Bundesfinanzhof, Urteil vom 10.08.2017, Az. V R 2/17

5. Senat | REWIS RS 2017, 6697

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Gegenstand

(Zu den Anforderungen an das "Kennenmüssen" nach § 25d Abs. 1 UStG)


Leitsatz

Das "Kennenmüssen" i.S. des § 25d Abs. 1 UStG muss sich im Rahmen eines konkreten Leistungsbezugs auf Anhaltspunkte beziehen, die für den Unternehmer den Schluss nahelegen, dass der Rechnungsaussteller bereits bei Vertragsschluss die Absicht hatte, die Umsatzsteuer nicht abzuführen.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 9. Juni 2016  11 K 10303/14 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betreibt einen Fahrzeughandel und bezog von der [X.], über deren Lieferung die [X.] mit Rechnungen vom 3. Januar 2012 (... € [X.] Umsatzsteuer in Höhe von ... €) und vom 5. Januar 2012 (... € [X.] Umsatzsteuer in Höhe von ... €) abrechnete. Die Umsatzsteuer für Januar 2012 wurde von der [X.] in Höhe von ... € nicht entrichtet.

2

Geschäftsführer der [X.] war [X.], der in der Vergangenheit bereits für mehrere andere Unternehmen aufgetreten war, zu denen die Klägerin Geschäftsbeziehungen unterhielt. Gegen [X.] wurde seit 2008 durch die Steuerfahndung wegen einer Vielzahl von Fällen der Umsatzsteuerhinterziehung ermittelt. Mit Urteil vom 17. Januar 2014 verurteilte das Landgericht [X.] wegen Hinterziehung der Umsatzsteuer aus den Lieferungen an die Klägerin vom 3. und 5. Januar 2012.

3

Die Steuerfahndung hatte die Klägerin spätestens am 11. Januar 2012 über die Ermittlungsverfahren in Kenntnis gesetzt. Ob die Klägerin bereits zuvor von den Ermittlungsverfahren Kenntnis hatte, war zwischen den Beteiligten streitig.

4

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --[X.]--) nahm die Klägerin mit dem streitbefangenen Haftungsbescheid nach § 25d des Umsatzsteuergesetzes (UStG) in Haftung.

5

Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht ([X.]) unterstellte dabei als wahr, dass die Klägerin seit 15. Oktober 2008 positive Kenntnis von steuerstrafrechtlichen Ermittlungen gegen [X.] gehabt habe. Das [X.] müsse aber die Voraussetzungen des § 25d Abs. 1 UStG darlegen und nachweisen; das sei ihm nicht gelungen. Es gebe keinen Erfahrungssatz, dass jemand, der einmal Umsatzsteuer nicht entrichtet habe, später anlässlich eines anderen Geschäftsvorfalles die vorgefasste Absicht habe, die Umsatzsteuer erneut nicht zu entrichten. Im Übrigen habe zugunsten des [X.] bis zu seiner Verurteilung im Jahr 2014 die Unschuldsvermutung gegolten.

6

Hiergegen wendet sich das [X.] mit der Revision. Die Klägerin habe i.S. des § 25d Abs. 1 UStG nach der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns von der vorgefassten Absicht der [X.], die Umsatzsteuer aus den Umsätzen an die Klägerin nicht zu entrichten, Kenntnis haben müssen.

7

Das [X.] beantragt,
das [X.]-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

8

Die Klägerin beantragt,
die Revision des [X.] zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

9

Die Revision des [X.] ist unbegründet und wird deshalb zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat zu Recht entschieden, dass das Vorliegen der Voraussetzungen einer Inanspruchnahme der Klägerin im [X.] nach § [X.] Abs. 1 UStG nicht nachgewiesen ist.

1. § [X.] Abs. 1 UStG führt zur Haftung des Unternehmers aus einem vorangegangenen Umsatz, soweit der Aussteller der Rechnung entsprechend seiner vorgefassten Absicht die ausgewiesene Steuer nicht entrichtet hat und der Unternehmer bei Abschluss des Vertrags über seinen Eingangsumsatz davon Kenntnis hatte oder nach der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns hätte haben müssen. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Merkmale des § [X.] Abs. 1 UStG trägt das [X.] (Urteil des [X.] --[X.]-- vom 28. Februar 2008 V R 44/06, [X.], 415, [X.], 586, unter [X.]; [X.]/Widmann/[X.], UStG, § [X.] Rz 35; [X.] in [X.]/ [X.]/[X.], UStG, § [X.] Rz 31; [X.]/[X.] in [X.]/Söhn/[X.], § [X.] UStG Rz 64; [X.], Zeitschrift für das gesamte Mehrwertsteuerrecht --[X.]-- 2015, 323, 324).

