Bundesfinanzhof, Urteil vom 10.01.2013, Az. V R 47/11

5. Senat | REWIS RS 2013, 9134

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sachentscheidung trotz fehlender Sachentscheidungsvoraussetzungen - Anhängigkeit des Einspruchsverfahrens bei Teilabhilfebescheid - Notwendigkeit einer Untätigkeitsrüge


Leitsatz

NV: Entscheidet das FG in der Sache, obwohl das FA über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf nicht vollständig abschließend entschieden hat, so ist das FG-Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen, damit dieses auf die Erfüllung der Voraussetzungen für eine Sachentscheidung hinwirken kann .

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), ein Landkreis, beantragte mit Schreiben vom 12. Oktober 2009 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) die Abzweigung von Kindergeld aus dem Kindergeldanspruch der Beigeladenen. Die Beigeladene ist Mutter einer Tochter, die als Schwerbehinderte einen Behinderungsgrad von 100 v.H. aufweist.

2

Die Familienkasse lehnte den Antrag auf Abzweigung ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch hatte insoweit Erfolg, als die Familienkasse für die Monate November und Dezember 2009 eine monatliche Abzweigung von 82 € und für den Zeitraum ab Januar 2010 eine Abzweigung von 92 € an den Kläger durch "[X.]" vom 20. Januar 2011 anordnete und dabei darauf hinwies, dass dem Einspruch damit in vollem Umfang entsprochen werde. Eine weiter gehende Einspruchsentscheidung erfolgte nicht.

3

Mit der Klage zum Finanzgericht ([X.]) machte der Kläger einen weitergehenden Anspruch auf Abzweigung geltend. Das [X.] sah die Klage mit den in "Entscheidungen der Finanzgerichte" 2012, 1360 veröffentlichten Gründen als zulässig, aber unbegründet an. Zur Zulässigkeit der Klage führte das [X.] an, dass der Kläger im Verwaltungsverfahren die Abzweigung des Kindergeldes beantragt habe, ohne diesen Antrag betragsmäßig zu beschränken. Auch im Einspruchsverfahren sei keine Einschränkung des Begehrens erfolgt. Dies bedeute, dass der Antrag des [X.] auf die vollständige Abzweigung des Kindergeldes gerichtet gewesen sei. Die Familienkasse habe zwar den [X.] demgegenüber nur auf den Teilbetrag des Kindergeldes bezogen, der nach ihrer Einschätzung unter Berücksichtigung der Unterhaltsaufwendungen der [X.] abgezweigt werden könnte. Hierauf deute der Hinweis in dem [X.] vom 20. Januar 2011 hin, dass dem Einspruch in vollem Umfang entsprochen worden sei. Dies ändere aber nichts daran, dass der [X.] des [X.] insoweit abgelehnt worden sei, als die im gerichtlichen Verfahren noch streitigen Beträge von monatlich 58 € und ab Januar 2010 von monatlich 68 € nicht an ihn abgezweigt wurden. Diese Auslegung des § 44 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) werde durch die Rechtsprechung des [X.] ([X.]) bestätigt. Danach sei das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren auch dann i.S. des § 44 Abs. 1 [X.]O erfolglos geblieben, wenn die Einspruchsentscheidung der Sache nach unvollständig sei, wie sich aus dem [X.]-Urteil vom 27. September 2001 [X.] 134/98 ([X.]E 196, 400, [X.], 176) ergebe. Diese Unvollständigkeit liege vor, wenn das Einspruchsbegehren teilweise übergangen werde, wie sich aus dem [X.]-Urteil vom 10. Mai 2007 III R 67/06 ([X.]/NV 2007, 2063) ergebe. So liege der Fall hier, da die Familienkasse das weiterreichende Abzweigungsverlangen des [X.] unbeabsichtigt übergangen habe. Dem Kläger stehe aber der weitergehend geltend gemachte Anspruch auf Abzweigung nicht zu.

