Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20.01.2016, Az. 6 AZR 601/14

6. Senat | REWIS RS 2016, 17428

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Gegenstand

(Rügen bei Massenentlassung - Präklusion nach § 6 KSchG)


Leitsatz

Die Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 KSchG und die in § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG geregelte Anzeigepflicht gegenüber der Agentur für Arbeit sind zwei getrennt durchzuführende Verfahren, die in unterschiedlicher Weise der Erreichung des mit dem Massenentlassungsschutz nach § 17 KSchG verfolgten Ziels dienen und jeweils eigene Wirksamkeitsvoraussetzungen enthalten. Aus jedem dieser beiden Verfahren kann sich ein eigenständiger Unwirksamkeitsgrund für die im Zusammenhang mit einer Massenentlassung erfolgte Kündigung ergeben. Darum ist der Arbeitnehmer, der erstinstanzlich lediglich Mängel hinsichtlich des einen Verfahrens rügt, bei ordnungsgemäß erteiltem Hinweis in zweiter Instanz mit Rügen von Mängeln hinsichtlich des anderen Verfahrens präkludiert.

Tenor

1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 13. August 2014 - 4 [X.] - wird zurückgewiesen.

2. Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung.

2

Der Kläger war seit dem 29. Oktober 2007 als Verkehrsflugzeugführer bei der [X.] beschäftigt. Bei dieser war gemäß § 117 Abs. 2 BetrVG auf der Grundlage eines zum 31. Juli 2007 gekündigten Tarifvertrags eine Personalvertretung gebildet. Ein Nachfolgetarifvertrag wurde nicht geschlossen.

3

Mit Wirkung zum 1. September 2012 ging das Arbeitsverhältnis infolge eines Betriebsübergangs auf die spätere Schuldnerin, die [X.] über. Der Beklagte ist Insolvenzverwalter in dem am 1. April 2013 eröffneten masseunzulänglichen Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin. Er legte den Betrieb still und erstattete am 8. April 2013 [X.] für die 218 Arbeitnehmer des sog. fliegenden Personals.

4

Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis des [X.] mit Schreiben vom 9. April 2013, das diesem am 11. April 2013 zuging, zum 30. Juni 2013. Mit Schreiben vom 23. April 2013 teilte er dem Kläger mit:

        

„…    

        

ich habe Ihnen mit Schreiben vom 09.04.2013 eine Kündigung ausgesprochen. Leider wurde dabei die Kündigungsfrist falsch berechnet.

        

Bitte betrachten Sie dieses Kündigungsschreiben daher als gegenstandslos. Sie erhalten in der Anlage ein neues Kündigungsschreiben mit der richtigen Kündigungsfrist gemäß § 113 InsO.“

5

Diesem Schreiben war ein auf den 22. April 2013 lautendes [X.] beigefügt, demzufolge das Arbeitsverhältnis am 31. Juli 2013 endete.

6

Mit seiner am 30. April 2013 bei Gericht eingegangenen Klage wendet sich der Kläger noch gegen die Kündigung vom 22. April 2013. Er hält die Kündigung allein wegen Mängeln im Verfahren nach § 17 [X.] für unwirksam. Diesbezüglich hat er erstinstanzlich nur Mängel des [X.] gerügt. Insbesondere hat er geltend gemacht, die zweite Kündigung, bei der eine neue Kündigungsabsicht des Beklagten vorgelegen habe, sei von der am 8. April 2013 erstatteten [X.] nicht mehr gedeckt. Nachdem er in der Klageschrift vorgetragen hatte, seines Wissens bestehe kein Betriebsrat, hat er erstmals im zweiten Rechtszug die Auffassung vertreten, die Kündigung sei auch deshalb unwirksam, weil der Anzeige keine Stellungnahme der Personalvertretung beigefügt gewesen sei. Dieser habe ein Restmandat eingeräumt werden müssen, in dessen Rahmen sie nach § 17 [X.] habe beteiligt werden müssen.

7

Der Kläger hat zuletzt beantragt

        

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung des Beklagten vom 22. April 2013 aufgelöst worden ist.

