberverwaltungsgericht hat dagegen den [X.] als rechtmäßig bestätigt und die Klage insgesamt, also auch hinsichtlich des Hilfsbegehrens auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.], abgewiesen. Zur Begründung hat es insoweit ausgeführt, die Feststellung von [X.] nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.] sei zwar - anders als die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft - nicht durch den Ausschlussgrund nach § 60 Abs. 8 Satz 1 [X.] ausgeschlossen. Die Voraussetzungen dieser Abschiebungsverbote lägen aber nicht vor. Insoweit komme es nicht darauf an, ob der Kläger vor seiner Ausreise bereits von [X.] betroffen gewesen sei, da allein der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit maßgeblich sei. Das Verwaltungsgericht habe seinerzeit bei der Zuerkennung des Asyls und der Flüchtlingsanerkennung angenommen, dem Kläger drohe im Rahmen des polizeilichen Ermittlungsverfahrens wegen Unterstützung der [X.] asylrechtlich erhebliche Haft und Folter. Hinsichtlich der asylrechtlich erheblichen Haft bestehe jedenfalls zum jetzigen [X.]punkt keine Gefährdung mehr, die auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.] führe. Für die Annahme, dass dem Kläger die Gefahr der Folter auch heute noch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe, bestünden keine Anhaltspunkte. Der Kläger sei bei seiner Ausreise erst 14 Jahre alt gewesen, seine Tätigkeit habe sich damals darauf beschränkt, als Freiheitskämpfer verkleidete [X.] Soldaten mit Lebensmitteln zu versorgen in der Annahme, es handele sich tatsächlich um Freiheitskämpfer. Mittlerweile lägen diese Geschehnisse fast 18 Jahre zurück. Zwar würden abgeschobene Personen von der [X.]n Grenzpolizei einer Routinekontrolle unterzogen, die eine Abgleichung des [X.] nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhalte. Nur dann, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergäben, dass der Einreisende als Mitglied oder Unterstützer der [X.] bzw. einer Nachfolgeorganisation nahestehe oder schon vor der Ausreise ein Separatismusverdacht gegen ihn bestanden habe, müsse er mit einer intensiveren Befragung durch die Sicherheitsbehörden, unter Umständen auch mit menschenrechtswidriger Behandlung rechnen. Nach Lage der Dinge bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass nach dem Kläger in der [X.] gefahndet werde. Ebenso wenig sei es beachtlich wahrscheinlich, dass er in der [X.] heute noch wegen Unterstützung der [X.] individuell registriert sei, so dass erst recht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für Folter oder eine menschenrechtswidrige Behandlung zu verneinen sei.

5

Auf die Beschwerde des [X.] gegen die Nichtzulassung der Revision hat der Senat die Revision hinsichtlich des Hilfsbegehrens auf Verpflichtung zur Feststellung von [X.] nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 [X.], die dem subsidiären Schutz nach der Richtlinie 2004/83/[X.] zuzuordnen sind, zugelassen. Im Übrigen, also hinsichtlich des Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung sowie hinsichtlich des [X.] von sonstigen nationalen ausländerrechtlichen [X.] nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 [X.], hat der Senat die Beschwerde zurückgewiesen.

6

Der Kläger trägt zur Begründung seiner Revision im Wesentlichen vor, das Berufungsgericht habe bei der Prüfung der unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbote - hier: des Verbots nach § 60 Abs. 2 [X.] wegen konkreter Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung - zu Unrecht den Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angewandt. Da er vorverfolgt ausgereist sei, komme ihm gemäß § 60 Abs. 11 [X.] auch im Rahmen dieser Abschiebungsverbote die Regelung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/[X.] - sog. [X.] - zugute. Danach [X.] ein einmal erlittener Eingriff, der die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 [X.] erfülle, eine weiterhin bestehende Gefährdung des Betroffenen. Diese Indizwirkung entfalle erst, wenn sich zwischenzeitlich die Bedingungen im Heimatland grundsätzlich geändert hätten. Eine solche Veränderung sei aber nach überwiegender Rechtsprechung in der [X.] bislang nicht erkennbar. In seinem, des [X.], Fall sei daher ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 [X.] festzustellen.

