Bundesgerichtshof, Beschluss vom 02.02.2021, Az. 5 StR 400/20

5. Strafsenat | REWIS RS 2021, 8997

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Gegenstand

Gesetzlicher Richter im Strafprozess: Prognoseentscheidung des Vorsitzenden zur Auswechslung eines Schöffen auf Grund langwieriger Erkrankung; Aussagekraft eines Arztattestes ohne Diagnose


Tenor

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 4. Februar 2020 werden mit der Maßgabe verworfen, dass der Angeklagte [X.]des versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge, besonders schwerem Raub, gefährlicher Körperverletzung, Besitz und Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von [X.] und Besitz von Munition und der Angeklagte [X.]         des besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig ist.

Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten [X.]          wegen „versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge in Tateinheit mit gemeinschaftlichem Raub in besonders schwerem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Besitz und Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von [X.] in Tateinheit mit Besitz von Munition“ zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt, gegen den Angeklagten [X.]hat es wegen „gemeinschaftlichen Raubes in besonders schwerem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung“ auf eine Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten erkannt. Daneben hat es Einziehungsentscheidungen getroffen.

2

Die jeweils auf Verfahrensbeanstandungen sowie die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten haben keinen Erfolg; sie führen lediglich zu der aus der [X.] ersichtlichen Klarstellung des Schuldspruchs.

3

In Ergänzung der Antragsschrift des [X.] bedarf nur Folgendes der näheren Erörterung:

4

1. Die von beiden Beschwerdeführern erhobene Rüge der Verletzung von § 338 Nr. 1 [X.] ist - unbeschadet der Frage, ob der Angeklagte [X.]        diese zulässig erheben konnte, nachdem er den Eintritt des [X.] in der Hauptverhandlung nicht beanstandet hatte (vgl. dazu [X.], Beschlüsse vom 9. April 2013 - 5 [X.], [X.]R [X.] § 192 Abs 2 Verhinderung 2; vom 10. Dezember 2008 - 1 [X.], [X.]St 53, 99, 100) - jedenfalls unbegründet.

5

a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

6

Die [X.] hatte in der ursprünglichen Besetzungsmitteilung einen [X.] benannt. Nachdem sie die Hauptverhandlung mit den Hauptschöffen begonnen und an zwölf Hauptverhandlungstagen über den [X.]raum von ca. vier Monaten geführt hatte, erschien am 13. Hauptverhandlungstag eine [X.] krankheitsbedingt nicht. Der Vorsitzende verlas zwei Vermerke und ein Attest, aus denen sich ergab, dass die [X.] am Vortag angerufen und mitgeteilt hatte, dass sie wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung und ihr aus ärztlicher Sicht eine weitere Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht möglich sei; sie werde auf unbestimmte [X.] krankgeschrieben. Das angeforderte Attest bescheinigte zunächst die Verhandlungsunfähigkeit für vier Wochen. Auf telefonische Nachfrage wurde dem Vorsitzenden ausweislich des zweiten Vermerks von einem ärztlichen Mitarbeiter der Praxis mitgeteilt, dass eine darüber hinausgehende Krankschreibung zu erwarten sei, dies aber besser durch die konkret behandelnde Ärztin eingeschätzt werden solle. Es wurde ein ergänzendes Attest zugesagt, das während einer Sitzungsunterbrechung einging und nach Fortsetzung der Hauptverhandlung verlesen wurde. Dieses stammte von der behandelnden praktischen Ärztin und attestierte der [X.], dass sie wegen einer psychischen Erkrankung voraussichtlich auf unabsehbare [X.] verhandlungsunfähig sei. Nachdem der Verteidiger eines freigesprochenen Mitangeklagten die Einholung eines amtsärztlichen, hilfsweise eines psychiatrischen Gutachtens beantragt und ausgeführt hatte, dass gegebenenfalls zugewartet werden müsse, ob die [X.] innerhalb der Hemmungsfrist des § 229 Abs. 3 [X.] wieder gesunden würde, stellte der Vorsitzende durch in der Hauptverhandlung verlesene und umfänglich begründete Verfügung fest, dass die [X.] verhindert sei, es weiterer Aufklärung nicht bedürfe und der [X.] in das Verfahren eintrete. Ein Verteidiger des freigesprochenen Mitangeklagten und der Verteidiger des Angeklagten [X.]          widersprachen der Verfügung des Vorsitzenden und der Verfahrensweise. Nach Beschlüssen der [X.] wurde die Verhandlung in der Besetzung mit dem eingetretenen [X.] fortgesetzt.