8

Der Beklagte hat seinen Antrag auf Abweisung der Klage darauf gestützt, dass es einer erneuten [X.] nicht bedurft habe. Die Kündigung vom 22. April 2013 sei keine Nachkündigung oder eigenständige Wiederholungskündigung. Es habe erkennbar keine neue Kündigungsabsicht vorgelegen. Er hätte die erforderliche Korrektur der Kündigungsfrist auch durch die Erklärung, die Kündigung solle erst zum 31. Juli 2013 wirksam werden, in die Wege leiten können. Das Arbeitsverhältnis wäre darum auch ohne die Kündigung vom 22. April 2013 zum 31. Juli 2013 beendet worden. Einer erneuten [X.] hinsichtlich dieser Kündigung habe es auch deshalb nicht bedurft, weil zu diesem Zeitpunkt lediglich das Arbeitsverhältnis des [X.] gekündigt worden sei, so dass der Schwellenwert des § 17 Abs. 1 [X.] nicht erreicht worden sei.

9

Der Beklagte hat weiter die Ansicht vertreten, der Kläger sei aufgrund der Regelung in § 6 [X.] mit der Rüge, die Anhörung der Personalvertretung sei unterblieben, ausgeschlossen. Jedenfalls habe keine Personalvertretung bestanden, die er vor der [X.] habe beteiligen können.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das [X.] hat auf die Berufung des [X.] festgestellt, dass die Kündigung vom 22. April 2013 das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst hat. Es hat angenommen, hinsichtlich der Kündigung vom 22. April 2013 sei keine erneute [X.] erforderlich gewesen. Die Kündigung sei jedoch gemäß § 17 Abs. 3 Satz 2 [X.] unwirksam, weil ihr keine Stellungnahme der Personalvertretung beigefügt gewesen sei.

Mit seiner vom [X.] zugelassenen Revision begehrt der Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Das [X.] hat im Ergebnis zu Recht erkannt, dass die Kündigung des Beklagten vom 22. April 2013 wegen Mängeln im Verfahren nach § 17 [X.] unwirksam ist. Darauf, ob im Vorfeld dieser Kündigung noch eine funktionsfähige Personalvertretung gemäß § 117 Abs. 2 [X.] bestand, mit der das [X.] nach § 17 Abs. 2 [X.] durchgeführt werden konnte und durchzuführen war, kommt es ebenso wenig an wie darauf, ob der Kläger mit der Rüge, die Kündigung sei unwirksam, weil der Massenentlassungsanzeige entgegen § 17 Abs. 3 Satz 2 [X.] keine Stellungnahme dieses Gremiums beigefügt gewesen sei, nach § 6 Satz 1 [X.] präkludiert ist. Die Kündigung des Beklagten vom 22. April 2013 ist nämlich jedenfalls deshalb unwirksam, weil sie im zeitlichen Zusammenhang mit einer Massenentlassung erfolgte und deshalb einer (erneuten) Massenentlassungsanzeige bedurfte. Eine solche Anzeige ist nicht erfolgt. Die Massenentlassungsanzeige vom 8. April 2013 war durch die Kündigung vom 9. April 2013 verbraucht.

I. Die Revision macht allerdings mit Recht geltend, das [X.] sei bei seiner Annahme, sein Prüfprogramm sei nicht nach § 6 Satz 1 [X.] beschränkt, von unzutreffenden rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen. Bei seiner Auffassung, Mängel im [X.] könnten erstmals im [X.] gerügt werden, sofern erstinstanzlich [X.] hinsichtlich des [X.] erhoben worden seien, weil es nicht darauf ankomme, welcher konkrete einzelne Mangel letztlich durchschlage, hat es nicht ausreichend berücksichtigt, dass das Verfahren nach § 17 [X.] in zwei getrennt durchzuführende Verfahren mit jeweils unterschiedlichen Wirksamkeitsvoraussetzungen unterfällt.