7

Die Beklagte ist - ähnlich wie der Kläger - der Auffassung, dass auch bei den unionsrechtlich begründeten [X.], von denen hier allein das nach § 60 Abs. 2 [X.] in Betracht komme, die Wiederholungsvermutung nach Art. 4 Abs. 4 der [X.] zu gelten habe, wenn der Ausländer vor seiner Ausreise bereits in gleicher Weise verfolgt oder von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht gewesen sei. Gleichwohl könne die Revision keinen Erfolg haben, weil eine [X.] des [X.], zumal in Gestalt der Folter, nicht festgestellt worden sei und nach den Ausführungen des Berufungsgerichts auch mehr als fernliege. Abgesehen davon sprächen angesichts der Tatsache, dass seit der allenfalls untergeordneten Unterstützung der [X.] durch den damals 14-jährigen Kläger inzwischen 18 Jahre vergangen seien, auch stichhaltige Gründe dagegen, dass er heute noch einer ähnlichen Gefahr wie zur [X.] seiner Ausreise ausgesetzt wäre.

8

Der Vertreter des [X.] meint, das Berufungsgericht habe bei der Gefahrenprognose im Rahmen von § 60 Abs. 2 [X.] zwar zutreffend den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde gelegt, es habe aber rechtsfehlerhaft die Nachweiserleichterung des § 60 Abs. 11 [X.] i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der [X.] unberücksichtigt gelassen. Seine nur unter dem Blickwinkel der beachtlichen Wahrscheinlichkeit getroffenen Feststellungen reichten nicht aus, um das Eingreifen der Nachweiserleichterung abschließend zu beurteilen.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision, ü[X.] die der Senat im Einverständnis mit den [X.]eteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist begründet. Das [X.]erufungsurteil [X.]uht auf der Verletzung von [X.]undesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), weil es das Vorliegen eines [X.]s nach § 60 Abs. 2 [X.] verneint hat, ohne zu prüfen, ob dem Kläger gemäß § 60 Abs. 11 [X.] die [X.]eweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/[X.] vom 29. April 2004 ü[X.] [X.] für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und ü[X.] den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ([X.] vom 30. Septem[X.] 2004 Nr. L 304 [X.], [X.]. [X.] vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) - sog. Qualifikationsrichtlinie - zugutekommt (1.). Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen im [X.]erufungsurteil selbst nicht abschließend entscheiden kann, ob bei dem Kläger ein solches [X.] hinsichtlich der [X.] vorliegt (2.), ist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das O[X.]verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch das Verpflichtungsbegehren des [X.] auf Feststellung eines der unionsrechtlich begründeten [X.]e nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 [X.] (entsprechend den Voraussetzungen des Art. 15 [X.]uchst. a bis c der Richtlinie 2004/83/[X.]). Hinsichtlich des Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung und hinsichtlich der ausländerrechtlichen [X.]e nach nationalem Recht (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 [X.]) ist das [X.]erufungsurteil nach Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde rechtskräftig geworden. Von den unionsrechtlich begründeten [X.] kommt vorliegend nur das [X.] wegen drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender [X.]ehandlung oder [X.]estrafung nach § 60 Abs. 2 [X.] (entsprechend Art. 15 [X.]uchst. b der Richtlinie 2004/83/[X.]) in [X.]etracht.

Für die rechtliche [X.]eurteilung des [X.], das auf Feststellung eines solchen [X.]s zielt, ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der [X.]erufungsinstanz am 29. Juli 2008 abzustellen. Deshalb sind die [X.]estimmungen des [X.]es in der Fassung der [X.]ekanntmachung vom 25. Februar 2008 ([X.]) anzuwenden, die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten und die Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der [X.] vom 19. August 2007 ([X.]) - Richtlinienumsetzungsgesetz - [X.]ücksichtigen.

