Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.02.2022, Az. 1 StR 484/21

1. Strafsenat | REWIS RS 2022, 1331

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Gegenstand

Strafverurteilung wegen Körperschafts- und Gewerbe- sowie Umsatzsteuerhinterziehung u.a.: Tatgerichtliche Schätzung der Umsätze und Erträge durch Schwarzverkäufe, revisionsgerichtliche Überprüfung der tatgerichtlichen Beweiswürdigung


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 24. August 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschafts-strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 14 Fällen (Körperschaft- und Gewerbesteuer für die [X.] bis 2013 sowie Umsatzsteuer in den [X.]steuerungszeiträumen 2010 bis 2013) und wegen versuchter Steuerhinterziehung in drei Fällen (Körperschaft-, Gewerbe- und Umsatzsteuer im [X.]) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge einer Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

2

1. a) Nach den Feststellungen des [X.]s fasste der Angeklagte als Geschäftsführer der im Fleischhandel tätigen [X.].        GmbH                       (im Folgenden: [X.]) den Entschluss, den Ein- und Verkauf der Gesellschaft spätestens ab dem [X.]steuerungszeitraum 2009 nicht mehr vollständig in deren Buchhaltung zu erfassen (sog. „Doppelverkürzung“), nur die in der Buchhaltung erfassten Umsätze in den Körperschaft-, Gewerbe- und Umsatzsteuererklärungen für die [X.] anzugeben und der Gesellschaft so entsprechende Steuern zu ersparen. Diesem [X.] folgend ließ er in den Jahren 2009 bis 2014 entsprechende Körperschaft-, Gewerbe- und Umsatzsteuererklärungen für die [X.] über deren (nicht eingeweihten) Steuerberater beim zuständigen Finanzamt einreichen, in denen lediglich die aus der Buchhaltung ersichtlichen ordnungsmäßig verbuchten Umsätze und die hieraus erzielten Erträge angegeben waren, nicht dagegen diejenigen aus den nicht in die Buchhaltung aufgenommenen Schwarzverkäufen. Aufgrund der eingereichten Gewerbe- und Körperschaftsteuererklärungen erließ das Finanzamt entsprechende Steuerbescheide für die [X.] bis 2013. Aus den Umsatzsteuerjahreserklärungen für die [X.]steuerungszeiträume 2010, 2011 und 2013 ergab sich jeweils eine Zahllast; der einen Überschuss ergebenden Umsatzsteueranmeldung für den [X.]steuerungszeitraum 2012 stimmte das Finanzamt – anders als derjenigen für das [X.] – zu. Insgesamt verkürzte der Angeklagte zu Gunsten der [X.] im Zeitraum 2009 bis 2013 Körperschaft-, Gewerbe- und Umsatzsteuern in Höhe von 355.723,02 €; im [X.]steuerungszeitraum 2014 belief sich der erstrebte [X.] auf 129.675,06 €.

3

b) Das [X.] hat die getroffenen Feststellungen zu den sich nach den Steuererklärungen ergebenden – eingetretenen oder erstrebten – Steuerverkürzungen auf eine Schätzung gestützt, weil Rechnungen über nicht in die Buchhaltung aufgenommene [X.] nicht existent beziehungsweise auffindbar waren. Seiner Schätzung hat das [X.] für die einzelnen [X.]steuerungszeiträume durchgeführte [X.]nverkehrsrechnungen zugrundegelegt und hierfür den Anfangsbestand und die Einkäufe gemäß Buchhaltung den Verkäufen gemäß Buchhaltung gegenübergestellt. Soweit sich dabei rechnerisch für einzelne Tage negative [X.]nbestände ergaben, hat es angenommen, dass die [X.] in Höhe des jeweils höchsten negativen [X.] innerhalb eines Jahres nicht erfasste [X.] eingekauft hatte, und hat den rechnerischen Endbestand entsprechend korrigiert. In Höhe der Differenz zwischen dem korrigierten Endbestand und dem in der Buchhaltung ausgewiesenen Endbestand ist es von nicht erfassten Verkäufen zu durchschnittlichen Verkaufspreisen und von hieraus ermittelten unverbucht sowie unversteuert gebliebenen zusätzlichen Umsätzen und Erträgen der [X.] ausgegangen.

4

2. Das Urteil hat keinen [X.]stand, weil eingetretene ([X.] bis 2013) oder erstrebte ([X.]steuerungszeitraum 2014) Steuerverkürzungen durch die landgerichtliche Schätzung nicht rechtsfehlerfrei belegt sind.

5

a) Im Steuerstrafverfahren ist die Schätzung zulässig, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige einen [X.]steuerungstatbestand erfüllt hat, das Ausmaß der verwirklichten [X.]steuerungsgrundlagen aber ungewiss ist (st. Rspr.; vgl. nur [X.], [X.]schlüsse vom 29. Januar 2014 – 1 StR 561/13 Rn. 19; vom 20. Dezember 2016 – 1 StR 505/16 Rn. 14; vom 29. August 2018 – 1 StR 374/18 Rn. 7; vom 5. September 2019 – 1 StR 12/19 Rn. 26 und vom 11. März 2021 – 1 StR 521/20 Rn. 11; jeweils mwN). [X.]i der Wahl der Schätzungsmethode hat das Tatgericht einen [X.]urteilungsspielraum; es muss jedoch nachvollziehbar darlegen, warum es sich der gewählten Schätzungsmethode bedient hat und weshalb diese im konkreten Fall für die Ermittlung der [X.]steuerungsgrundlagen geeignet ist (st. Rspr.; z.B. [X.], [X.]schlüsse vom 10. November 2009 – 1 [X.], [X.]R [X.] § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 4 Rn. 12 ff.; vom 14. Juni 2011 – 1 [X.] Rn. 10; vom 8. August 2019 – 1 StR 87/19 Rn. 7 und vom 5. September 2019 – 1 StR 12/19 Rn. 26 f.; jeweils mwN). [X.]i seiner Überzeugungsbildung hat das Tatgericht die vom [X.]steuerungsverfahren abweichenden strafrechtlichen Verfahrensgrundsätze (§ 261 StPO) zu berücksichtigen (vgl. [X.], [X.]schluss vom 24. Mai 2017 – 1 StR 176/17 Rn. 6). Die Schätzungsgrundlagen sind in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar mitzuteilen (st. Rspr.; vgl. [X.], [X.]schlüsse vom 10. November 2009 – 1 [X.], [X.]R [X.] § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 4 Rn. 12; vom 24. Mai 2017 – 1 StR 176/17 Rn. 6 und vom 25. November 2021 – 5 [X.] Rn. 14).