1. Der Gesetzgeber wollte mit der Vorschrift des § 6 Satz 1 [X.] dem Arbeitnehmer die Möglichkeit eröffnen, auch nach Ablauf der Frist des § 4 [X.] noch andere Unwirksamkeitsgründe in den Prozess einzuführen, auf die er sich zunächst nicht berufen hat. Diese [X.] hat er jedoch auf die [X.] bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der ersten Instanz beschränkt, um dem Arbeitgeber alsbald Klarheit über den Bestand oder die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu verschaffen. Dieser soll sich nicht erstmals in zweiter Instanz auf einen bis dahin in das gerichtliche Verfahren nicht eingeführten anderen [X.] einlassen müssen und soll nicht die dafür erheblichen Tatsachen ermitteln und die entsprechenden Beweise beibringen müssen (vgl. [X.] 24. Mai 2012 - 2 [X.]/11 - Rn. 50). Der Arbeitnehmer muss darum alle weiteren Unwirksamkeitsgründe spätestens bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz in den Prozess einführen. Geschieht dies nicht, ist er mit diesen Unwirksamkeitsgründen grundsätzlich ausgeschlossen ([X.] 18. Januar 2012 - 6 [X.] - Rn. 13, [X.]E 140, 261). Insofern hat § 6 Satz 1 [X.] mit der zum 1. Januar 2004 erfolgten Neufassung durch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 ([X.]I S. 3002) einen Bedeutungswandel erfahren: Die Norm ermöglicht nicht mehr, wie § 6 [X.] aF, nur die Erweiterung der aus anderen Gründen erhobenen Klage auf die Feststellung der [X.] (zum Bedeutungsgehalt des § 6 [X.] aF [X.], 1414, 1415), sondern beschränkt auch die Möglichkeit des Arbeitnehmers, nach Ablauf der Klagefrist weitere Unwirksamkeitsgründe nachzuschieben ([X.] 8. November 2007 - 2 [X.] - Rn. 16, [X.]E 124, 367; [X.] NZA 2012, 9, 10; aA [X.], 1414, 1416).

2. Der in § 17 [X.] geregelte besondere Kündigungsschutz bei Massenentlassungen unterfällt in zwei getrennt durchzuführende Verfahren mit jeweils eigenen Wirksamkeitsvoraussetzungen, nämlich die in § 17 Abs. 2 [X.] normierte Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats einerseits und die in § 17 Abs. 1, Abs. 3 [X.] geregelte Anzeigepflicht gegenüber der [X.] andererseits. Das [X.] steht selbständig neben dem Anzeigeverfahren. Beide Verfahren dienen in unterschiedlicher Weise der Erreichung des mit dem Massenentlassungsschutz verfolgten Ziels ([X.] 21. März 2013 - 2 [X.] - Rn. 28, [X.]E 144, 366; 13. Dezember 2012 - 6 [X.] - Rn. 62). Das bringt die Richtlinie 98/59/[X.] vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen ([X.] - [X.] -, ABl. [X.] vom 12. August 1998 S. 16) deutlicher zum Ausdruck als § 17 [X.], mit dem diese Richtlinie umgesetzt worden ist. Dort ist das [X.] in Teil II (Information und Konsultation), die Anzeigepflicht dagegen in Teil III (Massenentlassungsverfahren) geregelt. Im [X.] soll der Betriebsrat konstruktive Vorschläge unterbreiten können, um die Massenentlassung zu verhindern oder jedenfalls zu beschränken ([X.] 20. September 2012 - 6 [X.] - Rn. 60, [X.]E 143, 150). Erfolgt gleichwohl eine Massenentlassung, soll die [X.] durch die Anzeige der Massenentlassung in die Lage versetzt werden, Maßnahmen zur Vermeidung oder zum Aufschub von Belastungen des Arbeitsmarkts einzuleiten, die Folgen der Entlassungen für die Betroffenen zu mildern und für deren anderweitige Beschäftigung zu sorgen ([X.] 21. März 2013 - 2 [X.] - Rn. 28, 44, aaO).

