Bundesarbeitsgericht, EuGH-Vorlage vom 01.02.2024, Az. 2 AS 22/23 (A)

2. Senat | REWIS RS 2024, 318

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Gegenstand

Massenentlassung - Rechtsfolge von Fehlern im Anzeigeverfahren


Leitsatz

Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:

1. Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist?

Sofern die erste Frage bejaht wird:

2. Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügen?

3. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?

Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden:

4. Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?

Tenor

I. Der [X.] wird gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:

1. Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/[X.] vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden [X.]) dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die [X.] abgelaufen ist?

Sofern die erste Frage bejaht wird:

2. Setzt das Ablaufen der [X.] nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 [X.] genügen?

3. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der [X.] die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?

Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden:

4. Ist es mit Art. 6 [X.] vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die [X.] im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?

II. Das Anfrageverfahren nach § 45 Abs. 3 ArbGG wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.

Gründe

A. Gegenstand des Ausgangsverfahrens

1

I. Die Parteien streiten ü[X.] die Auflösung ihres Arbeitsverhältnisses durch eine ordentliche Kündigung, die der Beklagte im Dezem[X.] 2020 zum 31. März 2021 erklärt hat. Eine nach § 17 Abs. 1 [X.] erforderliche [X.] hatte er nicht erstattet. Er hat sie auch vor dem 31. März 2021 nicht nachgeholt. Für die Entscheidung des Verfahrens ist nach dem Geschäftsverteilungsplan des [X.] dessen [X.] zuständig, der die Kündigungsschutzklage des [X.] vollumfänglich abweisen möchte. Daran sieht sich der Sechste [X.] - wie er in einem Beschluss vom 14. Dezem[X.] 2023 (- 6 [X.] [B] -) im Einzelnen dargelegt hat - aus Gründen des nationalen Verfahrensrechts gehindert.

2

II. [X.] des [X.] hat bisher angenommen, dass eine ohne notwendige vorherige [X.] erklärte Kündigung nichtig (unwirksam) ist und das Arbeitsverhältnis deshalb nicht beenden kann. Demgegenü[X.] möchte der Sechste [X.] künftig die Auffassung vertreten, dass das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer nach Unionsrecht oder nationalem Recht erforderlichen [X.] keinen rechtlichen Einfluss auf die Entscheidung ü[X.] die Beendigung eines gekündigten Arbeitsverhältnisses hat. Vielmehr soll sowohl das Fehlen einer [X.] als auch deren Fehlerhaftigkeit gänzlich folgenlos bleiben. Es obliege dem [X.] Gesetzge[X.], eine „Sanktion“ für Fehler im Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen zu normieren. Diese dürfe nicht auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, sondern müsse allein auf dem Gebiet des [X.] liegen ([X.] 14. Dezem[X.] 2023 - 6 [X.] [B] - Rn. 7, 22, 32 und vor allem Rn. 35).

3

III. Das nationale Verfahrensrecht sieht ein besonderes Verfahren bei bestehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen [X.]en des [X.] vor. Nach § 45 Abs. 2 und Abs. 3 ArbGG darf ein [X.] des [X.] nur dann von der Rechtsprechung eines anderen [X.]s abweichen, wenn dieser auf eine entsprechende Anfrage seine Rechtsauffassung aufgegeben hat, oder - widrigenfalls - der Große [X.] des [X.] eine Entscheidung ü[X.] die zutreffende Beantwortung der zugrunde liegenden Rechtsfrage getroffen hat. Der Sechste [X.] hat daher mit Beschluss vom 14. Dezem[X.] 2023 (- 6 [X.] [B] -) an den [X.] die folgende Anfrage nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG gerichtet:

        

„Wird an der seit dem Urteil vom 22. Novem[X.] 2012 (- 2 [X.] -) vertretenen Rechtsauffassung festgehalten, dass eine Kündigung als Rechtsgeschäft gegen ein gesetzliches Verbot iSd. § 134 BGB verstößt und die Kündigung deshalb unwirksam ist, wenn bei ihrer Erklärung keine wirksame Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 [X.] vorliegt?“

B. Das einschlägige nationale Recht

4

I. Kündigungsschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. August 1969 ([X.] 1317):

        

„§ 17 Anzeigepflicht

        

(1) Der Arbeitge[X.] ist verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er

        

1.    

in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer,

        

2.    

in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder a[X.] mehr als 25 Arbeitnehmer,

        

3.    

in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer

        

innerhalb von 30 Kalendertagen entläßt.