Gemäß § 60 Abs. 2 [X.] darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender [X.]ehandlung oder [X.]estrafung unterworfen zu werden (zur Entstehungsgeschichte und Auslegung dieses durch das Richtlinienumsetzungsgesetz in Umsetzung von Art. 15 [X.]uchst. b der Richtlinie 2004/83/[X.] neu formulierten [X.]s vgl. Urteil des Senats vom 27. April 2010 - [X.]VerwG 10 C 5.09 - zur [X.] in der Entscheidungssammlung [X.]VerwGE vorgesehen, Rn. 15 ff.).

a) Das [X.]erufungsgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass die Feststellung eines [X.]s nach § 60 Abs. 2 [X.] nicht deshalb ausscheidet, weil der Kläger den Ausschlussgrund des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 [X.] erfüllt hat. Denn dieser Ausschlussgrund gilt nach dem eindeutigen Wortlaut nur für das flüchtlingsrechtliche [X.] nach § 60 Abs. 1 [X.], nicht hingegen für die sonstigen [X.]e nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.]. Auch die Tatsache, dass die Richtlinie 2004/83/[X.] für den subsidiären Schutz in Art. 17 Abs. 1 [X.]uchst. d einen vergleichbaren Ausschlussgrund vorsieht, führt nicht dazu, dass die den Voraussetzungen des Art. 15 der Richtlinie entsprechenden [X.]e des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 [X.] dem Kläger nicht zuerkannt werden könnten. Denn der [X.] Gesetzge[X.] hat die unionsrechtlichen Vorschriften zum subsidiären Schutz im [X.] insoweit "ü[X.]schießend" umgesetzt, als er die in Art. 15 der Richtlinie enthaltenen Varianten des ernsthaften Schadens in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 [X.] als absolute [X.]e ausgestaltet und die Ausschlussgründe nach Art. 17 der Richtlinie erst auf [X.] als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 [X.] normiert hat (vgl. das [X.]eits zitierte Urteil vom 27. April 2010 - [X.]VerwG 10 C 5.09 - a.a.[X.] Rn. 16). Die Verwirklichung von [X.] nach Art. 17 der Richtlinie steht deshalb der Feststellung eines [X.]s nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 [X.] nicht entgegen.

b) Im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen eines [X.]s nach § 60 Abs. 2 [X.] hat das [X.]erufungsgericht bei der Prognose, ob für den Kläger in der [X.] die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender [X.]ehandlung oder [X.]estrafung unterworfen zu werden, zu Recht den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde gelegt. Der für den Ausländer günstigere sog. herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit, der in der Rechtsprechung des [X.] und des [X.] zum Asylgrundrecht für Fälle der [X.] entwickelt und auf den Flüchtlingsschutz ü[X.]tragen worden ist, war und ist im Rahmen des subsidiären Abschiebungsschutzes nicht anzuwenden. Dieser herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab hat auch in die Richtlinie 2004/83/[X.] keinen Eingang gefunden, sondern ist durch die [X.] in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ersetzt worden, die sowohl für den Flüchtlingsschutz als auch für den subsidiären Schutz nach der Richtlinie gilt. Diese [X.] ist nach der vom [X.]n Gesetzge[X.] getroffenen Regelung in § 60 Abs. 11 [X.] auch im Rahmen der unionsrechtlich vorgezeichneten [X.]e nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 [X.] anzuwenden. Als Prognosemaßstab gilt daher für diese [X.]e - ebenso wie für die sonstigen rein nationalen [X.]e - allein der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (zum Vorstehenden insgesamt wiederum Urteil vom 27. April 2010 - [X.]VerwG 10 C 5.09 - a.a.[X.] Rn. 18 bis 23 m.w.N.). Die Rüge der Revision, das [X.]erufungsgericht habe im Rahmen von § 60 Abs. 2 [X.] den falschen Wahrscheinlichkeitsmaßstab angewandt, ist daher unbegründet.

