Bundesfinanzhof, Urteil vom 26.06.2014, Az. III R 39/12

3. Senat | REWIS RS 2014, 4568

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Gegenstand

Abzweigung des Kindergelds - Erstattung von Kosten im Vorverfahren


Leitsatz

Soweit der Einspruch des Kindes gegen die Ablehnung der beantragten Abzweigung des Kindergelds an sich selbst erfolgreich ist, ist die Regelung über die Erstattung von Kosten im Vorverfahren gemäß § 77 EStG analog anwendbar.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) begehrt die Erstattung von Kosten im Vorverfahren (§ 77 des Einkommensteuergesetzes --EStG--). Sie hatte zunächst erfolglos die Abzweigung des an ihren Vater für sie gezahlten Kindergelds beantragt. Hiergegen legte die Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, Einspruch ein. Der Einspruch war erfolgreich. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) gab dem [X.] mit Abhilfebescheid vom ... August 2011 in vollem Umfang statt. Gleichzeitig lehnte sie die Erstattung der im Einspruchsverfahren entstandenen Kosten ab. Der Einspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom ... Oktober 2011).

2

Das Finanzgericht ([X.]) gab der hiergegen erhobenen Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 1945 veröffentlichten Urteil vom 18. Juli 2012  12 K 3884/11 Kg statt. Es erachtete § 77 EStG über den Wortlaut der Vorschrift hinaus auch beim Einspruch in [X.] für anwendbar. Zur Begründung führte es aus, dass vor der Neuregelung des Kindergeldrechts durch das Jahressteuergesetz ([X.]) 1996 vom 11. Oktober 1995 ([X.] 1995, 1250, [X.], 438) die Vorschrift des § 63 des [X.] ([X.]) einen solchen Anspruch zugelassen habe und nach der Gesetzesbegründung zu § 77 EStG (BTDrucks 13/1558, S. 162) insofern keine Änderung zu Lasten der Berechtigten beabsichtigt gewesen sei. In der Sache bestünden keine Gründe, einen solchen Anspruch zu verweigern. Auch der Ausnahmecharakter des § 77 EStG stehe einer erweiternden Auslegung nicht entgegen, da das Kindergeldrecht innerhalb des Einkommensteuerrechts eine Sonderstellung einnehme. Das [X.] erachtete ferner die Zuziehung eines Bevollmächtigten für notwendig.

3

Die Familienkasse macht mit ihrer Revision geltend, die Auslegung des § 77 EStG durch das [X.] sei vom Wortlaut nicht mehr gedeckt; eine Regelungslücke liege nicht vor.

4

Die Familienkasse beantragt, das Urteil des [X.] Münster vom 18. Juli 2012  12 K 3884/11 Kg aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.

6

Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 i.V.m. § 121 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

Entscheidungsgründe

7

I[X.] Die Familienkasse ... der [X.] ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der [X.] Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der [X.], Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff.) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Familienkasse ... eingetreten (vgl. Urteil des [X.] --BFH-- vom 22. August 2007 [X.], [X.], 533, [X.], 109, unter I[X.]1.).

II[X.]

8

Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 [X.]O). Das [X.] hat --jedenfalls im [X.] zu Recht entschieden, dass die Familienkasse der Klägerin deren Kosten (notwendige Aufwendungen, Gebühren und Auslagen des Prozessbevollmächtigten) für den erfolgreichen Einspruch gegen die Ablehnung der Abzweigung zu erstatten hat (§ 77 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 EStG analog).

9

1. Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG sind Kosten im Vorverfahren zu erstatten, soweit der Einspruch gegen die Kindergeldfestsetzung erfolgreich ist. Die Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG gehört zwar nicht zum [X.], sondern zum Auszahlungsverfahren, das dem Erhebungsverfahren entspricht (Senatsurteil vom 26. August 2010 III R 21/08, [X.], 520, [X.], 583). § 77 EStG ist aber in Fällen vorliegender Art analog anzuwenden.