        

…       

        

§ 18 [X.]

        

(1) Entlassungen, die nach § 17 anzuzeigen sind, werden vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit nur mit deren Zustimmung wirksam; die Zustimmung kann auch rückwirkend bis zum [X.] erteilt werden.

        

(2) Die Agentur für Arbeit kann im Einzelfall bestimmen, dass die Entlassungen nicht vor Ablauf von längstens zwei Monaten nach der Anzeige wirksam werden.

        

…“    

5

II. Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 ([X.] 42, [X.]. S. 2909 und [X.]2003 I S. 738):

        

„§ 134 Gesetzliches Verbot

        

Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.

        

§ 615 Vergütung bei Annahmeverzug und bei Betriebsrisiko

        

Kommt der Dienst[X.]echtigte mit der Annahme der Dienste in Verzug, so kann der Verpflichtete für die infolge des Verzugs nicht geleisteten Dienste die vereinbarte Vergütung verlangen, ohne zur Nachleistung verpflichtet zu sein.

        

…“    

6

III. Zehntes [X.] - in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Januar 2001 ([X.] 130):

        

„§ 20 Untersuchungsgrundsatz

        

(1)     

Die Behörde ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen; an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten ist sie nicht gebunden.

        

(2)     

Die Behörde hat alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu [X.]ücksichtigen.

        

…“    

        

[X.] Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts

7

Nach Auffassung des [X.]s des [X.] sind im sekundären Unionsrecht einschlägig: Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 bis Abs. 3 sowie Art. 6 [X.].

D. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs und Erörterung der Vorlagefragen

I. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs

8

1. [X.] [X.] vermag aus den nachstehend ausgeführten Gründen ohne die Durchführung eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV die an ihn gerichtete Anfrage des [X.] nicht zu beantworten.

9

a) [X.] hält es in Ü[X.]einstimmung mit dem [X.] für möglich, dass die Nichtigkeit einer ohne ordnungsgemäße [X.] erklärten Kündigung nach § 134 BGB - auch unter Beachtung der Vorgaben des Unionsrechts - eine unverhältnismäßige Rechtsfolge ist. Die dafürsprechenden Gründe hat der Sechste [X.] in seinem vorgenannten Beschluss vom 14. Dezem[X.] 2023 dargelegt (- 6 [X.] [B] - Rn. 11 ff., zur unionsrechtskonformen Auslegung insbesondere Rn. 26 ff.), worauf zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird.

b) Allerdings wird dies im [X.] Schrifttum zumindest für den Fall einer gänzlich unterbliebenen Anzeige nach wie vor anders beurteilt (Schu[X.]t/[X.] 59 S. 81, 96). Zudem erschöpft sich die Anfrage des [X.] nicht in der Beantwortung der vorstehenden Rechtsfrage nach einer aus § 134 BGB folgenden Nichtigkeit der Kündigung. [X.] hält die im [X.] formulierte Auffassung, dass das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer nach Unionsrecht oder nationalem Recht erforderlichen [X.] keinerlei rechtlichen Einfluss auf die Beendigung des gekündigten Arbeitsverhältnisses hat, für nicht mit Unionsrecht vereinbar. [X.] ist aus Sicht des [X.]s vielmehr eine differenzierte Betrachtung. Entscheidend ist, ob der Arbeitge[X.] von einer nach Unionsrecht erforderlichen [X.] gänzlich abgesehen oder eine solche erstattet hat.