c) Zu Recht bemängelt die Revision dagegen, dass das [X.]erufungsgericht bei der Prüfung eines [X.]s nach § 60 Abs. 2 [X.] die Regelung des § 60 Abs. 11 [X.] i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/[X.] nicht [X.]ücksichtigt hat. Gemäß § 60 Abs. 11 [X.] gilt für die Feststellung eines [X.]s nach § 60 Abs. 2 [X.] u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller [X.]eits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchem Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind. Geht es um die Anwendung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie bei der Feststellung eines unionsrechtlich vorgezeichneten subsidiären [X.]s, greift die Vermutung nach dieser Vorschrift ein, wenn der Antragsteller vor seiner Ausreise aus dem Heimatland einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 der Richtlinie erlitten hat oder unmittelbar von einem solchen Schaden bedroht war (Vorschädigung; vgl. Urteil vom 27. April 2010 - [X.]VerwG 10 C 4.09 - zur [X.] in der Entscheidungssammlung [X.]VerwGE vorgesehen, Rn. 27). Eine [X.] im flüchtlingsrechtlichen Sinne reicht für das Eingreifen der Vermutung im Rahmen des subsidiären Schutzes daher nur dann aus, wenn in ihr zugleich ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie liegt, etwa wenn die Verfolgungsmaßnahme in Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender [X.]ehandlung oder [X.]estrafung besteht. Außerdem setzt die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie, dass der Antragsteller "erneut von einem solchen Schaden bedroht wird", einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (Urteil vom 27. April 2010 - [X.]VerwG 10 C 4.09 - a.a.[X.] Rn. 31).

Ob die [X.]eweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zugunsten des [X.] eingreift, hat das [X.]erufungsgericht, das weder diese Vorschrift noch § 60 Abs. 11 [X.] in den Urteilsgründen erwähnt hat, ersichtlich nicht geprüft. Hierzu hätte a[X.] Anlass bestanden, da das [X.]erufungsgericht selbst ausführt ([X.]), dass das [X.] bei der Zuerkennung von Asyl und Flüchtlingsschutz an den Kläger im Urteil vom 19. März 1995 einen [X.] angenommen habe, weil der Kläger vor seiner Ausreise mit der Einleitung eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens zu rechnen gehabt habe und ihm in diesem Rahmen nicht nur asylerhebliche Haft, sondern auch Folter gedroht habe. Dies wird vom [X.]erufungsgericht bei seinen weiteren Ausführungen, weil aus seiner Sicht rechtlich unerheblich, auch nicht in Frage gestellt. Da in einer drohenden Folter zugleich auch ein ernsthafter Schaden im Sinne von Art. 15 [X.]uchst. b der Richtlinie läge, könnte die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zugunsten des [X.] eingreifen, es sei denn, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er erneut von einem solchen Schaden bedroht ist. Dies hat das [X.]erufungsgericht nicht geprüft und festgestellt. Indem es gleichwohl das Vorliegen eines [X.]s nach § 60 Abs. 2 [X.] verneint hat, hat es deshalb [X.]undesrecht verletzt.

2. Die [X.]erufungsentscheidung erweist sich entgegen der Ansicht der [X.]eklagten auch nicht im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Den Feststellungen des [X.]erufungsgerichts kann nicht entnommen werden, dass es - ungeachtet der fehlerhaften Rechtsgrundlage - jedenfalls der Sache nach Umstände festgestellt hat, die ein Eingreifen der [X.]eweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zugunsten des [X.] ausschließen. Dass es, wie die [X.]eklagte meint, schon an einer [X.] und damit auch an einer Vorschädigung im Sinne dieser Vorschrift fehlen würde, lasst sich aus den Feststellungen des [X.]erufungsgerichts, das eine dem Kläger im Zeitpunkt der Ausreise drohende Folter zumindest unterstellt, keinesfalls herleiten. Auch für die Annahme, dass stichhaltige Gründe vorliegen, die die Vermutung der Wiederholung des Schadenseintritts widerlegen könnten, fehlt es an ausreichenden tatrichterlichen Feststellungen. Das [X.]erufungsgericht hat seine gesamten Ausführungen zur Gefahrenprognose hierzu ersichtlich im Rahmen der Prüfung einer auch heute noch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Folter oder menschenrechtswidrigen [X.]ehandlung gemacht und diese unter Würdigung der Auskunftslage ü[X.] die [X.]ehandlung abgeschobener [X.] Staatsangehöriger und im Hinblick darauf verneint, dass der Kläger bei der Ausreise erst 14 Jahre alt gewesen sei, mittlerweile 18 Jahre vergangen seien und die Tätigkeit des [X.] sich darauf beschränkt habe, vermeintliche Freiheitskämpfer der [X.] - in Wahrheit verkleidete Soldaten - mit Lebensmitteln zu versorgen. Diese allein unter dem [X.]lickwinkel der beachtlichen Wahrscheinlichkeit getroffenen Feststellungen können vom Revisionsgericht nicht als Feststellung stichhaltiger, gegen eine Schadenswiederholung sprechende Gründe unter dem [X.]lickwinkel von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie uminterpretiert werden. Dies käme allenfalls in [X.]etracht, wenn das [X.]erufungsgericht die Gefahrenprognose nach dem herabgestuften Maßstab der hinreichenden Sicherheit vorgenommen und die Gefahr einer Folter oder sonstigen menschenrechtswidrigen [X.]ehandlung oder [X.]estrafung nach diesem Maßstab verneint hätte, wobei allerdings auch dann zu beachten wäre, dass im Einzelfall eine [X.]eurteilung nach dem herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu einem anderen Ergebnis führen kann als die Anwendung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie (vgl. Urteil vom 27. April 2010 - [X.]VerwG 10 C 5.09 - a.a.[X.] Rn. 23 und [X.]eschluss vom 22. Juli 2010 - [X.]VerwG 10 [X.] 20.10 - juris Rn. 5).