3. Jedes dieser beiden Verfahren stellt ein eigenständiges Wirksamkeitserfordernis für die im Zusammenhang mit einer Massenentlassung erfolgte Kündigung dar. § 17 Abs. 2 [X.] einerseits und § 17 Abs. 1 iVm. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 [X.] andererseits sind zwei unterschiedliche Verbotsgesetze, die bei Verstößen gegen die gesetzlichen Anforderungen jeweils unabhängig voneinander zur Unwirksamkeit der Kündigung führen (für das Anzeigeverfahren [X.] 22. November 2012 - 2 [X.] - Rn. 39 ff., [X.]E 144, 47; für das [X.] [X.] 21. März 2013 - 2 [X.] - Rn. 21 ff., [X.]E 144, 366). Darum reicht es entgegen der Ansicht des [X.]s zur Vermeidung der Präklusion nach § 6 Satz 1 [X.] nicht aus, erstinstanzlich Mängel aus dem einen Verfahren zu rügen, um dem Arbeitnehmer die Möglichkeit zu eröffnen, auch Mängel des anderen Verfahrens und die daraus folgende Unwirksamkeit der Kündigung erstmals im Berufungsverfahren geltend zu machen. Erforderlich ist vielmehr, dass der Arbeitnehmer bereits in der ersten Instanz Mängel rügt, die sich eindeutig erkennbar dem Verfahren hinsichtlich der Anzeigepflicht und/oder dem [X.] zuordnen lassen. Hinsichtlich der Mängel, die bezüglich des nicht bereits in erster Instanz angesprochenen Verfahrens bestehen, ist er in zweiter Instanz bei ordnungsgemäß erteiltem Hinweis durch § 6 Satz 1 [X.] präkludiert (zur Möglichkeit der Präklusion mit [X.] nach § 17 [X.] vgl. bereits [X.] 13. Dezember 2012 - 6 [X.] - Rn. 57).

4. Die von § 17 Abs. 3 Satz 2 [X.] verlangte Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats bzw. die Glaubhaftmachung der Voraussetzungen des § 17 Abs. 3 Satz 3 [X.] ist Wirksamkeitsvoraussetzung für die Anzeige ([X.] 28. Juni 2012 - 6 [X.] - Rn. 52, [X.]E 142, 202). Zum Anzeigeverfahren gehört darum auch die in der [X.] nicht vorgesehene (vgl. dazu [X.]/Spelge RL 98/59/[X.]. 3 Rn. 11) Pflicht des Arbeitgebers, der Anzeige die Stellungnahme des Betriebsrats beizufügen bzw. diese nach den in § 17 Abs. 3 Satz 3 [X.] geregelten Grundsätzen zu ersetzen. Diese Pflicht ist Teil der nationalen Ausgestaltung des [X.]. Darum kann zB ein Arbeitnehmer, der in der ersten Instanz nur rügt, die vom Betriebsrat erteilte Stellungnahme sei der Anzeige nicht beigefügt worden, bei ordnungsgemäß erteiltem Hinweis Mängel des [X.]s in der Berufungsinstanz nicht mehr geltend machen, weil sich diese Rüge allein auf das Anzeige-, nicht aber auf das [X.] bezieht.

II. Es kann dahinstehen, ob nach vorstehenden Grundsätzen der Kläger mit der Rüge des § 17 Abs. 3 Satz 2 [X.] präkludiert ist, weil er in der Klageschrift ausdrücklich vorgetragen hat, seines Wissens bestehe kein Betriebsrat, und so zu erkennen gegeben hat, dass er eine ordnungsgemäße Beteiligung des Betriebsrats bzw. der Personalvertretung nach § 117 Abs. 2 [X.] nicht als Voraussetzung für die Wirksamkeit des [X.] ansehe. Der vorliegende Fall gibt keinen Anlass, die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Geltendmachung iSd. § 6 Satz 1 [X.] zu klären (offengelassen auch von [X.] 4. Mai 2011 - 7 [X.] - Rn. 21, [X.]E 138, 9). Insbesondere besteht kein Anlass, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob es insoweit genügt, einen möglichen [X.] erstinstanzlich pauschal anzusprechen und sich der Arbeitgeber bereits deswegen umfassend darauf einstellen muss, zu allen insoweit in Betracht kommenden Gesichtspunkten vortragen zu müssen, oder ob er sich jedenfalls dann darauf einrichten darf, mit einem erstinstanzlich gerügten [X.] in der Berufungsinstanz nicht mehr konfrontiert zu werden, wenn er diesem Grund mit schlüssigem Tatsachenvortrag entgegengetreten ist, den der Arbeitnehmer nicht bestritten hat. Ebenso wenig ist die vom [X.] umfangreich erörterte Frage, ob überhaupt noch ein nach § 17 Abs. 2 [X.] zu beteiligendes Gremium bestand und deshalb die Beifügung einer Stellungnahme der Personalvertretung [X.] war, entscheidungserheblich. Die Kündigung vom 22. April 2013 ist nämlich bereits deshalb unwirksam, weil die dafür erforderliche erneute Massenentlassungsanzeige nicht erfolgt ist.