7

b) Die Vorgehensweise des Vorsitzenden lässt Rechtsfehler nicht erkennen, insbesondere war das Gericht durch den Eintritt des [X.] nicht vorschriftswidrig besetzt (§ 338 Nr. 1 [X.]); die Angeklagten wurden folglich [X.] entzogen (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Hierzu gilt:

8

aa) Nach § 192 Abs. 2 und 3 [X.] tritt ein zu der Hauptverhandlung zugezogener Ergänzungsschöffe in das Quorum ein, wenn ein zur Entscheidung berufener Schöffe an der weiteren Mitwirkung verhindert ist. Die Feststellung, ob ein Verhinderungsfall vorliegt, obliegt dem Vorsitzenden (st. Rspr.; [X.], Beschluss vom 8. März 2016 - 3 [X.], [X.]St 61, 160, 161 mwN). Der Vorsitzende hat bei der Entscheidung einen Ermessenspielraum. Dieser umfasst auch den [X.]punkt seiner Entscheidung ([X.], Beschlüsse vom 8. März 2016 - 3 [X.], [X.]St 61, 160, 162; vom 5. September 2018 - 2 [X.], [X.], 167, 168). Bei der Wahl des Entscheidungszeitpunktes hat der Vorsitzende die widerstreitenden Interessen zwischen dem Prinzip des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) einerseits und den auf Beschleunigung und Konzentration gerichteten sonstigen Prozessmaximen andererseits zu berücksichtigen. Insbesondere die Beschleunigungs- und Konzentrationsmaxime können es sachgerecht erscheinen lassen, die Verhinderung möglichst bald festzustellen, um die Hauptverhandlung ohne [X.]verzug fortzusetzen ([X.], Beschluss vom 5. September 2018, 2 [X.], [X.], 167, 168 mwN).

9

bb) Gemessen an diesen Grundsätzen lässt die sorgfältig und unter Heranziehung der einschlägigen Rechtsprechung des [X.] begründete Entscheidung des Vorsitzenden Willkür nicht erkennen und ist damit nicht zu beanstanden (vgl. zum Prüfungsmaßstab, [X.] aaO).

(1) Die Voraussetzungen für die Feststellung einer Verhinderung der [X.] lagen vor. Infolge ihrer Erkrankung waren unabwendbare Umstände im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 [X.] eingetreten, die ihrer weiteren Dienstleistung auf unabsehbare [X.] entgegenstanden. Dass der Vorsitzende das zweite von der behandelnden Ärztin stammende Attest genügen ließ und keine psychiatrische oder gar amtsärztliche Untersuchung der [X.] in Auftrag gab, begründet kein die Entscheidung fehlerhaft oder gar willkürlich machendes Aufklärungsdefizit; vielmehr hatte sich der Vorsitzende für seine Entscheidung zuvor durch mehrere Nachfragen in der Praxis der behandelnden Ärztin eine ausreichende Tatsachengrundlage verschafft und diese im [X.] dokumentiert. Die dagegen von der Revision des Angeklagten [X.]        vorgebrachten Einwände verfangen nicht, insbesondere ist nicht ersichtlich, warum der Vorsitzende ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der attestierten (voraussichtlichen) Verhandlungsfähigkeit hätte haben müssen. Insoweit ist dem zweiten Attest trotz einer sprachlichen Ungenauigkeit mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass die [X.] psychisch erkrankt war. Letztlich kann der Grund der Erkrankung aber auch dahinstehen, weil ein ärztliches Attest auch ohne Angabe einer Diagnose als Nachweis einer Erkrankung genügt, solange nicht konkrete Umstände - zu denen vorliegend von der Revision nichts vorgetragen und auch sonst nichts ersichtlich ist - darauf hindeuten, der Schöffe wolle sich aus unerlaubten Gründen der Dienstleistung entziehen ([X.], 8. Aufl., § 54 [X.] Rn. 3 mwN; [X.]/[X.], [X.], 10. Aufl., § 54 Rn. 2; MüKo[X.]/[X.], § 54 [X.] Rn. 3; BeckOK [X.]/Goers, [X.]., § 54 [X.] Rn. 12; vgl. auch [X.], [X.], 215; [X.]/[X.], [X.], 26. Aufl., § 54 [X.] Rn. 4).

(2) Angesichts der prognostizierten Dauerhaftigkeit der Verhinderung bestehen auch keine Bedenken gegen den [X.]punkt der Entscheidung.

Die Entscheidung des 3. Strafsenats, der angenommen hat, die oben unter a) aufgeführten Grundsätze bedürften im Anwendungsbereich des § 229 Abs. 3 [X.] einer Einschränkung dahingehend, dass für eine Ermessensentscheidung des Vorsitzenden regelmäßig kein Raum sei, solange die Fristen des § 229 Abs. 1 und 2 [X.] gehemmt sind, weshalb der Eintritt des [X.] erst in Betracht komme, wenn [X.] oder Schöffe nach Ablauf der maximalen [X.] zu dem ersten notwendigen Fortsetzungstermin weiterhin nicht erscheinen könne ([X.], Beschluss vom 8. März 2016 - 3 [X.], [X.]St 61, 160, 163 mit ablehnender Anmerkung Schäfer, [X.] 2017, 41), steht nicht entgegen. Denn die genannte Einschränkung gilt nicht stets, sondern etwa dann nicht, wenn schon von vornherein feststeht, dass eine Fortsetzung der Hauptverhandlung mit [X.] oder Schöffen auch nach Ablauf der maximalen [X.] nicht möglich sein wird, oder wenn andere vorrangige Prozessmaximen beeinträchtigt würden.

