Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.05.2017, Az. XII ZB 18/17

12. Zivilsenat | REWIS RS 2017, 10796

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Gegenstand

Betreuungsverfahren: Anhörung eines Betroffenen durch das Beschwerdegericht im Verfahren zur Anordnung oder Verlängerung der Betreuung; Bestellung eines Verfahrenspflegers für die Übergabe des Gutachtens


Leitsatz

1. Das Beschwerdegericht darf im Verfahren zur Anordnung oder Verlängerung der Betreuung nicht von der Anhörung des Betroffenen absehen, wenn das Amtsgericht auf eine Anhörung des Betroffenen verzichtet hat, weil dieser schon im Vorfeld des Anhörungstermins mitgeteilt hatte, er wolle in Ruhe gelassen werden (Abgrenzung zu Senatsbeschluss vom 11. Mai 2016, XII ZB 363/15, FamRZ 2016, 1350).

2. Sieht das Gericht im Betreuungsverfahren in berechtigter Weise von der vollständigen schriftlichen Bekanntgabe eines Gutachtens an den anwaltlich nicht vertretenen Betroffenen ab, muss ein Verfahrenspfleger bestellt, diesem das Gutachten übergeben werden und die Erwartung gerechtfertigt sein, dass der Verfahrenspfleger mit dem Betroffenen über das Gutachten spricht (im Anschluss an Senatsbeschlüsse vom 8. Juni 2011, XII ZB 43/11, FamRZ 2011, 1289 und vom 22. Februar 2017, XII ZB 341/16, juris).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des [X.] vom 8. Dezember 2016 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des [X.], an das [X.] zurückverwiesen.

Wert: 5.000 €

Gründe

I.

1

Für die im Jahre 1959 geborene Betroffene ist auf Antrag ihres Ehemanns ein Betreuungsverfahren eingeleitet worden. Das Amtsgericht hat das Gutachten eines Sachverständigen eingeholt, der eine bipolare affektive Störung diagnostiziert und die Einrichtung einer Betreuung für erforderlich gehalten hat. Von der Bekanntgabe dieses Gutachtens an die Betroffene hat das Amtsgericht auf Empfehlung des Sachverständigen abgesehen und einen Anhörungstermin bestimmt. Nachdem die Betroffene dem Amtsgericht mitgeteilt hatte, sie wolle in Ruhe gelassen werden, sonst werde sie eine Anzeige wegen Mobbings erstatten, hat das Amtsgericht ohne Anhörung einen Berufsbetreuer für den Aufgabenkreis Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung und Vermögenssorge bestellt und für die Vermögenssorge einen Einwilligungsvorbehalt angeordnet. Die Beschwerde der Betroffenen hat das [X.] ohne weitere Ermittlungen zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich ihre Rechtsbeschwerde.

II.

2

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

3

1. Das [X.] hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, bei der Betroffenen lägen nach dem Sachverständigengutachten die medizinischen Voraussetzungen für die Einrichtung einer Betreuung vor. Der Einwilligungsvorbehalt sei geboten. Von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen werde abgesehen, obwohl sie erstinstanzlich nicht angehört worden sei. Denn dies habe allein darauf beruht, dass sie jegliche Kommunikation verweigert und sogar mit einer Strafanzeige gedroht habe. [X.] ein Betroffener beim erstinstanzlichen Anhörungstermin die Kommunikation mit dem [X.], ergebe sich allein hieraus keine Verpflichtung des [X.] zur erneuten Anhörung.

4

2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

5

a) Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das [X.] die Betroffene nicht angehört hat.

6

aa) Gemäß § 278 Abs. 1 Satz 1 und 2 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der (erstmaligen) Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Allerdings darf das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG von der persönlichen Anhörung absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Diese Voraussetzungen liegen hier schon deswegen nicht vor, weil das Amtsgericht die Betroffene nicht angehört hat.