2. Das [X.] ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen einer Inanspruchnahme der Klägerin nach § [X.] Abs. 1 UStG nicht erfüllt sind. Das [X.] hat nicht nachgewiesen, dass die Klägerin von einer etwaigen vorgefassten Absicht des [X.] Kenntnis hatte oder nach der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns Kenntnis hätte haben müssen.

a) Selbst wenn man mit dem [X.] die Kenntnis der Klägerin von steuerstrafrechtlichen Ermittlungen gegen [X.] unterstellt, folgt hieraus nicht, dass sie von dessen Absicht wusste, die Umsatzsteuer aus dem Liefergeschäft mit ihr nicht abzuführen. Zum einen gilt, worauf das [X.] zutreffend hingewiesen hat, bis zur Verurteilung des [X.] die Unschuldsvermutung. Zum anderen folgt selbst aus steuerstrafrechtlich bedeutsamen Verhalten bei anderen Geschäftsvorfällen nicht der sichere Schluss auf die Absicht, auch bei zukünftigen Umsätzen die Umsatzsteuer zu hinterziehen.

b) Ferner trafen die Klägerin selbst bei Kenntnis von steuerstrafrechtlichen Ermittlungen gegen [X.] keine Sorgfaltspflichten hinsichtlich einer Hinterziehungsabsicht des [X.]. Denn an das Kennenmüssen i.S. des § [X.] Abs. 1 UStG sind, wenn --wie hier-- die Regelvermutung des § [X.] Abs. 2 UStG nicht eingreift, strenge Anforderungen zu stellen.

§ [X.] Abs. 1 UStG muss den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind und zu denen u.a. die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit gehören, genügen (Urteil des Gerichtshofs der [X.] --[X.]-- [X.] u.a. vom 11. Mai 2006 [X.]/04, [X.]:[X.], Rz 29). Die Regelung darf also nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Ansprüche des Staates möglichst wirksam zu schützen. Zudem dürfen Wirtschaftsteilnehmer, die alle Maßnahmen treffen, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden könnten, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht zu einer Lieferkette gehörten, die einen mit einem Mehrwertsteuerbetrug behafteten Umsatz einschließt, für die Zahlung der von einem anderen Steuerpflichtigen geschuldeten Steuer nicht gesamtschuldnerisch in Anspruch genommen werden ([X.]-Urteil [X.] u.a., [X.]:[X.], Rz 33).

Die Annahme, dass einem Steuerpflichtigen bereits bei bloßer Kenntnis von steuerstrafrechtlichen Ermittlungen gegen einen Vertragspartner erhöhte Sorgfaltspflichten obliegen, würde trotz der dem Unternehmer zukommenden Aufgabe, öffentliche Gelder als "Steuereinnehmer für Rechnung des Staates" (dazu [X.] vom 20. Oktober 1993 [X.], [X.]:[X.], Rz 25, und [X.] vom 21. Februar 2008 [X.], [X.]:[X.], Rz 21; [X.]-Urteil vom 24. Oktober 2013 V R 31/12, [X.], 451, [X.], 674, Rz 21) zu vereinnahmen, gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen (vgl. [X.] vom 26. April 2017 [X.]/15, [X.]:[X.], Rz 59 f.; [X.] vom 5. Oktober 2016 [X.]/15, [X.]:[X.], Rz 44).

Denn eine am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Auslegung des § [X.] Abs. 1 UStG führt dazu, dass sich das Kennenmüssen i.S. des § [X.] Abs. 1 UStG auf Anhaltspunkte bezieht, die für den Unternehmer im Rahmen eines konkreten Leistungsbezugs den Schluss nahelegen, dass der Rechnungsaussteller bereits bei Vertragsschluss die Absicht hatte, die Umsatzsteuer nicht abzuführen. Hierfür gibt es vorliegend in Bezug auf die konkreten [X.], die haftungsbegründend sein sollen, aber weder nach den Feststellungen des [X.] noch nach Aktenlage oder nach dem Vortrag des [X.] irgendwelche Anhaltspunkte.

3. Da die tatbestandlichen Voraussetzungen des § [X.] Abs. 1 UStG nicht vorliegen, braucht der Senat nicht darüber zu entscheiden, in welchem Verhältnis eine Haftung nach § [X.] Abs. 1 UStG zu einer Versagung des Vorsteuerabzugs nach den Grundsätzen der vom [X.] übernommenen Rechtsprechung des [X.] (vgl. hierzu z.B. [X.]-Urteile Italmoda u.a. vom 18. Dezember 2014 [X.]/13, [X.]/13, [X.]/13, [X.]:C:2014:2455; Optigen u.a. vom 12. Januar 2006 [X.]/03, [X.]/03, [X.]/03, [X.]:[X.]; Kittel und Recolta Recycling vom 6. Juli 2006 [X.]/04, 440/04, [X.]:C:2006:446; [X.]-Urteile vom 12. August 2009 XI R 48/07, [X.]/NV 2010, 259; vom 19. April 2007 V R 48/04, [X.]E 217, 194, [X.], 315) steht und ob überhaupt eine Kumulation von Vorsteuerversagung und Haftung nach § [X.] Abs. 1 UStG in Betracht kommen kann (vgl. hierzu z.B. [X.], [X.] --UR-- 2016, 777; Grube, [X.] 2013, 8; [X.], [X.], 1416; Treiber, [X.] 2015, 626; Wäger, UR 2015, 81).

4. [X.] beruht auf § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

V R 2/17

10.08.2017

Bundesfinanzhof 5. Senat

Urteil

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 9. Juni 2016, Az: 11 K 10303/14, Urteil

§ 25d Abs 1 UStG 2005, § 25d Abs 2 UStG 2005, Art 21 Abs 3 EWGRL 388/77, UStG VZ 2012

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 10.08.2017, Az. V R 2/17 (REWIS RS 2017, 6697)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 6697

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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