1. Der Senat ist nicht gehindert, das Berufungsurteil darauf zu überprüfen, ob die Kündigung vom 22. April 2013 unwirksam ist, weil es an der erforderlichen Massenentlassungsanzeige fehlt. Ist die Revision zulässig und ordnungsgemäß begründet, hat das Revisionsgericht das angefochtene Urteil innerhalb desselben Streitgegenstands ohne Bindung an die erhobenen Sachrügen unter allen rechtlichen Gesichtspunkten auf seine materielle Richtigkeit und mögliche Rechtsfehler hin zu prüfen (§ 557 Abs. 3 Satz 1 ZPO).

2. Das [X.] hat festgestellt, dass es sich bei der Kündigung vom 22. April 2013 um eine neue, eigenständige Kündigungserklärung handelte. Diese Auslegung der Kündigungserklärung, bei der es sich um eine atypische Willenserklärung handelt, durch das [X.] kann in der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob das Berufungsgericht Auslegungsregeln verletzt hat oder gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen, wesentliche Tatsachen unberücksichtigt gelassen oder eine gebotene Auslegung unterlassen hat. Derartige Fehler zeigen die von der Revision mit Schriftsatz vom 18. Januar 2016 geführten Angriffe nicht auf.

a) Die Revision berücksichtigt bei ihrer Argumentation, der Kündigung vom 22. April 2013 habe keine neue Kündigungsabsicht zugrunde gelegen und aufgrund der vorsorglich zum nächstmöglichen [X.]punkt erklärten Kündigung vom 9. April 2013 habe es im Grunde genommen wegen der unzutreffenden Kündigungsfrist keiner Korrektur dieser Kündigung bedurft, nicht, dass sich der Beklagte für diesen Weg nicht entschieden hat. Er hat vielmehr im Schreiben vom 23. April 2013 ausdrücklich darum gebeten, das erste [X.] als „gegenstandslos“ zu betrachten und erklärt, in der Anlage werde ein „neues“ [X.] mit der richtigen Kündigungsfrist übersandt. Das [X.] hat ohne Rechtsfehler darin den Willen des Beklagten erkannt, eine weitere, eigenständige Kündigung zu erklären.

b) Das [X.] hat festgestellt, dass sich aus dem prozessualen Verhalten des [X.] die konkludente Annahme des Angebots des Beklagten aus dem Schreiben vom 23. April 2013 ergibt. Dagegen richtet die Revision keine Angriffe.

3. Für die Kündigung vom 22. April 2013 war eine erneute Massenentlassungsanzeige erforderlich.

a) Das [X.] hat festgestellt, dass alle 218 Mitarbeiter des fliegenden Personals entlassen worden sind und dass dies eine Massenentlassung iSv. § 17 [X.] darstellte. Es hat dabei in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des [X.] ([X.]Rspr. seit [X.] 23. März 2006 - 2 [X.] - [X.]E 117, 281) den unionsrechtlichen Entlassungsbegriff zugrunde gelegt und deshalb auf die Erklärung der Kündigungen abgestellt. Dagegen erhebt die Revision keine [X.]. Aus der vom [X.] in Bezug genommenen Liste, die der Massenentlassungsanzeige vom 8. April 2013 beigefügt war, ergibt sich, dass sämtliche Kündigungen unter Beachtung der Kündigungsfristen des § 622 BGB bzw. der Höchstfrist des § 113 Satz 2 [X.] frühestens zum 15. Mai 2013 und spätestens zum 31. Juli 2013 erfolgen sollten. Dies setzt die Erklärung sämtlicher Kündigungen noch im April 2013 voraus.

