Bundessozialgericht, Beschluss vom 31.10.2012, Az. B 13 R 165/12 B

13. Senat | REWIS RS 2012, 1774

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - nicht rechtskundig vertretener Beteiligter - Versäumung der Berufungsfrist nach irrtümlich erfolgter zweiter Zustellung des Gerichtsbescheids - Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren - Anspruch - gerichtliche Hinweispflicht - Verschulden


Leitsatz

Stellt das Gericht seine Entscheidung innerhalb der Berufungsfrist irrtümlich erneut zu, ist nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn sie die Berufungsfrist nach der zweiten Zustellung berechnet haben.

Tenor

Das Urteil des [X.] vom 20. März 2012 wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten im Zugunstenverfahren über die Höhe der dem Kläger gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ([X.]).

2

Der im Jahre 1969 geborene Kläger ist blind. Seit 1.11.1987 bezog er eine Invalidenrente aus der Sozialversicherung der [X.]. Diese Rente wurde zum [X.] umgewertet und wird seither als Rente wegen [X.] gezahlt (anfänglicher monatlicher Zahlbetrag 962,29 [X.] nebst [X.] von 197,77 [X.]; Bescheid [X.] vom 2.12.1991).

3

Der im Juli 2002 gestellte Überprüfungsantrag des [X.], mit dem er die Weiterzahlung seiner Invalidenrente unter Dynamisierung des [X.] ab Januar 1992 begehrte, blieb erfolglos (Bescheid vom 15.11.2006; Widerspruchsbescheid vom 19.3.2007). Das [X.] hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 21.11.2007 abgewiesen, weil die Beklagte die Rente zutreffend berechnet habe. Auch unter Berücksichtigung des [X.] und des [X.] stehe dem Kläger kein weitergehender Vertrauensschutz zu.

4

Der Gerichtsbescheid vom 21.11.2007 wurde erstmals mit Postzustellungsurkunde am [X.] und [X.] mit Postzustellungsurkunde am 1.12.2007 zugestellt. Mit Schriftsatz vom [X.], der am selben Tag beim [X.] eingegangen ist, hat der Kläger Berufung eingelegt und ausgeführt, dass er im [X.]raum vom 11.11.2007 bis zum 19.12.2007 im Ausland gewesen sei. Den Gerichtsbescheid habe er am 20.12.2007 in seinem Briefkasten vorgefunden. Wie die Zustellung des [X.] erfolgt sei, sei für ihn nicht nachvollziehbar gewesen. Das [X.] hat nach umfangreichen Sachverhaltsermittlungen (zum Grund der doppelten Zustellung beim [X.], zum tatsächlichen [X.]punkt des Zugangs des [X.]) die Berufung des [X.] als unzulässig verworfen (Urteil L[X.]-Brandenburg vom 20.3.2012).

5

Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe die Monatsfrist nach Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 151 Abs 1 S[X.]) versäumt. Die Zustellung sei rechtswirksam am [X.] erfolgt. Die Berufungsfrist habe am [X.] (§ 64 Abs 2 S[X.]) geendet; folglich sei die Berufung am [X.] verspätet eingelegt worden und daher unzulässig (§ 158 [X.] S[X.]). Der Gerichtsbescheid sei ausweislich der [X.] durch Einlegen in den zur Wohnung des [X.] gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung zugestellt worden (§ 63 Abs 2 [X.] S[X.] iVm § 180 ZPO). Der [X.] (§ 202 S[X.] iVm §§ 418, 182 Abs 1 S 2 ZPO; Hinweis auf Senatsbeschluss vom 13.11.2008 - [X.] R 138/07 B) sei nicht widerlegt. Denn eine Falschbeurkundung sei nicht nachgewiesen. Hieran änderten auch die widersprüchlichen Ausführungen der Familienangehörigen über den Zugang des [X.] während des Urlaubs des [X.] nichts.

6

Der vom Kläger gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Berufungsfrist sei abzulehnen. Denn selbst unter Berücksichtigung seiner urlaubsbedingten Abwesenheit bis zum 19.12.2007 hätte noch ausreichend [X.] bestanden, um die Berufung fristgerecht bis zum [X.] einzulegen. Der Kläger habe selbst zu vertreten, dass er die Berufungsschrift erst am [X.] beim [X.] eingereicht habe. Er habe die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer [X.] gelassen (§ 276 Abs 2 BGB), weil er die Berufung unverzüglich nach Kenntnisnahme von der Entscheidung hätte einlegen müssen.