Die analoge Anwendung einer Rechtsnorm setzt eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit voraus. Eine solche Lücke liegt vor, wenn eine Regelung gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d.h. ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht (BFH-Urteil vom 12. Dezember 2002 III R 33/01, [X.], 379, [X.] 2003, 322, m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben (so im Ergebnis auch die wohl überwiegende Auffassung im Fachschrifttum, vgl. [X.] in [X.]/[X.]/ [X.], § 77 EStG Rz 2; [X.]/[X.], [X.], Kommentar, Fach A, [X.] Kommentierung, § 77 Rz 5; Greite in Korn, § 77 EStG Rz 4; [X.]/[X.], EStG, 33. Aufl., § 77 Rz 1; [X.] in [X.], EStG, § 77 EStG Rz 2; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], Kommentar, § 77 Rz 4, soweit der Kindergeldberechtigte [X.] ist; dagegen [X.] in [X.], EStG, [X.] 2011, § 77 Rz 4; [X.]/[X.], Kindergeldrecht, EStG § 77 Rz 2; so wohl auch [X.], in: [X.][X.], EStG, § 77 Rz B 3; nur den Meinungsstreit darstellend [X.]/ Treiber, § 77 EStG Rz 4; Reuß in [X.]/[X.], § 77 EStG Rz 5 ff.).

a) Eine Gesetzeslücke liegt vor.

Bis zum 31. Dezember 1995 galt hinsichtlich der Kostenerstattung für Widerspruchsverfahren gegen Entscheidungen der Kindergeldkasse § 63 [X.] § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X bestimmt, dass --soweit der Widerspruch erfolgreich ist-- der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Auslagen zu erstatten hat. In § 63 Abs. 2 SGB X heißt es, dass die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren erstattungsfähig sind, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist zwar auf das Widerspruchsverfahren (vgl. §§ 83 ff. des Sozialgerichtsgesetzes) beschränkt, nicht aber auf bestimmte Verfahrensgegenstände. Er erfasste daher auch Rechtsbehelfe im Zusammenhang mit der Abzweigung des Kindergelds nach § 48 Abs. 1 des [X.], einer dem § 74 Abs. 1 EStG entsprechenden Regelung.

Mit der Neuregelung der einkommensteuerrechtlichen Kindergeldvorschriften durch das [X.] 1996 wurde § 77 EStG in das EStG aufgenommen. Ausweislich der Gesetzesmaterialien zu § 77 EStG war beabsichtigt, eine dem § 63 SGB X entsprechende Vorschrift zu schaffen (BTDrucks 13/1558, S. 162). Gleichwohl regelt das Gesetz die Erstattungspflicht nicht allgemein für Einspruchsverfahren in Kindergeldangelegenheiten, sondern setzt einen Einspruch gegen eine Kindergeldfestsetzung voraus. Nicht gesetzlich geregelt ist damit, ob auch bei einem erfolgreichen Einspruch des Kindes gegen eine Abzweigungsentscheidung nach § 74 Abs. 1 EStG Kosten nach § 77 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EStG zu erstatten sind.

b) Das Fehlen einer solchen Regelung für Fälle vorliegender Art stellt eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes dar, die zu schließen ist, indem das abzweigungsberechtigte Kind eine Erstattung seiner Kosten für das Einspruchsverfahren nach § 77 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EStG analog beanspruchen kann.

Denn der Gesetzgeber wollte eine Schlechterstellung gegenüber dem bisherigen Recht vermeiden (so ausdrücklich BTDrucks 13/1558, S. 162). Die (eindeutig) erkennbare Absicht des Gesetzgebers bestand daher darin, die Erstattung von Kosten für das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren in Kindergeldangelegenheiten an die bis zum 31. Dezember 1995 geltende Rechtslage anzugleichen.

2. Einer analogen Anwendung des § 77 EStG stehen auch nicht die Senatsbeschlüsse vom 9. Dezember 2010 III B 115/09 ([X.], 434) und vom 25. August 2009 III B 245/08 ([X.] 2009, 1989) entgegen. Beiden Entscheidungen lagen Fälle zugrunde, in denen es [X.] als im [X.] an einem erfolgreichen Einspruch fehlte.

Meta

III R 39/12

26.06.2014

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Münster, 18. Juli 2012, Az: 12 K 3884/11 Kg, Urteil

§ 74 Abs 1 EStG 2009, § 77 EStG 2009, § 63 SGB 10

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 26.06.2014, Az. III R 39/12 (REWIS RS 2014, 4568)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 4568

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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