Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.06.2016, Az. III R 6/16

3. Senat | REWIS RS 2016, 9942

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Gegenstand

(Im Wesentliche inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 4.2.2016 III R 17/13 - Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten)


Leitsatz

NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13).

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 21. Februar 2013  5 K 5041/11 im [X.] ganz und im Übrigen insoweit aufgehoben, als es den Streitzeitraum Mai 2010 bis Januar 2011 betrifft.

Insoweit wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des finanzgerichtlichen Verfahrens hat die Klägerin zu 85 %, die Beklagte zu 15 % zu tragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

1

I. [X.]treitig ist Kindergeld für den Zeitraum Mai 2010 bis Januar 2011. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist [X.] [X.]taatsangehörige und Mutter des im August 1995 geborenen [X.] ([X.]), der bei ihrem früheren Ehemann, dem Vater ihres [X.], in [X.] lebt. Die Klägerin lebt mit ihrem jetzigen Ehemann in der [X.] (Deutschland).

2

Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte mit [X.] vom 20. November 2009 den Antrag der Klägerin auf Kindergeld für [X.] ab. Der dagegen gerichtete Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 11. Januar 2011).

3

Das Finanzgericht ([X.]) gab der dagegen gerichteten Klage, mit welcher die Klägerin Kindergeld für [X.] für den Zeitraum Oktober 2008 bis Januar 2011 begehrte, teilweise statt. Es verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für [X.] für den Zeitraum Januar 2010 bis Januar 2011 festzusetzen. Im Übrigen wies es die Klage ab. Zur Begründung der [X.] führte das [X.] aus, dass der Kindsvater mangels eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Inland nicht kindergeldberechtigt sei. § 64 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (E[X.]tG) sei daher nicht anwendbar.

4

Nach Zulassung der Revision durch den [X.] ([X.]) für den Zeitraum Mai 2010 bis Januar 2011 rügt die Familienkasse die Verletzung des § 64 E[X.]tG.

5

Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil, soweit es den Zeitraum Mai 2010 bis Januar 2011 betrifft, aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Mit Beschluss vom 26. Februar 2015 hat der [X.] das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen [X.]/14 ausgesetzt. Der [X.] hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 [X.]/14 ([X.]:C:2015:720, [X.] 2015, 1190) über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

8

II. Die Revision ist begründet. Sie führt, soweit das Urteil mit der Revision angegriffen wurde, zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld (vorrangig) der Klägerin zusteht. Die Klägerin ist zwar nach nationalem Recht anspruchsberechtigt (§§ 62 ff. EStG). Die Anwendung von Unionsrecht führt jedoch dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig dem (geschiedenen) Ehemann und Kindsvater zusteht.

9

1. Die Klägerin erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Dies wurde --für den [X.] bindend (vgl. § 118 Abs. 2 [X.]O)-- vom [X.] festgestellt und ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Für die Kindergeldberechtigung ist unerheblich, dass der [X.] im Streitzeitraum seinen Wohnsitz in [X.] hatte (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

2. Der Kindsvater, der seinen [X.] in seinen Haushalt aufgenommen hat, ist allerdings vorrangig anspruchsberechtigt. Denn nach § 64 Abs. 1 EStG wird das Kindergeld nur einem Berechtigten gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG), hier also dem Kindsvater.

a) Die Anspruchsberechtigung des Kindsvaters folgt hier aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es ist aber gemäß Art. 67 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] --[X.]-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] 883/2004 ([X.]. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] 987/2009 ([X.] zu unterstellen, dass der Kindsvater mit S in [X.] wohnt.

aa) Der Anwendungsbereich der [X.] 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und [X.] ist der zuständige Mitgliedstaat.

Die Klägerin ist [X.] Staatsangehörige und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der [X.] 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der [X.] 883/2004, sodass auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der [X.] 883/2004 eröffnet ist.

Nach Art. 11 Abs. 1 der [X.] 883/2004 unterliegen die von dieser Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Im Streitfall ergibt sich die Anwendung der [X.] Rechtsvorschriften jedenfalls aus Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der [X.] 883/2004.

bb) Aus Art. 67 Satz 1 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation des Kindsvaters (fiktiv) in das Inland übertragen wird.

Zur weiteren Begründung verweist der [X.] auf die Urteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13 ([X.], 134, [X.], 612, Rz 18 bis 19) und vom 28. April 2016 III R 68/13, [X.], 20 ,Rz 15 ff.

b) Der Kindsvater erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.

Es bestehen weder Anhaltspunkte dafür, dass der Kindsvater ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, noch dass er mit der Klägerin einen gemeinsamen Haushalt im Streitzeitraum in [X.] hatte (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Letzterer ergibt sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009.

c) Schließlich kommt es nicht darauf an, ob der Kindsvater selbst einen Antrag auf Kindergeld in [X.] gestellt hat. Insoweit verweist der [X.] zur Vermeidung von Wiederholungen auf das [X.]surteil vom 28. April 2016 III R 68/13, Rz 27 ff.

3. [X.] folgt aus § 143 Abs. 1, § 136 Abs. 1 [X.]O.

Da die Revision der Familienkasse Erfolg hat, kann die Kostenentscheidung des [X.] keinen Bestand haben. Der [X.] hält es für angemessen, über die Kosten nach Verfahrensabschnitten zu entscheiden. Auch eine solche Entscheidung wahrt den Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 30. April 2014 XI R 24/13, [X.], 66, [X.], 1014, Rz 38, m.w.[X.]). Danach haben nach dem Verhältnis des jeweiligen Obsiegens und Unterliegens die Kosten des Verfahrens vor dem [X.] die Klägerin zu 85 %, die Beklagte zu 15 % zu tragen. Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Meta

III R 6/16

15.06.2016

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 21. Februar 2013, Az: 5 K 5041/11, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 1 Buchst z EGV 883/2004, Art 2 Abs 1 EGV 883/2004, Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004, Art 11 Abs 1 EGV 883/2004, Art 11 Abs 3 Buchst e EGV 883/2004, Art 67 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 EGV 987/2009, EStG VZ 2010, EStG VZ 2011

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.06.2016, Az. III R 6/16 (REWIS RS 2016, 9942)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 9942

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