7

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger Verfahrensmängel geltend. Er rügt "die Verletzung der Amtsermittlungspflicht und Verfahrensführung" und weist darauf hin, dass er blind und auf die Hilfe anderer Personen beim [X.] bzw Schreiben angewiesen sei.

8

II. Auf die Beschwerde des [X.] war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen. Der Kläger hat formgerecht (vgl § 160a Abs 2 S 3 S[X.]) und auch in der Sache zutreffend gerügt (§ 160 Abs 2 [X.] S[X.]), dass das [X.] die Berufung des [X.] nicht als unzulässig hätte verwerfen dürfen. Vielmehr war es gehalten, dem Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist stattzugeben und in der Sache über den geltend gemachten Anspruch auf eine höhere Rente wegen [X.] im Zugunstenverfahren zu entscheiden. Dadurch hat das [X.] die Vorschriften von §§ 67, 151 S[X.] verletzt.

9

Nach § 151 S[X.] ist die Berufung bei dem [X.] innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen (Abs 1). Die Frist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem [X.] schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird (Abs 2 [X.]).

1. Zutreffend hat das Berufungsgericht festgestellt, dass der Kläger die einmonatige Berufungsfrist 151 Abs 1 und 2 S[X.]) versäumt hat, als er erst am [X.] Berufung eingelegt hat. Denn die Zustellung des [X.], dem eine zutreffende Rechtsmittelbelehrung (§ 66 Abs 1 S[X.]) beigefügt war, ist bereits am [X.] wirksam durch Einlegen in den zur Wohnung des [X.] gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung erfolgt. Zum Nachweis der Zustellung ist eine Urkunde ordnungsgemäß angefertigt worden (§ 63 Abs 2, § 105 Abs 1 S 3, § 133 S[X.], § 178 Abs 1 [X.], §§ 180, 182 ZPO).

2. Dem Kläger war jedoch entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ihn trifft kein Verschulden (§ 67 Abs 1 S[X.]) an der Versäumung der Berufungsfrist.

Das [X.] sieht ein Verschulden des [X.] darin, dass er nach Urlaubsrückkehr und Kenntnisnahme vom Gerichtsbescheid am 20.12.2007 die verbleibende [X.] der laufenden Berufungsfrist (bis [X.]) nicht genutzt hat, um die Berufung einzulegen.

Dieser Ansicht vermag der Senat nicht zu folgen. Denn die vom [X.] aus unerklärlichen Gründen veranlasste zweite Zustellung des [X.] an die Beteiligten mit der erneuten Rechtsmittelbelehrung, dass die Berufung "innerhalb eines Monats nach Zustellung des [X.]" einzulegen ist, musste bei dem nicht anwaltlich vertretenen Kläger den Eindruck erwecken, dass er der zweiten, neueren Belehrung folgen durfte (vgl [X.] vom 26.10.1994 - [X.] - [X.], 680 mwN bei irrtümlicher zweiter Urteilszustellung an einen Anwalt).

Dies mag allenfalls dann anders gesehen werden, wenn die erneute Zustellung erst nach Ablauf der Berufungsfrist erfolgt.

Die irrtümliche zweite Zustellung des [X.] hat der Kläger nicht verschuldet und hieraus kann ihm auch kein Nachteil entstehen. Unter Berücksichtigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren darf ein Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (vgl [X.] 60, 1, 6 f; 69, 381, 386; 75, 183, 190; [X.] vom [X.] - 1 BvR 448/06 - NZS 2011, 133). Zudem ist es zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (vgl [X.] 78, 123, 126 f). Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn die Fristversäumnis auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich des Gerichts liegen (vgl [X.] 93, 99, 114 f; B[X.] [X.] 3-1500 § 67 [X.] mwN). Dies ist hier der Fall.

