Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11.03.2014, Az. 1 StR 711/13

1. Strafsenat | REWIS RS 2014, 7232

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Gegenstand

Revisionsrüge der Abwesenheit des Angeklagten bei der Verhandlung über die Entlassung der in seiner Abwesenheit vernommenen Opferzeugin: Erfordernis der Darstellung des wesentlichen Inhalts der Zeugenaussage


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 13. Mai 2013 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

2

Der Angeklagte macht zu Recht geltend, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 [X.] i.V.m. § 247 [X.] gegeben ist. Er war von der Teilnahme an der Verhandlung über die Entlassung der Nebenklägerin (auch) nach deren zweiter Vernehmung ausgeschlossen.

3

1. [X.] liegt folgendes Geschehen zugrunde:

4

a) Dem Angeklagten liegt zur Last, am 6. Dezember 2011 als Kleinbusfahrer während der Fahrt der geistig behinderten Nebenklägerin und Zeugin M. unter Zwang seinen Penis in den Mund eingeführt, ihr einen Finger in die Scheide gesteckt und sie verbal beleidigt zu haben. Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung zur Sache im Wesentlichen nicht geäußert, sondern lediglich geltend gemacht, dass er zu einer Erektion gesundheitlich nicht mehr in der Lage sei. Das [X.] hält den Angeklagten durch die Aussage der Nebenklägerin, deren Glaubhaftigkeit es anhand der Aussagen mehrerer Zeugen, denen sich die Nebenklägerin anvertraut hatte, sowie anhand einer sachverständigen Begutachtung für überführt.

5

b) In der Hauptverhandlung wurde die Nebenklägerin zweimal als Zeugin vernommen. Während der Vernehmungen wurde der Angeklagte jeweils gemäß § 247 [X.] aus dem Sitzungssaal entfernt. Auch die Verhandlung über die Entlassung der Nebenklägerin als Zeugin erfolgte jeweils in Abwesenheit des Angeklagten.

6

Nach der ersten Vernehmung der Nebenklägerin wurde sie im allseitigen Einverständnis entlassen. Erst dann wurde der Angeklagte wieder in den Sitzungssaal gelassen und vom [X.] über den Inhalt der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin informiert. Nach der Vernehmung der Mutter der Nebenklägerin wurde die Nebenklägerin erneut vernommen. Auch bei dieser zweiten Vernehmung und der anschließenden Verhandlung über die Entlassung der Zeugin war der Angeklagte nach § 247 [X.] ausgeschlossen.

7

2. [X.] des absoluten Revisionsgrundes gemäß § 338 Nr. 5 [X.] i.V.m. § 247 [X.] wegen Abwesenheit des Angeklagten bei der Verhandlung über die Entlassung der Nebenklägerin nach ihrer zweiten Vernehmung ist zulässig erhoben.

8

a) Zwar muss nach § 344 Abs. 2 Satz 2 [X.] der [X.] die Tatsachen, die den behaupteten Verfahrensmangel begründen, so vollständig und genau mitteilen, dass das Revisionsgericht aufgrund der Rechtfertigungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen werden (vgl. [X.], [X.], 56. Aufl., § 344 Rn. 24 mwN). Für einen erschöpfenden Vortrag sind dabei auch diejenigen Verfahrenstatsachen vorzutragen, die einer erhobenen Rüge entgegenstehen könnten (vgl. [X.], Beschluss vom 23. September 2008 - 1 [X.]/08).

9

b) Solche Umstände ergaben sich hier aber nicht aus der Besonderheit, dass die Nebenklägerin am selben Tag bereits schon einmal als Zeugin vernommen worden war und es sich somit lediglich um eine ergänzende Vernehmung handelte. Der Sachvortrag des Beschwerdeführers ist ausreichend. Er musste hier keine Ausführungen zum Inhalt der zweiten Vernehmung der Nebenklägerin machen, um darzulegen, dass es sich bei der Verhandlung über die Entlassung der Nebenklägerin nach ihrer zweiten Vernehmung um einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung gehandelt hat.

aa) Die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen ist grundsätzlich ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung. Die währenddessen fortdauernde Abwesenheit des nach § 247 Satz 1 oder Satz 2 [X.] entfernten Angeklagten ist deshalb regelmäßig geeignet, den absoluten Revisionsgrund zu begründen ([X.], GrS, Beschluss vom 21. April 2010 - [X.], [X.]St 55, 87, 92). Ob ein [X.] als wesentlich einzuordnen ist, bestimmt sich nach dem Zweck der jeweils betroffenen Vorschriften sowie danach, in welchem Umfang ihre sachliche Bedeutung betroffen sein kann. Nach dem Zweck des § 247 [X.] ist aber die Entlassungsverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten grundsätzlich als wesentlich anzusehen. Die das Anwesenheitsrecht und die Anwesenheitspflicht des Angeklagten betreffenden Vorschriften bezwecken auch, dem Angeklagten eine allseitige und uneingeschränkte Verteidigung zu ermöglichen, insbesondere durch Vornahme von Verfahrenshandlungen aufgrund des von ihm selbst wahrgenommenen Verlaufs der Hauptverhandlung. Das wird dem Angeklagten durch seinen Ausschluss von der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen erschwert, weil er in unmittelbarem [X.] an die Zeugenvernehmung keine Fragen oder Anträge stellen kann, die den Ausgang des Verfahrens beeinflussen können ([X.]St, aaO). Einer besonderen Darlegung, dass es sich bei der Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen um einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung handelt, bedarf es daher nicht.

bb) [X.], in dem die Verhandlung über die Entlassung einer Zeugin ausnahmsweise nicht als wesentlicher Teil der Hauptverhandlung angesehen werden könnte, liegt hier auch nicht darin, dass es sich bereits um die zweite Vernehmung der Zeugin handelte.