b) Damit war nicht nur die erste, am 9. April 2013 erklärte Kündigung anzeigepflichtig, sondern auch die zweite Kündigung vom 22. April 2013. Nach dem unzweideutigen Wortlaut des § 17 Abs. 1 [X.], der dem des Art. 1 Abs. 1 Buch[X.]a lit i der [X.] entspricht, sind alle nach § 17 Abs. 1 [X.] maßgeblichen Entlassungstatbestände, die innerhalb von 30 Kalendertagen erfolgen, zusammenzuzählen. Das gilt auch dann, wenn sie auf einem neuen, eigenständigen Kündigungsentschluss beruhen ([X.]/[X.] 16. Aufl. § 17 [X.] Rn. 17; APS/Moll 4. Aufl. § 17 [X.] Rn. 49a; vgl. [X.] 25. April 2013 - 6 [X.] - Rn. 154 f.; 22. April 2010 - 6 [X.] - Rn. 19, [X.]E 134, 176). Darum waren alle Kündigungserklärungen, die innerhalb von 30 Tagen vor oder nach der zweiten Kündigung erfolgten, mit dieser zusammenzuzählen. Wegen der im April 2013 erklärten Kündigungen von weiteren 217 Mitarbeitern des fliegenden Personals war auch die Kündigung des [X.] vom 22. April 2013 anzeigepflichtig (vgl. [X.] 25. April 2013 - 6 [X.] - Rn. 154 f.).

c) Der Beklagte hat zwar am 8. April 2013 eine Massenentlassungsanzeige erstattet, die auch den Kläger erfasste. Diese Anzeige war jedoch mit der Erklärung der Kündigung vom 9. April 2013 verbraucht. Entgegen der Ansicht des [X.]s reichte es zur Erfüllung der Anzeigepflicht nicht aus, dass die spätere Kündigung in einem - vom Standpunkt des [X.]s betrachtet, demselben - „[X.]“ erfolgte. Ein derartiges Verständnis widerspricht Sinn und Zweck der Anzeigepflicht.

aa) Hauptziel der [X.] ist es, die sozioökonomischen Auswirkungen von Massenentlassungen aufzufangen, indem vor solchen Entlassungen Konsultationen mit Arbeitnehmervertretern erfolgen und die zuständige Behörde unterrichtet wird (vgl. [X.] 15. Februar 2007 - C-270/05 - [[X.]] Rn. 28, Slg. 2007, [X.]; 10. Dezember 2009 - [X.]/08 - [[X.] ua.] Rn. 44, Slg. 2009, [X.]). Als ein selbständiger Teil dieses [X.] soll die Anzeigepflicht, wie ausgeführt, die Arbeitsverwaltung in die Lage versetzen, Maßnahmen einzuleiten, die die Belastungen des Arbeitsmarkts vermeiden oder zumindest verzögern, die Folgen der Entlassungen für die Betroffenen zu mildern und für deren anderweitige Beschäftigung zu sorgen ([X.] 21. März 2013 - 2 [X.] - Rn. 28, 44, [X.]E 144, 366; vgl. bereits 28. Juni 2012 - 6 [X.] - Rn. 44, [X.]E 142, 202).