Es bestand entgegen der Ansicht des [X.] keine Rechtspflicht, die Berufung bis spätestens [X.] einzulegen. Auch insofern hat der Kläger die im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt eines gewissenhaften Prozessführenden (vgl dazu B[X.]E 61, 213, 214 = [X.] 1500 § 67 [X.]8 S 42; B[X.] [X.] 3-1500 § 67 [X.] mwN) nicht außer [X.] gelassen. Denn gesetzlich eingeräumte Fristen dürfen grundsätzlich bis zum letzten Tag ausgeschöpft werden, ohne dass Nachteile bei der Gewährung effektiven Rechtsschutzes drohen (vgl [X.] 40, 42, 44; 41, 323, 328; 74, 220, 224; [X.] vom [X.] - 1 BvR 448/06 - NZS 2011, 133). Der Kläger durfte aber darauf vertrauen, dass aufgrund der zweiten Zustellung des [X.] am 1.12.2007 die Berufungsfrist am [X.] endete. Denn er ist erst im Berufungsverfahren über die Maßgeblichkeit der ersten Zustellung informiert worden. Der Kläger hat die versäumte Rechtshandlung (Einlegung der Berufung am [X.]) damit auch innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses nachgeholt (§ 67 Abs 2 S 3 S[X.]).

3. Wenn sich der Erfolg der Beschwerde auch bereits aus den oben dargelegten Gründen ergibt, weist der Senat auf Folgendes hin:

Das [X.] hätte den Kläger nach § 4 Abs 2 S 2 der seit [X.] geltenden Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren (Zugänglichmachungsverordnung - ZMV vom [X.], [X.]) auf seinen Anspruch hinweisen müssen, die Zugänglichmachung des [X.] verlangen zu können. Gemäß § 202 S[X.] iVm § 191a Abs 1 [X.] GVG kann eine blinde oder sehbehinderte Person nach Maßgabe der ZMV verlangen, dass ihr die für sie bestimmten gerichtlichen Dokumente auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich ist. Der Anspruch umfasst [X.], die im gerichtlichen Verfahren einer blinden oder sehbehinderten Person (berechtigte Person) zuzustellen sind (§ 2 Abs 1 [X.] iVm § 1 Abs 1 ZMV). Zwar bleiben die Vorschriften über die Zustellung von Dokumenten unberührt (§ 2 Abs 2 ZMV). Die Folgen von Fristversäumnissen können aber nach Maßgabe der Bestimmungen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand behoben werden (vgl Begründung zum Entwurf der ZMV, [X.] - zu § 7, [X.]2). Unterbleibt ein nach dieser Rechtslage gebotener Hinweis, so tritt ein in der eigenen Sphäre des Berechtigten liegendes zusätzliches Verschulden bei Prüfung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinter das gerichtliche Verschulden zurück (vgl B[X.] [X.] 4-1500 § 160a [X.] RdNr 6).

4. Nach alledem hätte das [X.] die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen; vielmehr musste es dem Wiedereinsetzungsantrag entsprechen. Auf diesem Verfahrensmangel beruht auch die Entscheidung des [X.]. Der Senat kann die materielle Rechtsprüfung des Anspruchs auf höhere Rente wegen [X.] im Zugunstenverfahren nicht in diesem Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ersetzen, weil es an hinreichenden berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen fehlt (§ 163 S[X.]). Das [X.] hat zur Begründetheit der Berufung nicht - auch nicht ergänzend - Stellung genommen. Die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen erlauben dem Senat aber keine sichere Beurteilung der Erfolgsaussichten des Berufungsverfahrens. Daher war es geboten, gemäß § 160a Abs 5 S[X.] das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

5. Das [X.] wird auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 13 R 165/12 B

31.10.2012

Bundessozialgericht 13. Senat

Beschluss

Sachgebiet: R

vorgehend SG Berlin, 21. November 2007, Az: S 13 R 3420/07

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 67 Abs 1 SGG, § 66 Abs 1 SGG, § 63 Abs 2 SGG, § 105 Abs 1 S 3 SGG, § 133 SGG, § 178 Abs 1 Nr 1 ZPO, § 180 ZPO, § 182 ZPO, § 151 Abs 1 SGG, § 158 S 1 SGG, § 202 SGG, § 191a Abs 1 S 1 GVG, § 1 Abs 1 ZMV, § 2 Abs 1 S 1 ZMV, § 2 Abs 2 ZMV, § 4 Abs 2 S 2 ZMV

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 31.10.2012, Az. B 13 R 165/12 B (REWIS RS 2012, 1774)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 1774

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