4

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Revision, die er auf die Verletzung materiellen Rechts stützt. Das Urteil stehe nicht im Einklang mit § 74 Abs. 1 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Sein Anspruch auf Abzweigung werde willkürlich reduziert. Die Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion lägen nicht vor.

5

Der Kläger beantragt,
das Urteil des [X.] aufzuheben und die Zurückverweisung des Rechtstreits an das [X.].

6

Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

8

II. Auf die Revision des [X.] war das Urteil des [X.] aufzuheben und die Sache an das [X.] zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 [X.]O). Das [X.] hat zu Unrecht in der Sache entschieden, obwohl mangels abgeschlossenen Vorverfahrens (§ 44 [X.]O) die Klage unzulässig war.

9

1. Ist gegen einen Steuerbescheid --hier den Bescheid über die Abzweigung von Kindergeld, für den als Entscheidung über eine Steuervergütung dieselben Vorschriften gelten (vgl. BFH-Urteil vom 25. Juli 2001 VI R 18/99, [X.], 260, [X.], 81)-- ein außergerichtlicher Rechtsbehelf gegeben, so ist eine Klage gegen den Bescheid vorbehaltlich der §§ 45 und 46 [X.]O nur zulässig, wenn das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf erfolglos geblieben ist (§ 44 Abs. 1 [X.]O).

a) Ein außergerichtliches Vorverfahren muss zwar nicht zwangsläufig mit einer Einspruchsentscheidung beendet werden. Eine Erledigung des [X.] tritt jedoch nur dann ein, wenn die Behörde dem Antrag des Einspruchsführers u.a. durch Änderung des Bescheids (§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a der Abgabenordnung --AO--) in vollem Umfang entspricht.

Ob dies der Fall ist, ergibt ein Vergleich zwischen dem Antrag im Einspruchsverfahren und der Regelung im Abhilfebescheid. Dabei ist der Antrag des Einspruchsführers im Zeitpunkt der Bekanntgabe des [X.] maßgebend (z.B. [X.] vom 30. Oktober 2003 VI B 83/03, [X.] 2004, 356).

Dagegen wird auch durch eine unvollständige Rechtsbehelfsentscheidung das außergerichtliche Vorverfahren in der nach dem Gesetz erforderlichen Weise förmlich abgeschlossen (BFH-Urteile in [X.] 2007, 2063; in [X.], 400, [X.], 176, m.w.N.).

b) Liegt nur ein [X.] vor, der dem Antrag des Einspruchsführers nicht in vollem Umfang entspricht, bleibt das Einspruchsverfahren --entgegen der Auffassung des [X.] im [X.] weiter anhängig (z.B. [X.] in [X.] 2004, 356, m.w.N.). Der [X.] wird nach § 365 Abs. [X.] automatisch Gegenstand des [X.]. Hierdurch soll verhindert werden, dass der Einspruchsführer ohne Einlegung eines neuen Rechtsbehelfs aus dem [X.] gedrängt wird. Eines weiteren Einspruchs gegen den [X.] bedarf es nicht. Bei einer Teilabhilfe ist jedoch über den nicht erledigten Teil des Einspruchs noch durch eine förmliche Einspruchsentscheidung zu entscheiden (z.B. [X.] in [X.] 2004, 356, m.w.N.).

2. Nach diesen Grundsätzen ist die Klage im Streitfall nach § 44 Abs. 1 [X.]O nicht zulässig.

a) Die Familienkasse hat im Streitfall --wie sich aus der dem Bescheid vom 20. Januar 2011 und dessen Rechtsbehelfsbelehrung ergibt-- keine Einspruchsentscheidung, sondern lediglich einen Abhilfebescheid erlassen, der --wie das [X.] insoweit zu Recht entschieden hat-- dem Begehren des [X.] nicht in vollem Umfang entspricht.