So verhält es sich hier. Der Vorsitzende, der - wie dargelegt - über eine ausreichende Tatsachengrundlage verfügte, durfte angesichts der durch ein ärztliches Attest belegten Erkrankung von nicht absehbarer Dauer prognostizieren, dass die [X.] auch nach Ablauf der [X.] nach § 229 Abs. 3 Satz 1 [X.] nicht wieder an der Hauptverhandlung würde teilnehmen können. Soweit in der Entscheidung des 3. Strafsenats ausgeführt ist, es müsse „feststehen“, dass eine Fortsetzung der Hauptverhandlung mit [X.] oder Schöffen nicht möglich sei, ergibt sich daraus nichts anderes: Denn angesichts der erheblichen Dauer der [X.] von sechs Wochen und zehn Tagen und den damit verbundenen Unwägbarkeiten kann dadurch der zwangsläufige Prognosecharakter einer die Hemmungsfristen überdauernden und damit in die Zukunft gerichteten Feststellung der Verhinderung nicht in Frage gestellt werden.

(3) Die von dem Vorsitzenden vorgenommene Abwägung der verschiedenen Interessen, namentlich des Rechts der Angeklagten auf [X.] und des „Gebot(s) der zügigen und für alle Verfahrensbeteiligten ressourcenschonenden Verhandlungsführung“ - womit die Beschleunigungs- und die Konzentrationsmaxime angesprochen waren -, stellt sich insbesondere angesichts des Umstands, dass sich die Angeklagten bereits seit zehn Monaten in Untersuchungshaft befanden und die Hauptverhandlung durch ein Zuwarten auf eine - ermessensfehlerfrei nur als theoretische Möglichkeit angesehene - Gesundung der [X.] um mehrere Monate verzögert worden wäre, als nachvollziehbar, jedenfalls aber nicht als grob fehlerhaft und damit nicht als willkürlich dar. Dies gilt zumal, da auch der in das Quorum eintretende Schöffe vorab nach hinreichend genauen abstrakt-generellen Regelungen bestimmt worden war und damit in gleicher Weise die Verfahrensgarantie auf Entscheidung durch [X.] gewährleistete.

2. Zu der von dem Angeklagten [X.]         erhobenen Rüge der Verletzung von § 244 Abs. 3 und 4 [X.] gilt Folgendes:

Die [X.] hat den Antrag auf Einholung eines (weiteren) Gutachtens durch einen konkret bezeichneten Sachverständigen zu der Frage, ob in dem Auto Schmauchspuren hätten gefunden werden müssen, wenn der Geschädigte - wie von ihm angegeben - auf dem Beifahrersitz gesessen hätte, zu Recht auch deshalb zurückgewiesen, weil sich aus dem Fehlen von Schmauchspuren keine sicheren Schlüsse auf die Positionen der handelnden Personen ergaben. Das [X.] hat diesen Umstand zwar unter dem Gesichtspunkt der nicht bestehenden Aufklärungspflicht abgehandelt und hierzu weiter ausgeführt, insoweit sei die „Beweisaufnahme auch ungeeignet“. Dieser Begründung lässt sich der Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Gründen aber hinreichend klar entnehmen, so dass der Ablehnungsbeschluss seiner Informationspflicht gegenüber dem Angeklagten genügte und dieser in seiner Verfahrensführung nicht beeinträchtigt wurde. Aus den von der [X.] genannten Gründen lag die Bedeutungslosigkeit zudem für alle Verfahrensbeteiligten auf der Hand, so dass auf etwaigen Mängeln der Begründung des Ablehnungsbeschlusses das Urteil nicht beruhen würde (vgl. zu alldem LR/[X.], [X.], 27. Aufl., § 244 Rn. 226 mwN).

3. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben. Der [X.] hat die Schuldsprüche aber dahin klargestellt, dass die Angeklagten - unter anderem - jeweils den Qualifikationstatbestand des besonders schweren Raubes verwirklichten, dagegen nicht unter den Voraussetzungen eines tatsächlich nicht existenten Strafschärfungsgrunds des Raubes im besonders schweren Fall handelten. Die gemeinschaftliche Begehungsweise der Tat war nicht in den [X.] aufzunehmen, weil es sich um eine Tatmodalität handelt, die kein eigenes Unrecht verkörpert (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 2. Mai 2019 - 3 StR 567/18 mwN).

Cirener     

        

Gericke     

        

Ri[X.] Prof. Dr. Mosbacher
ist im Urlaub und daher
verhindert zu unterschreiben.

                                   

Cirener

        

Köhler     

        

Resch     

        

Meta

5 StR 400/20

02.02.2021

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Leipzig, 4. Februar 2020, Az: 305 Js 36078/18 - 1 Ks

Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 54 Abs 1 S 2 Alt 1 GVG, § 192 Abs 2 GVG, § 192 Abs 3 GVG, § 229 Abs 3 S 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 02.02.2021, Az. 5 StR 400/20 (REWIS RS 2021, 8997)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 8997

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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