bb) Ausgehend von diesem Zweck ist entgegen der Annahme des [X.]s eine erneute Anzeige nicht nur erforderlich, wenn die Nachkündigung - wie es in dem der Entscheidung des Senats vom 22. April 2010 (- 6 [X.] - [X.]E 134, 176) zugrunde liegenden Rechtsstreit der Fall war - im Zusammenhang mit einer weiteren Massenentlassung, etwa einer zweiten Kündigungswelle, erfolgt. § 17 Abs. 1 [X.] verpflichtet den Arbeitgeber bei [X.] Verständnis dazu, die Anzeige vor der „beabsichtigten“ Entlassung, dh. Kündigungserklärung, zu erstatten. Die Kündigung kann daher erst erklärt werden, wenn die Massenentlassungsanzeige erfolgt ist (vgl. [X.] 27. Januar 2005 - [X.]/03 - [[X.]] Rn. 46 ff., Slg. 2005, [X.]). Darum muss vor jeder Kündigungserklärung, die Teil einer Massenentlassung ist, für alle von dieser Entlassung erfassten Arbeitnehmer eine Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit erfolgen (vgl. [X.] 22. April 2010 - 6 [X.] - Rn. 14, 19 f., aaO). Ist die Kündigungserklärung abgegeben, kann keine wirksame Anzeige mehr erstattet werden. Erfolgt im selben Betrieb iSv. § 17 [X.] eine weitere Kündigung wie die des Arbeitsverhältnisses des [X.] vom 22. April 2013 innerhalb der 30-Tages-Frist und damit in dem von der [X.] und § 17 [X.] geforderten zeitlichen Zusammenhang mit der Massenentlassung, ist für sie vor Abgabe der Kündigungserklärung eine eigenständige Massenentlassungsanzeige erforderlich. In einem solchen Fall stellt auch die (Nach-)Kündigung eines einzelnen Arbeitnehmers einen anzeigepflichtigen Tatbestand dar. In der Praxis ist insoweit eine Nachmeldung des später gekündigten Arbeitnehmers an die zuständige [X.] erforderlich. Es handelt sich - anders als etwa bei der Kündigung eines einzelnen Arbeitnehmers in einem anderen, weit entfernten Betrieb (vgl. dazu [X.] 30. April 2015 - [X.]/14 - [[X.] und [X.]] Rn. 64) - um einen Tatbestand, auf den die Anzeigepflicht zugeschnitten ist. Auch eine solche Kündigung eines einzelnen Arbeitnehmers löst wegen des zeitlichen Zusammenhangs mit anderen Entlassungen, die den Schwellenwert überschreiten, die sozioökonomischen Folgen aus, die die Anzeigepflicht auffangen soll. Dieses Verständnis liegt bereits den Ausführungen des Senats zur - im konkreten Fall wegen Verstreichens der 30-Tages-Frist dann verneinten - Anzeigepflicht zur Nachkündigung von Arbeitnehmern mit Sonderkündigungsschutz zugrunde ([X.] 25. April 2013 - 6 [X.] - Rn. 154 f.).

cc) Entgegen der Ansicht des [X.]s und der Revision gilt die Anzeigepflicht für die Nachkündigung auch dann, wenn wie im vorliegenden Fall die beabsichtigte Entlassung des Arbeitnehmers angezeigt und die durch diese Anzeige ermöglichte Kündigung erklärt worden, aber später im Einvernehmen mit dem Arbeitnehmer zurückgenommen worden ist.

(1) Die einvernehmliche Rücknahme der Kündigung vom 9. April 2013 führte nicht dazu, dass diese Kündigung als nicht erklärt anzusehen war und darum die zweite Kündigung vom 22. April 2013 noch von der Anzeige vom 8. April 2013 erfasst wurde.

(a) Die Gestaltungswirkung der Kündigungserklärung als rechtsvernichtendes (negatives) Gestaltungsrecht tritt zwar schon unmittelbar mit ihrem Zugang ein. Das Gestaltungsrecht wird durch seine Ausübung verbraucht. Die dadurch eingetretene Änderung des Rechtsverhältnisses kann grundsätzlich nicht einseitig ungeschehen gemacht, dh. nicht mit [X.] beseitigt, sondern nur durch rechtsgeschäftliches Zusammenwirken beider Parteien rückgängig gemacht oder abgeändert werden ([X.] 21. März 2013 - 6 [X.] - Rn. 15). Auch dann wird die Kündigung jedoch nicht „gegenstandslos“ in dem Sinne, dass die Kündigung als von vornherein nicht erklärt gilt. Es werden lediglich ihre Rechtsfolgen - gegebenenfalls mit [X.] - beseitigt.