7

Die vom [X.] für das Absehen von der Anhörung gegebene Begründung ist rechtsfehlerhaft. Zwar ist das Beschwerdegericht nicht gehalten, den Betroffenen erneut anzuhören, wenn er sich im Rahmen der erstinstanzlichen Anhörung geweigert hat, mit dem [X.] zu kommunizieren, und zu erwarten steht, er werde auch in einer erneuten Anhörung nicht mitwirken (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Mai 2016 - [X.] 363/15 - FamRZ 2016, 1350 Rn. 11). Grund hierfür ist, dass der Amtsrichter sich dann einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen verschafft und seiner Amtsermittlungspflicht genügt hat. So liegt es hier jedoch mangels durchgeführten Anhörungstermins gerade nicht.

8

bb) [X.] war auch nicht durch § 34 Abs. 3 FamFG gerechtfertigt. Zwar kann das Betreuungsgericht nach dieser Vorschrift, deren Anwendung auch im Rahmen von § 278 FamFG nicht ausgeschlossen ist, in bestimmten Fallkonstellationen das Verfahren ohne persönliche Anhörung des Betroffenen beenden. Da die Anhörung in [X.] aber nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern auch der Sachverhaltsaufklärung dient, darf das Betreuungsgericht grundsätzlich nur nach § 34 Abs. 3 FamFG verfahren, wenn und soweit die gemäß § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen unverhältnismäßig ist und zudem alle zwanglosen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, den Betroffenen anzuhören bzw. sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen (Senatsbeschluss vom 12. Oktober 2016 - [X.] 246/16 - FamRZ 2017, 142 Rn. 9 mwN).

9

Diesen Anforderungen genügt das Verfahren des [X.] nicht. Das [X.] hat sich nicht auf § 34 Abs. 3 FamFG gestützt. Im Übrigen sind hier auch keine Umstände ersichtlich, die eine Unverhältnismäßigkeit der Vorführung begründen könnten (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 12. Oktober 2016 - [X.] 246/16 - FamRZ 2017, 142 Rn. 12 mwN).

b) Darüber hinaus macht die Rechtsbeschwerde zutreffend geltend, dass das [X.] den Anspruch der Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat, indem es sich auf das Sachverständigengutachten gestützt hat, ohne der Betroffenen hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

Zwar kann von der vollständigen schriftlichen Bekanntgabe eines Gut-achtens abgesehen werden, wenn zu besorgen ist, die Bekanntgabe werde die Gesundheit des Betroffenen schädigen oder zumindest ernsthaft gefährden. In einem solchen Fall muss jedoch dem anwaltlich nicht vertretenen Betroffenen ein Verfahrenspfleger bestellt werden, diesem das Gutachten übergeben werden und die Erwartung gerechtfertigt sein, dass der Verfahrenspfleger mit dem Betroffenen über das Gutachten spricht (Senatsbeschluss vom 8. Juni 2011 - [X.] 43/11 - FamRZ 2011, 1289 Rn. 8 mwN; vgl. zum Unterbringungsverfahren Senatsbeschluss vom 22. Februar 2017 - [X.] 341/16 - juris Rn. 11).

Diesen rechtlichen Vorgaben sind die Vorinstanzen nicht gerecht geworden, indem sie der Empfehlung des Sachverständigen folgend der anwaltlich nicht vertretenen Betroffenen das Gutachten nicht ausgehändigt haben, ohne ihr gemäß § 276 BGB einen Verfahrenspfleger zu bestellen.

3. Da sich nicht ausschließen lässt, dass das [X.] nach Anhörung der Betroffenen sowie Bestellung und ordnungsgemäßer Beteiligung eines Verfahrenspflegers zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an das [X.] zurückzuverweisen.

Dose     

      

[X.]     

      

Schilling

      

Nedden-Boeger     

      

Guhling     

      

Meta

XII ZB 18/17

17.05.2017

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Koblenz, 8. Dezember 2016, Az: 2 T 887/16

§ 34 Abs 3 FamFG, § 68 Abs 3 S 2 FamFG, § 276 FamFG, § 278 Abs 1 S 1 FamFG, § 278 Abs 1 S 2 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.05.2017, Az. XII ZB 18/17 (REWIS RS 2017, 10796)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 10796

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