Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.04.2023, Az. XII ZB 289/22

12. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 3357

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Gegenstand

Betreuungsverfahren: Gehörsverletzung bei Nichtteilnahme eines Verfahrenspflegers an der Anhörung des Betroffenen


Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 8. Zivilkammer des [X.] vom 20. Juni 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des [X.], an das [X.] zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Eine Festsetzung des [X.] (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.

Gründe

I.

1

Die 1939 geborene und an einer dementiellen Erkrankung leidende Betroffene wendet sich gegen die Einrichtung einer Betreuung.

2

Im Jahr 2012 erteilte die Betroffene einem engeren Bekannten, dem Beteiligten zu 2, eine Vorsorgevollmacht in den Bereichen Gesundheitssorge und damit verbundenen vermögensrechtlichen Angelegenheiten sowie der Aufenthaltsbestimmung einschließlich der Entscheidung über eine Unterbringung und über unterbringungsähnliche Maßnahmen. Im Rahmen einer Betreuungsverfügung bestimmte sie ergänzend, den Beteiligten zu 2 als Betreuer einzusetzen und auf keinen Fall einen vom Gericht bestellten Betreuer zu wünschen.

3

Das Amtsgericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und persönlicher Anhörung der Betroffenen eine Betreuung mit umfassendem Aufgabenkreis eingerichtet und einen Berufsbetreuer bestellt. Gegen diese Entscheidung hat die Betroffene durch eine für das Beschwerdeverfahren beauftragte [X.] Beschwerde eingelegt. Das [X.] hat die Betreuung auf die Aufgabenbereiche Vermögenssorge, Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post sowie Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten beschränkt und statt des [X.] einen Neffen der Betroffenen, den Beteiligten zu 1, zum ehrenamtlichen Betreuer bestellt. Die weitergehende Beschwerde hat es zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen, mit der sie in erster Linie die Aufhebung der [X.], hilfsweise die Bestellung des Beteiligten zu 2 zum Betreuer erreichen will.

II.

4

Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht. Die angefochtene Entscheidung hält den Verfahrensrügen der Rechtsbeschwerde nicht stand.

5

1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das [X.] nicht von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen hätte absehen dürfen.

6

a) Nach § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflichten aus § 278 Abs. 1 FamFG bestehen nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Senats voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (vgl. Senatsbeschluss vom 22. Juni 2022 - [X.] 200/21 - [X.] 2022, 1110 Rn. 7 mwN).

7

b) Die Voraussetzungen, unter denen das [X.] von einer erneuten persönlichen Anhörung der Betroffenen hätte absehen dürfen, sind im vorliegenden Fall schon deshalb nicht gegeben, weil die Anhörung in erster Instanz nicht verfahrensfehlerfrei erfolgt ist.

8

aa) Denn das Amtsgericht hat die Betroffene angehört, ohne zuvor einen Verfahrenspfleger bestellt zu haben. Dies beanstandet die Rechtsbeschwerde zu Recht als verfahrensfehlerhaft.

9

Muss dem Betroffenen ein Verfahrenspfleger zur Seite gestellt werden, hat das Betreuungsgericht durch dessen rechtzeitige Bestellung und dessen Benachrichtigung vom Anhörungstermin sicherzustellen, dass dieser an der Anhörung des Betroffenen teilnehmen kann. Erfolgt die Anhörung dennoch ohne die Möglichkeit einer Beteiligung des Verfahrenspflegers, ist sie verfahrensfehlerhaft und verletzt den Betroffenen in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. Senatsbeschlüsse vom 15. Mai 2019 - [X.] 57/19 - FamRZ 2019, 1356 Rn. 8 und vom 14. Februar 2018 - [X.] 465/17 - FamRZ 2018, 705 Rn. 7).

Ausnahmsweise gilt nur dann etwas anderes, wenn das Gericht vor der Anhörung des Betroffenen die Erforderlichkeit der Bestellung eines Verfahrenspflegers nicht erkennen konnte und aus diesem Grunde daran gehindert war, den Verfahrenspfleger schon vor der abschließenden Anhörung des Betroffenen zu bestellen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 15. Mai 2019 - [X.] 57/19 - FamRZ 2019, 1356 Rn. 9 und vom 14. Februar 2018 - [X.] 465/17 - FamRZ 2018, 705 Rn. 8). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier offensichtlich nicht vor. Sowohl die Stellungnahme der Betreuungsbehörde vom 8. Februar 2022 als auch der Inhalt des in erster Instanz eingeholten Gutachtens des Sachverständigen S. hatten schon vor der Durchführung der erstinstanzlichen Anhörung die Annahme nahegelegt, dass sich die [X.] des Amtsgerichts - wie geschehen - auf einen Aufgabenkreis erstrecken kann, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung der Betroffenen umfasst. Unter diesen Umständen war gemäß § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG aF die Bestellung eines Verfahrenspflegers für die in erster Instanz anwaltlich nicht vertretene Betroffene zwingend geboten (vgl. Senatsbeschluss vom 5. Mai 2021 - [X.] 510/20 - FamRZ 2021, 1239 Rn. 6 mwN).

bb) Die Anhörung durch das Amtsgericht war darüber hinaus auch deshalb verfahrensfehlerhaft, weil - wie die Rechtsbeschwerde mit Recht rügt - der Betroffenen das Sachverständigengutachten nicht vor der Anhörung überlassen worden war.

Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine [X.] grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Davon kann nur ausnahmsweise unter den Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 288 Abs. 1 FamFG abgesehen werden (vgl. Senatsbeschluss vom 3. Februar 2021 - [X.] 415/20 - FamRZ 2021, 889 Rn. 8).

Vorliegend ergibt sich aus der Verfahrensakte nicht, dass das vor der Anhörung eingeholte Sachverständigengutachten während des amtsgerichtlichen Verfahrens überhaupt an die Betroffene übermittelt wurde. Zwar verweist der Sachverständige darauf, dass bei einer Übermittlung des schriftlichen Gutachtens an die Betroffene wegen der darin enthaltenen Diagnose einer dementiellen Erkrankung mit einer „gesundheitlichen Dekompensation“ der Betroffenen zu rechnen wäre und ihr deshalb nur mitgeteilt werden solle, sie leide an „Altersvergesslichkeit“ oder „Altersgebrechlichkeit“. Ob das Amtsgericht aus diesem Grunde von einer Bekanntgabe des Gutachtens abgesehen hat, lässt sich der Akte nicht eindeutig entnehmen. Selbst wenn dies aber der Fall gewesen sein sollte, hätte für das Amtsgericht erst recht Veranlassung bestanden, zur Wahrung des rechtlichen Gehörs einen Verfahrenspfleger für die Betroffene zu bestellen, damit dieser mit der Betroffenen über das Gutachten spricht (vgl. Senatsbeschluss vom 3. Februar 2021 - [X.] 415/20 - FamRZ 2021, 889 Rn. 8).

2. Die angegriffene Entscheidung kann daher keinen Bestand haben. Sie ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen.

a) Die Zurückverweisung gibt dem Beschwerdegericht zugleich die Gelegenheit, den Beteiligten zu 2 persönlich anzuhören. Der Tatrichter wird die Gründe, die der Bestellung einer vom Betroffenen vorgeschlagenen Person zum Betreuer möglicherweise entgegenstehen, in der Regel nur dann verlässlich feststellen können, wenn er der Person Gelegenheit gegeben hat, zu diesen Gründen Stellung zu nehmen. Es verstößt gegen den Amtsermittlungsgrundsatz, wenn der Tatrichter in seiner Entscheidung ausdrücklich die Eignung der vom Betroffenen gewünschten Person als Betreuer oder dessen Redlichkeit gegenüber dem Betroffenen in Zweifel zieht und sich hierbei auf Mitteilungen Dritter beruft, ohne zuvor die als Betreuer vorgeschlagene Person zu den von [X.] mitgeteilten Tatsachen anzuhören (vgl. Senatsbeschlüsse vom 20. März 2019 - [X.] 334/18 - FamRZ 2019, 1004 Rn. 20 und vom 15. Dezember 2010 - [X.] 165/10 - FamRZ 2011, 285 Rn. 17). Werden - wie hier im Zusammenhang mit dem Verdacht eigennütziger Verwendung hoher Geldbeträge aus dem Vermögen der Betroffenen - gravierende Vorwürfe gegen die zum Betreuer vorgeschlagene Person erhoben, ist regelmäßig eine persönliche Anhörung dieser Person geboten (vgl. Senatsbeschluss vom 15. Dezember 2010 - [X.] 165/10 - FamRZ 2011, 285 Rn. 17; vgl. auch Senatsbeschluss vom 17. Februar 2016 - [X.] 499/15 - juris Rn. 29 zum Vorsorgebevollmächtigten).

b) Für das weitere Verfahren weist der Senat zudem darauf hin, dass eine Anordnung zur Entscheidung über die Postangelegenheiten nach § 1815 Abs. 2 Nr. 6 BGB - wie bereits unter der Geltung des früheren Rechts - nur dann erfolgen kann, wenn und soweit eine Kontrolle der Kommunikation erforderlich ist, um dem Betreuer die Erfüllung der ihm übertragenen [X.] in der gebotenen Weise zu ermöglichen und damit eine erhebliche Gefährdung von wesentlichen Rechtsgütern des Betroffenen abzuwenden. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist durch konkrete tatrichterliche Feststellungen zu belegen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 19. April 2023 - [X.] 462/22 - zur Veröffentlichung bestimmt und vom 21. Oktober 2020 - [X.] 153/20 - FamRZ 2021, 385 Rn. 23 ff.).

3. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.

Guhling     

  

Klinkhammer     

  

Nedden-Boeger

  

Botur     

  

Pernice     

  

Meta

XII ZB 289/22

26.04.2023

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Oldenburg (Oldenburg), 20. Juni 2022, Az: 8 T 204/22

§ 278 Abs 1 FamFG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.04.2023, Az. XII ZB 289/22 (REWIS RS 2023, 3357)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 3357

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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