Bundesfinanzhof, Urteil vom 23.08.2016, Az. V R 25/14

5. Senat | REWIS RS 2016, 6442

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Gegenstand

Kindergeld: Persönliche Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten


Leitsatz

NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland sondern dem im EU Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 4. April 2014  14 [X.] aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist [X.] Staatsbürgerin, die in der [X.] ([X.]) lebt und zunächst [X.] tätig, später arbeitslos war. Ihr 1991 geborener [X.] [X.] lebte im Streitzeitraum von September 2010 bis April 2011 im Haushalt des von der Klägerin geschiedenen Kindsvaters in [X.] und besuchte dort eine Hochschule. Am 12. April 2011 zog [X.] nach [X.] und bewarb sich hier um einen Studienplatz. Der Kindsvater ist [X.] tätig. [X.] Familienleistungen bezog er nicht.

2

Die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte einen Antrag der Klägerin auf Kindergeld für [X.] vom Oktober 2010 für den Zeitraum ab September 2010 im Dezember 2010 ab, da der Kindsvater einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld habe. Dem dagegen eingelegten Einspruch half sie im Juli 2011 insoweit ab, als sie Kindergeld für [X.] ab [X.]ai 2011 festsetzte. Für den Zeitraum von September 2010 bis April 2011 wies sie den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 13. September 2011 zurück. Der daraufhin erhobenen Klage gab das [X.] ([X.]) mit Urteil vom 4. April 2014  14 K 3662/11 Kg statt. Dagegen wendet sich die Familienkasse mit der Revision.

3

Der Senat hat das Verfahren mit Beschluss vom 18. November 2014 bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) in der Rechtssache [X.] [X.]/14, ausgesetzt. Nach Veröffentlichung des [X.]-Urteils vom 22. Oktober 2015 [X.] [X.]/14, ([X.]:C:2015:720, [X.]Entscheidungsdienst --DStRE-- 2015, 1501) hat der Senat das Verfahren wieder aufgenommen und den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich zu dem [X.]-Urteil zu äußern. Die Familienkasse ist der Auffassung, der [X.] habe ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.

4

Die Familienkasse beantragt,
das [X.]-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.

6

Auch die Klägerin sieht sich durch die Entscheidung des [X.] in ihrer Rechtsauffassung bestätigt. Der [X.] habe festgestellt, dass das Unionsrecht nur eingreife, wenn ein Anspruch sowohl auf [X.] als auch auf [X.] Familienleistungen bestehe. Im Streitfall bestehe aber kein Anspruch auf [X.] Familienleistungen.

Entscheidungsgründe

7

II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des [X.] und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das [X.] verletzt § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG). Danach hat die Klägerin keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes.

8

1. Die Klägerin ist zwar kindergeldberechtigt, weil sie in [X.] lebt und [X.]utter eines [X.] ist, der seinen Wohnsitz in [X.] hatte (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) und für den ein Anspruch auf Kindergeld besteht, da er eine Hochschule besuchte (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG). Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass die Klägerin Leistungen nach dem zweiten [X.] bezieht (vgl. Urteile des [X.] --BFH-- vom 28. April 2016 III R 40/12, III R 50/12 und [X.], jeweils nicht veröffentlicht).

9

Die Klägerin hat aber keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes; denn mit Blick auf das Unionsrecht ist für den Streitzeitraum nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG der Kindsvater vorrangig anspruchsberechtigt.

a) Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.

b) Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der [X.] Sicherheit ([X.] 883/2004) --wie hier die Klägerin nach Art. 2 Abs. 1 [X.] 883/2004-- Anspruch auf Familienleistungen (wie hier Kindergeld nach Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j [X.] 883/2004) nach den Rechtsvorschriften des zuständigen [X.]itgliedstaats (hier: [X.] gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. c und e der [X.] 883/2004), auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen [X.]itgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen [X.]itgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 [X.] 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der [X.]odalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der [X.] Sicherheit die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten --insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt-- unter die Rechtsvorschriften des betreffenden [X.]itgliedstaats (hier: [X.]) fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH-Urteil [X.], [X.]:C:2015:720, [X.] 2015, 1501).

Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in [X.], sondern dem im [X.]-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. dazu im Einzelnen BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, [X.], 134, [X.], 612).

c) So verhält es sich im Streitfall: [X.] lebte im Streitzeitraum im Haushalt des ebenfalls kindergeldberechtigten Kindsvaters, so dass die Klägerin keinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes hat. Anhaltspunkte, dass der Kindsvater ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer ist (vgl. § 62 Abs. 2 EStG), bestehen nicht.

Entgegen der Auffassung der Klägerin ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 bereits über Art. 67 der [X.] 883/2004 anwendbar und setzt keine Konkurrenzsituation nach Art. 68 [X.] 883/2004 voraus (EuGH-Urteil [X.], [X.]:C:2015:720, [X.] 2015, 1501, Rz 35 ff.; BFH-Urteil vom 10. [X.]ärz 2016 III R 62/12, [X.], 236, BStBl II 2016, 616, Rz 21).

2. [X.] beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Meta

V R 25/14

23.08.2016

Bundesfinanzhof 5. Senat

Urteil

vorgehend FG Münster, 4. April 2014, Az: 14 K 3662/11 Kg, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 67 S 1 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009, EStG VZ 2010, EStG VZ 2011

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 23.08.2016, Az. V R 25/14 (REWIS RS 2016, 6442)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 6442

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