Auch einer ergänzenden Vernehmung einer [X.] kommt grundsätzlich erhebliche Bedeutung für das Verfahren zu, sodass der Angeklagte auch nach einer solchen stets die Möglichkeit haben muss, ergänzende Fragen oder Anträge zu stellen, die das Verfahren beeinflussen können ([X.], GrS, Beschluss vom 21. April 2010 - [X.], [X.]St 55, 87, 92). Beim Vorwurf von Sexualstraftaten liegt es sogar nahe, dass Umstände zum Tatgeschehen selbst dann erörtert werden, wenn es nur deshalb zu einer erneuten Vernehmung der [X.] kommt, weil eine für sich genommen „neutrale" Frage zum [X.] noch geklärt werden muss. Auch in einem solchen Fall ist kein Verfahrensbeteiligter rechtlich gehindert, bisher noch nicht gestellte, aber zur Sache gehörende - also den gesamten [X.] betreffende - Fragen zu stellen (vgl. zu § 171b [X.]: [X.], Beschluss vom 19. Dezember 2006 - 1 [X.] Rn. 9, in [X.]St 51, 180 nicht abgedruckt). Bei der Vernehmung der [X.] als zentraler Belastungszeugin bedarf es daher auch im Falle einer wiederholten Vernehmung für die Zulässigkeit einer Verfahrensrüge gemäß § 338 Nr. 5 [X.] i.V.m. § 247 [X.] grundsätzlich nicht der Darlegung des wesentlichen Inhalts der Aussage der Zeugin.

Hier kam der Möglichkeit, an die [X.] nach deren zweiter Vernehmung ergänzende Fragen stellen zu können, sogar gesteigerte Bedeutung zu. Denn das [X.] hatte den Angeklagten nach seinem - von der Staatsanwaltschaft in ihrer Gegenerklärung als richtig bestätigten - Vortrag bereits gemäß § 247 [X.] von der Teilnahme an der Verhandlung über die Entlassung der Nebenklägerin nach ihrer ersten Zeugenvernehmung ausgeschlossen. Damit lag die besondere Verfahrensbedeutung der zweiten Zeugenvernehmung darin, dass mit dieser Vernehmung der Verfahrensfehler, dem Angeklagten bei der Verhandlung über die Entlassung nach der ersten Zeugenvernehmung der Nebenklägerin nicht die Anwesenheit zu gestatten, geheilt wurde (vgl. [X.], GrS, Beschluss vom 21. April 2010 - [X.], [X.]St 55, 87, 94). Der Sachvortrag des Beschwerdeführers war daher ausreichend, auch wenn er keine Ausführungen zum Inhalt der zweiten Vernehmung gemacht hat.

3. Der geltend gemachte absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 [X.] liegt vor.

a) Der Beschwerdeführer war entgegen § 247 [X.] von der Verhandlung über die Entlassung der Nebenklägerin als Zeugin nach deren zweiter Vernehmung ausgeschlossen. Dies begründet den Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 [X.], denn die Verhandlung über die Entlassung der [X.] war - auch wenn es sich um eine ergänzende Vernehmung handelte - ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung (s.o.).

b) [X.], in dem ein Beruhen des Urteils auf der bloßen Abwesenheit des Angeklagten während der Entscheidung über die Entlassung eines Zeugen denkgesetzlich ausgeschlossen ist (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 11. Mai 2006 - 4 [X.]; [X.], 713; [X.], Urteil vom 9. Februar 2011 - 5 StR 387/10, [X.], 534), liegt nicht vor.

c) Allerdings kommt grundsätzlich die Heilung des [X.], etwa durch erneute Vernehmung eines Zeugen in Betracht ([X.], GrS, Beschluss vom 21. April 2010 - [X.], [X.]St 55, 87, 94). Eine solche Heilung hat hier aber nur durch die zweite Vernehmung im Hinblick auf den Ausschluss des Angeklagten von der Verhandlung über die Entlassung der Nebenklägerin nach deren erster Zeugenvernehmung stattgefunden. Demgegenüber ist, weil dem Angeklagten die Anwesenheit bei der Verhandlung über die Entlassung der Nebenklägerin (auch) nach ihrer zweiten Zeugenvernehmung verwehrt wurde, der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 [X.] gegeben. Da der Fehler unbemerkt blieb und auch keine weitere Vernehmung der Nebenklägerin mehr stattgefunden hat, ist insoweit keine Heilung eingetreten (vgl. [X.]St, aaO, [X.]). Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

Ri[X.] Dr. Wahl befindet
sich im Urlaub und ist deshalb
an der Unterschriftsleistung
verhindert.

Raum     

Raum

Rothfuß

Jäger     

     Cirener     

Meta

1 StR 711/13

11.03.2014

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG München I, 13. Mai 2013, Az: 3 KLs 451 Js 122913/12

§ 247 StPO, § 338 Nr 5 StPO, § 344 Abs 2 S 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11.03.2014, Az. 1 StR 711/13 (REWIS RS 2014, 7232)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 7232

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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