aa) Erstattet der Arbeitge[X.] keine [X.], erhält die nach nationalem Recht für die Arbeitsvermittlung zuständige [X.] keine Kenntnis von den bevorstehenden Entlassungen. Dementsprechend ist sie nicht in der Lage, die notwendigen Vor[X.]eitungen für die Vermittlungsbemühungen der von der Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer einzuleiten. Für diesen Fall der gänzlich unterbliebenen [X.] möchte der [X.] die Auffassung vertreten, dass die Rechtswirkungen der vom Arbeitge[X.] ausgesprochenen Kündigung erst dann eintreten, wenn die [X.] nachträglich erstattet, das heißt nachgeholt worden ist und der [X.] die aus ihrer Sicht notwendige Vor[X.]eitungszeit für die Vermittlung zur Verfügung steht. Dieser Zeitraum bestimmt sich im nationalen Recht nach § 18 Abs. 1 und Abs. 2 [X.] (sog. [X.]). Das gekündigte Arbeitsverhältnis besteht bis zum Ablauf der [X.] mit seinen bisherigen Rechten und Pflichten fort. Die Rechtswirkungen der Kündigung treten bis zum Ablauf des Monatszeitraums des § 18 Abs. 1 [X.] oder des von der [X.] nach § 18 Abs. 2 [X.] festgesetzten Zeitpunkts nicht ein. Der Arbeitge[X.] muss dem Arbeitnehmer jedenfalls bis zum Ablauf der [X.] nach § 615 BGB die vereinbarte Vergütung fortzahlen, auch wenn er ihn nicht beschäftigt. Das gilt selbst dann, wenn das Arbeitsverhältnis aufgrund einer kürzeren Kündigungsfrist [X.]eits zu einem früheren Zeitpunkt hätte enden können. [X.] hingegen nach den Vorgaben in Art. 4 [X.] keine Möglichkeit für den Arbeitge[X.], eine zunächst unterbliebene [X.] nach Zugang der Kündigung nachzuholen und damit die [X.] zu beseitigen, käme dies der Nichtigkeit (Unwirksamkeit) der Kündigung gleich. In diesem Fall müsste der [X.] auf die Anfrage des [X.] antworten, dass er - der [X.] - an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält.

bb) Werden der [X.] die beabsichtigten Massenentlassungen angezeigt, hat der Arbeitge[X.] ein Verwaltungsverfahren eingeleitet, in dem die Vollständigkeit der [X.] von der Behörde geprüft wird. Für dieses gilt der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 20 SGB X), das heißt die [X.] ist verpflichtet, auf die Ergänzung von unvollständigen Angaben durch den Arbeitge[X.] hinzuwirken. Ü[X.] die Ordnungsgemäßheit der Anzeige und die Dauer der erforderlichen Vor[X.]eitungszeit für die bevorstehende Arbeitsvermittlung entscheidet nach nationalem Verfahrensrecht allein die [X.]. Stellt die Behörde den Ablauf der [X.] (§ 18 Abs. 1 und Abs. 2 [X.]) zu einem konkreten Datum fest, ist diese Entscheidung aus Sicht des [X.]s für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend. Letztere dürfen in diesem Fall nicht in eigener Kompetenz annehmen, die [X.] sei „eigentlich“ fehlerhaft gewesen und deshalb die [X.] (noch) nicht an- und abgelaufen.

2. Da die §§ 17, 18 [X.] von den nationalen Gerichten unionsrechtskonform auszulegen sind, ist der Regelungsgehalt von Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 bis Abs. 3 sowie Art. 6 [X.] für die Antwort des [X.]s auf die Anfrage des [X.] vom 14. Dezem[X.] 2023 entscheidungserheblich. Zwar meint der [X.], dass die vorliegenden Entscheidungen des Gerichtshofs der [X.] für sein Verständnis des maßgeblichen Unionsrechts sprechen. Der [X.] sieht jedoch die strengen Voraussetzungen eines acte clair oder acte éclairé nicht als erfüllt an, weshalb er den Gerichtshof um die Beantwortung der diesem Beschluss vorangestellten Fragen ersucht.

II. Erläuterung der ersten Vorlagefrage

1. [X.] versteht Art. 4 Abs. 1 [X.] - anders als der Sechste [X.] - so, dass das im Zug einer nach Unionsrecht anzeigepflichtigen Massenentlassung gekündigte Arbeitsverhältnis vor Ablauf der [X.] des § 18 Abs. 1 und Abs. 2 [X.] nicht beendet sein kann. Bis zu deren Ablauf sind die Wirkungen der Kündigung „ausgesetzt“ (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts [X.] vom 30. Septem[X.] 2004 - [X.]/03 - [[X.]] Rn. 68). Die [X.] wirkt insofern als „Mindestkündigungsfrist“. Das verdeutlicht Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Halbs. 2 [X.], wonach die im Fall der Einzelkündigung für die Kündigungsfrist geltenden Bestimmungen un[X.]ührt bleiben.