(b) Zudem muss nach den für das Verständnis des Entlassungsbegriffs des § 17 [X.] maßgeblichen Art. 3 Abs. 1 iVm. Art. 4 Abs. 2 der [X.] die Anzeige vor Abgabe der anzeigepflichtigen Kündigungserklärung erstattet werden. Daran fehlt es bei Kündigungen der vorliegenden Art. Die Massenentlassungsanzeige vom 8. April 2013 war für die am 9. April 2013 umgesetzte Kündigungsentscheidung erstattet. Die durch diese Anzeige eröffnete Kündigungsmöglichkeit war durch die tatsächlich erklärte Kündigung vom 9. April 2013 verbraucht (vgl. [X.] 22. April 2010 - 6 [X.] - Rn. 14, [X.]E 134, 176). Hinsichtlich der neuen Kündigungsentscheidung war bereits darum eine erneute Anzeige erforderlich.

(2) Das Erfordernis einer erneuten Massenentlassungsanzeige (Nachmeldung) hinsichtlich des innerhalb von 30 Tagen nachgekündigten Arbeitnehmers ist auch dann keine unnütze [X.], wenn eine frühere beabsichtigte Kündigung der Arbeitsverwaltung angezeigt worden war. Ein Verständnis des § 17 Abs. 1 iVm. § 18 Abs. 4 [X.], dass in einer solchen Situation eine erneute Anzeige bzw. Nachmeldung des Arbeitnehmers nicht erforderlich sei, verstieße gegen das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung dieser Vorschriften. Dann wären Vorratsmeldungen und -kündigungen möglich, die die Pflichten des Arbeitgebers bei Massenentlassungen verringerten und ihm das Risiko von Fehlern im Verfahren nach § 17 [X.], die die Unwirksamkeit der Kündigung nach sich ziehen, weitgehend abnähmen. Das wäre mit dem Ziel eines einheitlichen Mindestschutzniveaus bei Massenentlassungen, das mit der [X.] verfolgt wird, nicht zu vereinbaren. Die Unternehmen sollen nicht von unterschiedlichen Schutzstandards und sich daraus ergebenden niedrigeren Belastungen bei Massenentlassungen profitieren (vgl. [X.] 30. April 2015 - [X.]/14 - [[X.] und [X.]] Rn. 62 f.). Genau solche Vorratsmeldungen und -kündigungen soll im Übrigen § 18 Abs. 4 [X.] verhindern (vgl. [X.] 22. April 2010 - 6 [X.] - Rn. 18, 21, [X.]E 134, 176; [X.] EWiR 2010, 683, 684). Darüber hinaus muss die Arbeitsverwaltung wissen, hinsichtlich welcher konkreten Kündigung sie ihre Bemühungen zu entfalten hat.

4. [X.] des § 4 iVm. § 7 [X.] steht entgegen der Ansicht der Revision einer Entscheidung zugunsten des [X.] nicht entgegen. Die Kündigung vom 9. April 2013 ist nicht nach dieser Bestimmung rechtswirksam geworden, sondern entfaltet aufgrund ihrer einvernehmlichen Rücknahme keine Wirkung mehr.

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

        

    Fischermeier    

        

    Spelge    

        

    Krumbiegel    

        

        

        

    Klapproth    

        

    Cl. [X.]    

                 

Meta

6 AZR 601/14

20.01.2016

Bundesarbeitsgericht 6. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Stuttgart, 17. Dezember 2013, Az: 25 Ca 3150/13, Urteil

§ 6 S 1 KSchG, § 17 Abs 3 S 2 KSchG, § 17 Abs 3 S 3 KSchG, § 17 Abs 1 KSchG, § 17 Abs 2 KSchG, § 117 Abs 2 BetrVG

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20.01.2016, Az. 6 AZR 601/14 (REWIS RS 2016, 17428)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 17428

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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