Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.06.2021, Az. XIII ZB 71/20

13. Zivilsenat | REWIS RS 2021, 4766

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Gegenstand

Aufenthalt von Familien mit Kindern im Transitbereich eines Flughafens: Verlängerung der Aufenthaltsanordnung für ein Kind in der Asylbewerberunterkunft eines Flughafens zwecks Zurückweisung


Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 29. Zivilkammer des [X.] vom 26. August 2020 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene, ein zu diesem Zeitpunkt knapp siebenjähriger algerischer Staatsangehöriger, traf am 9. Januar 2020 zusammen mit seinen Eltern und zwei älteren minderjährigen Geschwistern mit einem Flug aus [X.] im Transitbereich des [X.] ein. Da er einen algerischen Reisepass mit einem [X.] Visum mit sich führte, verweigerte ihm die beteiligte Behörde mit Verfügung vom 10. Januar 2020 die Einreise in die [X.]. In der Folgezeit stellten seine Eltern für ihn einen Asylantrag, der mit Bescheid des [X.] (fortan: [X.]) vom 16. Januar 2020 als unzulässig abgelehnt wurde; zugleich ordnete das [X.] die Überstellung des Betroffenen nach [X.] zur Durchführung des Asylverfahrens an. Die hiergegen und gegen die Einreiseverweigerung gerichteten Anträge des Betroffenen auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschlüssen vom 7. Februar 2020 ab.

2

Nach vorangegangenen einstweiligen Anordnungen ordnete das Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde mit Beschluss vom 12. Februar 2020 den Aufenthalt des Betroffenen und seiner Familie in der Asylbewerberunterkunft des Flughafens bis zum 26. Februar 2020 an. Die für den 26. Februar 2020 geplante Überstellung scheiterte, weil die Mutter des Betroffenen beim Besteigen des Flugzeugs Widerstand leistete und seine Schwester über das Vorfeld wegzulaufen versuchte, sodass der Pilot die Mitnahme der Familie verweigerte.

3

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 26. Februar 2020 den Aufenthalt des Betroffenen in der Asylbewerberunterkunft des Flughafens bis zum 10. März 2020 verlängert. Die dagegen gerichtete, nach der Abreise am 5. März 2020 mit einem Feststellungsantrag fortgesetzte Beschwerde des Betroffenen hat das [X.] zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt dieser sein Begehren weiter.

4

II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.

5

1. Das Beschwerdegericht meint, die Voraussetzungen für die Verlängerung des Aufenthalts des Betroffenen in der Asylbewerberunterkunft des Flughafens nach § 15 Abs. 6 [X.] hätten vorgelegen und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei gewahrt worden.

6

2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung stand. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde war die Verlängerung der Anordnung bis zum 10. März 2020 rechtmäßig.

7

a) Zutreffend hat das Beschwerdegericht angenommen, dass ein generelles Verbot der Anordnung des Aufenthalts von Familien mit Kindern im Transitbereich eines Flughafens nicht besteht ([X.], Beschluss vom 25. August 2020 - [X.]/19, [X.] 2021, 73 Rn. 9 mwN).

8

b) Ebenfalls zu Recht hat das Beschwerdegericht angenommen, dass die Verlängerung des [X.] des Betroffenen nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt.

9

aa) Es ist zutreffend davon ausgegangen, dass dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Anordnung von Freiheitsbeschränkungen in Form der Anordnung des Aufenthalts in einer [X.] gegenüber Minderjährigen aufgrund der Schwere des Eingriffs besondere Bedeutung zukommt. Dies folgt aus einer Übertragung der für die Abschiebungshaft gesetzlich geregelten Vorgaben. So ordnet § 62 Abs. 1 Satz 3 [X.] im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der [X.] an, dass Familien mit Minderjährigen nur in besonderen Ausnahmefällen und nur so lange in Abschiebungshaft genommen werden dürfen, wie es unter Berücksichtigung des Kindeswohls angemessen ist. Nach § 62a Abs. 1 Satz 2 und 3 [X.] sind Angehörige einer Familie im Rahmen der Abschiebungshaft getrennt von den übrigen [X.] unterzubringen und ist ihnen ein angemessenes Maß an Privatsphäre zu gewährleisten. Der besonderen Verletzlichkeit minderjähriger Abschiebungsgefangener trägt § 62a Abs. 3 [X.] Rechnung, wonach deren alterstypischen Belange zu berücksichtigen sind und allgemein der Situation schutzbedürftiger Personen besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist. Bei der Anordnung des Aufenthalts in einer [X.] gemäß § 15 Abs. 6 [X.] sind diese Grundsätze - unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit - ebenfalls zu beachten, wobei die Prüfung des Gerichts wie bei der Anordnung von Abschiebungshaft auf bereits im Zeitpunkt der Anordnung bestehende oder absehbare strukturelle Defizite beschränkt ist (vgl. [X.], [X.] 2021, 73 Rn. 12 mwN).

bb) Nach diesen Maßstäben erweist sich die Verlängerung des Aufenthalts des Betroffenen nicht als unverhältnismäßig.

(1) Ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unter dem Gesichtspunkt bestehender oder im Zeitpunkt der Verlängerung absehbarer struktureller Defizite der Unterbringung des Betroffenen liegt nicht vor. Nach den Feststellungen des [X.] standen dem Betroffenen und seiner Familie in der Asylbewerberunterkunft des [X.] ein abschließbares Familienzimmer in einem separaten Bereich, ausreichende und auch altersgerechte Spiel-, Sport- und Beschäftigungsmöglichkeiten, frei zugängliche Telefone für Gespräche mit Freunden und Verwandten, Räume zur Relig-ionsausübung, zu jeder Zeit [X.] und psychologische Betreuung sowie medizinische Versorgung zur Verfügung.

(2) Die Verlängerung der Aufenthaltsanordnung bis zum 10. März 2020 war auch in zeitlicher Hinsicht verhältnismäßig. Sie war nach dem Scheitern der für den 26. Februar 2020 geplanten Überstellung des Betroffenen und seiner Familie erforderlich. Eine Rückführung des Betroffenen lediglich zusammen mit seinem Vater war nicht möglich, weil der Pilot die Beförderung der gesamten Familie verweigerte. Zudem wäre eine Trennung der Familie für den Betroffenen im Hinblick auf Art. 6 [X.] weniger angemessen gewesen als eine Verlängerung des Aufenthalts in der Asylbewerberunterkunft von zwölf Tagen. Angesichts der Tatsache, dass dem Betroffenen beide Elternteile als Betreuungspersonen zur Verfügung standen und er sich in der [X.] befand, war die Anordnung auch im Hinblick auf die Gesamtdauer des Aufenthalts in der [X.] von zwei Monaten verhältnismäßig.

3. [X.] beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

[X.]     

      

Schmidt-Räntsch     

      

Roloff

      

Picker     

      

Rombach     

      

Meta

XIII ZB 71/20

22.06.2021

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Frankfurt, 26. August 2020, Az: 2-29 T 72/20

§ 15 Abs 6 AufenthG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.06.2021, Az. XIII ZB 71/20 (REWIS RS 2021, 4766)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 4766

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