2. In dieser arbeitsrechtlichen Konsequenz liegt - entgegen der Auffassung des [X.] - aus Sicht des [X.]s zugleich die nach Unionsrecht gebotene und ausreichende Reaktion auf das Fehlen bzw. die Fehlerhaftigkeit einer [X.]. Es wird sichergestellt, dass die [X.] als die zuständige Behörde ausreichend Zeit hat, nach Lösungen für die durch die Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (vgl. Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 [X.]). Die betreffenden Arbeitnehmer verlieren vor Ablauf der [X.] nicht ihre „alten“ Arbeitsverhältnisse und kommen bis dahin noch nicht „auf den Arbeitsmarkt“.

III. Erläuterung der zweiten Vorlagefrage

[X.] versteht Art. 4 Abs. 1 [X.] weiter dahin, dass die dort geregelte [X.] - und damit auch die des § 18 Abs. 1 und Abs. 2 [X.] - lediglich dann an- und damit ablaufen kann, wenn die gebotene [X.] den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 [X.] entspricht. Das belegt zum einen der umfassende Verweis in Art. 4 Abs. 1 [X.] auf Art. 3 Abs. 1 [X.]. Zum anderen wird nur so der zur ersten Vorlagefrage dargestellte Zweck der [X.] erreicht, es der Behörde auf der Grundlage der erforderlichen Angaben zu ermöglichen, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (vgl. Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 [X.]).

IV. Erläuterung der dritten Vorlagefrage

1. [X.] geht davon aus, dass eine ohne gebotene (ordnungsgemäße) [X.] ausgesprochene Kündigung nicht „unrettbar“ nichtig, das heißt unwirksam sein muss. Der Zweck des [X.] wird vielmehr auch dann vollständig erreicht, wenn der Arbeitge[X.] eine - den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 [X.] entsprechende - [X.] nachholen und so die [X.] (nachträglich) beseitigen kann. Hierzu bedarf es keiner neuen Kündigung. Durch das Anlaufen der [X.] erst mit der nachgeholten Anzeige ist sichergestellt, dass der zuständigen Behörde vor der Auflösung der betreffenden Arbeitsverhältnisse in jedem Fall der durch die [X.] verkörperte Mindestzeitraum zur Verfügung steht, um auf der Grundlage der erforderlichen Angaben nach Lösungen für die durch die Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (vgl. Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 [X.]).

2. Dem steht nach Auffassung des [X.]s die Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] vom 27. Januar 2005 in der Rechtssache [X.] (- [X.]/03 -) nicht entgegen. Der Gerichtshof hat sich in dieser nicht dazu geäußert, wie der Arbeitge[X.] bei Ausspruch von Kündigungen [X.]eits vor Erstattung einer (ordnungsgemäßen) [X.] zu stellen ist. Vielmehr hat er lediglich festgehalten, dass die Kündigungen erst nach ihrer Anzeige bei der zuständigen Behörde „sanktionslos“, also unter sofortigem Anlaufen der - dann oft in den geltenden Kündigungsfristen aufgehenden - [X.] möglich sind. Demgegenü[X.] hat der Gerichtshof nicht angenommen, dass die ohne vorherige (ordnungsgemäße) Anzeige erklärten Kündigungen „unrettbar“ nichtig sein müssten. Das erscheint nach den Bestimmungen der [X.] und deren Entstehungsgeschichte ([X.] 14. Dezem[X.] 2023 - 6 [X.] [B] - Rn. 8) auch fernliegend. Richtigerweise kann die „Sanktion“ für das verspätete Erstatten einer (ordnungsgemäßen) [X.] unter anderem darin bestehen, dass die Rechtswirkungen der Kündigung vorü[X.]gehend nicht eintreten und der Arbeitge[X.] die betreffenden Arbeitnehmer nach § 615 BGB trotz grundsätzlich wirksamer Kündigung bis zum Ablauf der [X.] und damit ggf. ü[X.] den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus vergüten muss, auch wenn er sie tatsächlich nicht beschäftigt hat.