Ebenso wenig reichen die bisherigen Feststellungen im [X.]erufungsurteil aus, um das Vorliegen eines [X.]s zugunsten des [X.] zu bejahen. Es bedarf deshalb in jedem Fall einer neuen tatrichterlichen Prüfung und Würdigung im Hinblick auf Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie, so dass das Verfahren an das [X.]erufungsgericht zurückzuverweisen ist.

3. Das O[X.]verwaltungsgericht wird in dem weiteren [X.]erufungsverfahren unter [X.]erücksichtigung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie erneut prüfen müssen, ob für den Kläger die konkrete Gefahr besteht, dass er in der [X.] der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender [X.]ehandlung oder [X.]estrafung unterworfen wird. Der Senat weist vorsorglich darauf hin, dass das O[X.]verwaltungsgericht bei der Frage, ob der Kläger vor seiner Ausreise im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie unmittelbar von einem ernsthaften Schaden bedroht war - die Alternative eines [X.]eits erlittenen ernsthaften Schadens dürfte nach dem eigenen Vorbringen des [X.] nicht in [X.]etracht kommen -, nicht an die Feststellungen des [X.], das seinerzeit den [X.] zugesprochen hat, gebunden ist, sondern es sich auch insoweit eine eigene tatrichterliche Ü[X.]zeugung gemäß § 108 Abs. 1 VwGO bilden muss. Dies schließt es allerdings nicht aus, dass das [X.]erufungsgericht sich die dortigen Feststellungen nach entsprechender Prüfung zu eigen macht. [X.]ei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie widerlegt ist, kann das [X.]erufungsgericht im Übrigen auch der Tatsache [X.]edeutung beimessen, dass die [X.] als Abschiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. Novem[X.] 1950 ([X.]G[X.]l II 1952 S. 685) - [X.] - ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grundsätze zu achten (vgl. Urteil vom 27. April 2010 - [X.]VerwG 10 C 5.09 - a.a.[X.] Leitsatz 2 und Rn. 29).

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Wegen des Kostenanteils, der auf den [X.]eits abschließend rechtskräftig entschiedenen Teil des Verfahrens entfällt, wird auf die Kostenentscheidung und deren [X.]egründung im [X.]eschluss des Senats ü[X.] die Nichtzulassungsbeschwerde vom 29. Juni 2009 - [X.]VerwG 10 [X.] 60.08 - verwiesen. Gerichtskosten werden gemäß § [X.] AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 [X.].

Meta

10 C 11/09

07.09.2010

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 29. Juli 2008, Az: 15 A 620/07.A, Urteil

§ 60 Abs 2 AufenthG 2004, § 60 Abs 11 AufenthG 2004, § 60 Abs 3 AufenthG 2004, § 60 Abs 7 S 2 AufenthG 2004, Art 4 Abs 4 EGRL 83/2004, Art 15 EGRL 83/2004

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 07.09.2010, Az. 10 C 11/09 (REWIS RS 2010, 3598)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 3598

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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