b) Eine abweichende Beurteilung folgt nicht aus § 46 [X.]O. Nach dieser Vorschrift ist zwar eine Klage ohne vorherigen [X.] des Vorverfahrens zulässig, wenn über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes nicht innerhalb einer angemessenen Frist sachlich entschieden worden ist. Jedoch kann eine vor Abschluss des Vorverfahrens erhobene Klage nur dann nach § 46 Abs. 1 Satz 1 [X.]O zulässig sein, wenn spätestens bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem [X.] die Untätigkeit der Finanzbehörde gerügt wird (BFH-Urteile vom 17. Mai 1985 III R 213/82, [X.], 509, BStBl II 1985, 521; vom 24. April 2007 I R 33/06, [X.] 2007, 2236, unter [X.]). Dass im Streitfall eine solche Rüge erhoben worden ist, hat weder das [X.] festgestellt noch hat der Kläger Entsprechendes vorgetragen.

c) Dem steht auch nicht das vom [X.] für seine Auffassung angeführte BFH-Urteil in [X.], 400, [X.], 176 entgegen, da dieses auf der Besonderheit beruht, dass die Behörde in diesem Fall während eines über zwei Jahre dauernden Beschwerdeverfahrens von der "Möglichkeit der Selbstkontrolle" keinen Gebrauch gemacht hat, so dass die Annahme, es fehle an einem förmlichen Abschluss des Verfahrens dazu geführt hätte, dass Rechtsschutz nur unter erschwerten Voraussetzungen in Anspruch genommen werden könnte. Damit ist der Streitfall nicht vergleichbar.

Gegenteiliges ergibt sich nicht aus dem vom [X.] für seine Auffassung angeführten BFH-Urteil in [X.] 2007, 2063. Dieses betrifft nur die Fallgestaltung, dass eine Einspruchsentscheidung vorliegt, diese aber einen Streitpunkt übergeht.

3. Das [X.] ist von anderen Grundsätzen ausgegangen. Es hätte über die Klage nicht in der Sache entscheiden dürfen, sondern hätte vielmehr zunächst der Familienkasse Gelegenheit geben müssen, über den Einspruch zu entscheiden. Versäumt das [X.] dies und erlässt es stattdessen eine Sachentscheidung, so ist sein Urteil wegen Verletzung des § 44 Abs. 1 [X.]O aufzuheben (BFH-Urteile in [X.] 2007, 2236, m.w.N.; vom 21. Juli 1987 IX R 80/83, [X.] 1988, 213). Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Die Sache ist an das [X.] zurückzuverweisen, damit dieses auf die Erfüllung der Voraussetzungen für eine Sachentscheidung hinwirken kann.

4. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1 [X.]O. Über die Kosten der Beigeladenen, die keinen Antrag gestellt hat, war nicht zu entscheiden.

Meta

V R 47/11

10.01.2013

Bundesfinanzhof 5. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 10. November 2011, Az: 5 K 196/11, Urteil

§ 44 Abs 1 FGO, § 46 Abs 1 S 1 FGO, § 367 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 10.01.2013, Az. V R 47/11 (REWIS RS 2013, 9134)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 9134

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

III R 24/15 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld: Kein Einspruch gegen die in der Einspruchsentscheidung enthaltene Kostenentscheidung - Beschwer als Voraussetzung für …


III R 39/12 (Bundesfinanzhof)

Abzweigung des Kindergelds - Erstattung von Kosten im Vorverfahren


III R 8/14 (Bundesfinanzhof)

(Kindergeld - Kein Einspruch gegen die in der Einspruchsentscheidung enthaltene Kostenentscheidung - Unrichtigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung …


III R 31/14 (Bundesfinanzhof)

Kostenerstattung für Einspruch gegen die Erstattung von Kindergeld an einen Sozialleistungsträger


III R 18/21 (Bundesfinanzhof)

Keine Kostenerstattungspflicht im Kindergeldverfahren bei erfolgreichem Rechtsbehelf gegen Hinterziehungszinsen


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.