3. Lediglich klarstellend weist der [X.] - insoweit im Einklang mit dem [X.] - darauf hin, dass sich die Nachholungsmöglichkeit nicht auf das [X.] nach Art. 2 [X.] erstreckt. Ist dieses vor Ausspruch der Kündigungen gänzlich unterblieben oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden, sind (und bleiben) die Kündigungen nach § 134 BGB nichtig. Denn das [X.] dient - anders als das Anzeigeverfahren - vorrangig der Vermeidung von Kündigungen. Dieser Zweck kann durch eine Nachholung der Konsultationen im [X.] an den Ausspruch der Kündigungen nicht mehr erreicht werden. Es wäre nicht gewährleistet, dass die Beratungen von Arbeitge[X.] und Arbeitnehmervertretung zur Vermeidung von Kündigungen ergebnisoffen durchgeführt werden. Für die Arbeitnehmervertretung wäre es sehr viel schwieriger, die „Rücknahme“ einer [X.]eits erklärten Kündigung zu erreichen, als den Verzicht auf ihren lediglich geplanten Ausspruch ([X.] 27. Januar 2005 - [X.]/03 - [[X.]] Rn. 44).

V. Erläuterung der vierten Vorlagefrage

1. [X.] geht aufgrund der „alternativen“ Formulierung in Art. 6 [X.] sowie deren Erwägungsgrund 12 („administrative und/oder gerichtliche Verfahren“) davon aus, dass es ausreicht, wenn allein die nach nationalem Recht zuständige Behörde eine vom Arbeitge[X.] erstattete [X.] auf ihre Ordnungsgemäßheit hin prüft und [X.] das Ende der [X.] im konkreten Fall feststellt. Die behördliche Feststellung zum Ende der [X.] ist von den Gerichten für Arbeitssachen im Rahmen eines Streits ü[X.] die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Arbeitge[X.] als bindend zugrunde zu legen. Der Arbeitnehmer kann die behördliche Feststellung nicht mit einem gerichtlichen Rechtsbehelf anfechten. Das folgt nach Auffassung des [X.]s aus der rein arbeitsmarktpolitischen Ausrichtung des [X.]. Dieses schützt - anders als das [X.] - primär den Arbeitsmarkt und die zuständige Behörde. Demgegenü[X.] ist der Arbeitnehmer bloß reflexhaft betroffen. Er soll sein „altes“ Arbeitsverhältnis erst verlieren, nachdem es der zuständigen Behörde auf der Grundlage der erforderlichen Angaben möglich war, nach Lösungen für die durch die Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (vgl. Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 [X.]). Sieht die Behörde sich diesbezüglich ausreichend informiert, haben der Arbeitnehmer und die Gerichte dies zu akzeptieren.

2. Zwar hat der Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 5. Okto[X.] 2023 (- [X.]/22 - [Brink’s Cash Solutions] Rn. 45) ausgeführt, Art. 6 [X.] gebe den Mitgliedstaaten vor, einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz für die Arbeitnehmervertreter und/oder Arbeitnehmer zu gewährleisten. Doch geht der [X.] davon aus, dass diese Vorgabe sich allein auf das [X.] nach Art. 2 [X.] bezieht, an dem keine Behörde beteiligt ist, und das - anders als das Anzeigeverfahren gemäß Art. 3 und Art. 4 [X.] - unmittelbar dem (kollektiven) Schutz der betroffenen Arbeitnehmer im Sinn einer möglichen Vermeidung von Kündigungen (siehe oben Rn. 19) dient. Ein anderes Verständnis wäre auch mit der aufgezeigten „alternativen“ Formulierung von Art. 6 und Erwägungsgrund 12 [X.] („administrative und/oder gerichtliche Verfahren“) nicht zu vereinbaren.

        

    Koch    

        

    Schlünder    

        

    Niemann    

        

        

        

    K. Schierle    

        

    Söller    

                 

Meta

2 AS 22/23 (A)

01.02.2024

Bundesarbeitsgericht 2. Senat

EuGH-Vorlage

Sachgebiet: AS

vorgehend ArbG Hamburg, 20. April 2021, Az: 5 Ca 656/20, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, EuGH-Vorlage vom 01.02.2024, Az. 2 AS 22/23 (A) (REWIS RS 2024, 318)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 318

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