6

b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Denn die der Schätzung zugrunde gelegten [X.]nverkehrsrechnungen auf Basis der angenommenen Doppelverkürzung auf Einnahmen- und Ausgabenseite sind nicht rechtsfehlerfrei durchgeführt worden.

7

aa) Eine [X.]nverkehrsrechnung ist grundsätzlich ebenso wie die Geldverkehrsrechnung eine auch für das Steuerstrafverfahren geeignete Schätzungsmethode (vgl. zur Geldverkehrsrechnung [X.], [X.]schluss vom 5. September 2019 – 1 StR 12/19 Rn. 27). Voraussetzung für eine belastbare Geld- oder [X.]nverkehrsrechnung ist aber stets, dass die Rechnung von einem gesicherten Anfangsbestand und einem gesicherten Endbestand ausgeht (st. Rspr.; grundlegend [X.], Urteil vom 21. Februar 1974 – [X.], [X.]E 112, 213 Rn. 12 ff., in der Folge u.a. [X.], Urteil vom 2. März 1982 – [X.]/80 Rn. 19 ff.; aus neuerer Zeit [X.], Urteil vom 12. Dezember 2017 – [X.] Rn. 42; [X.]schluss vom 23. Februar 2018 – [X.]/17 Rn. 40).

8

bb) Dies ist hier nicht der Fall. Dass die sich aus den [X.] der [X.] ergebenden Anfangs- und Endbestände den tatsächlichen [X.]nbeständen zum jeweiligen Stichtag entsprachen, ist nicht rechtsfehlerfrei belegt.

9

(1) Die [X.]weiswürdigung ist allerdings Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die [X.]weiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, wenn sie gegen die Denkgesetze oder gegen gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; z.B. [X.], Urteil vom 16. Januar 2020 – 1 StR 89/19, [X.]St 64, 252, Rn. 23 mwN).

(2) Diesen Anforderungen wird die landgerichtliche [X.]weiswürdigung nicht gerecht. Sie erweist sich mit Blick auf die den [X.]nverkehrsrechnungen jeweils zugrunde gelegten Anfangs- und Endbestände als lückenhaft. Trotz Annahme einer Doppelverkürzung auf [X.]neingangs- und [X.]nausgangsseite hat das [X.] seinen [X.]nverkehrsrechnungen die vom Angeklagten beziehungsweise dem Zeugen [X.]nach jeweiliger Inventur dokumentierten Anfangs- und Endbestände zugrunde gelegt und ergänzend darauf verwiesen, dass der Angeklagte und der Zeuge [X.]angegeben hätten, die Inventurübersichten seien zutreffend. An einer [X.]gründung, warum die [X.] die Inventuraufstellungen für zutreffend hält und den diesbezüglichen Angaben des Angeklagten und des Zeugen [X.]folgt, obwohl sie sowohl die Aufzeichnungen des Angeklagten und des Zeugen [X.]für die Buchhaltung der [X.] für unrichtig hält als auch deren Angaben zur vollständigen Erfassung der [X.] in der Buchhaltung im Übrigen als unglaubhaft erachtet, fehlt es indes (vgl. zu den Anforderungen an die [X.]weiswürdigung, wenn das Gericht einer Zeugenaussage nur teilweise glauben will, [X.], Urteil vom 28. Oktober 2021 – 4 [X.] Rn. 18 mwN). Mit der sich als naheliegend aufdrängenden Möglichkeit, dass die sich aus den Inventuraufstellungen ergebenden [X.]nanfangs- und Endbestände eines jeden Jahres ebenso wie die Buchhaltung der [X.] im Übrigen unzutreffend sein könnten, hat sich das [X.] nicht auseinandergesetzt.

c) Die rechtsfehlerhafte [X.]weiswürdigung nötigt nicht nur zur Aufhebung des Strafausspruchs, sondern auch des Schuldspruchs. Denn der Senat vermag mangels tragfähiger Feststellung der jeweiligen [X.]nanfangs- und Endbestände der einzelnen [X.]steuerungszeiträume und damit mangels tragfähiger Grundlage der Schätzung der jeweiligen [X.]steuerungsgrundlagen nicht auszuschließen, dass zumindest in manchen Fällen Steuern nicht verkürzt wurden beziehungsweise der Angeklagte dies versucht hat.

Raum     

      

[X.]llay     

      

Fischer

      

Bär     

      

Pernice     

      

Meta

1 StR 484/21

10.02.2022

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Hamburg, 24. August 2021, Az: 608 KLs 4/20

§ 161 AO, § 370 Abs 1 AO, § 261 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.02.2022, Az. 1 StR 484/21 (REWIS RS 2022, 1331)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 1331

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