Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.05.2020, Az. 2 StR 7/20

2. Strafsenat | REWIS RS 2020, 1451

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Gegenstand

Sexueller Missbrauch von Kindern und Schutzbefohlenen: Strukturierung der Beweiswürdigung im Strafurteil; Eigentümlichkeiten in Sprache und Gedankenführung


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 26. August 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

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Die den Feststellungen zugrundeliegende Beweiswürdigung hält – auch unter Berücksichtigung des beschränkten revisionsgerichtlichen [X.] (vgl. nur [X.], Urteil vom 18. September 2008 – 5 [X.], [X.], 401, 402) – sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

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1. Nach den Feststellungen missbrauchte der Angeklagte seinen im Dezember 2008 geborenen [X.]in drei Fällen sexuell. Die [X.] stützt dies allein auf die Angaben des Jungen bei seiner ersten polizeilichen Vernehmung, die dieser später widerrufen hat. Dabei hat sich die [X.] hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des [X.] und der Glaubhaftigkeit seiner Angaben sachverständig beraten lassen.

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2. In Fällen, in denen – wie hier – Aussage gegen Aussage steht, hat der [X.] in ständiger Rechtsprechung besondere Anforderungen an die Darlegung einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung formuliert. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen (vgl. [X.], Beschluss vom 22. April 1987 – 3 [X.], [X.]R StPO § 261 Beweiswürdigung 1; Beschluss vom 22. April 1997 – 4 [X.], [X.]R StPO § 261 Beweiswürdigung 13; Senat, Urteil vom 3. Februar 1993 – 2 StR 531/92, [X.]R StGB § 177 Abs. 1 Beweiswürdigung 15; Urteil vom 6. April 2016 – 2 [X.], Rn. 11) und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Beschluss vom 30. August 2012 – 5 [X.], [X.], 19; Senat, Urteil vom 6. April 2016 – 2 [X.], Rn. 11 mwN). Erforderlich sind vor allem eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage ([X.], Beschluss vom 21. April 2005 – 4 [X.], [X.], 232, 233), eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs (vgl. [X.], Urteil vom 10. April 2003 – 4 [X.], Rn. 8), sowie eine Prüfung von [X.], Detailliertheit und Plausibilität der Angaben (Senat, Urteil vom 7. März 2012 – 2 StR 565/11, Rn. 9; Urteil vom 7. Februar 2018 – 2 [X.], Rn. 8).

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3. Den sich hieraus ergebenden Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Insbesondere ist die Würdigung des eingeholten Glaubwürdigkeitsgutachtens widersprüchlich und lückenhaft.

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a) Ausweislich der in die Urteilsgründe einkopierten Auszüge aus dem schriftlich abgefassten aussagepsychologischen Gutachten (welches die Sachverständige „entsprechend mündlich inhaltlich referiert“ habe), hat die Sachverständige ausgeführt, dass die Nullhypothese, die Angaben von M.     enthielten keine hinreichenden Hinweise auf eine Erlebnisfundiertheit und dementsprechende Glaubwürdigkeit, nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zurückgewiesen werden könne. Es seien erhebliche Einschränkungen in seinem Bemühen um die Objektivität seiner Angaben erkennbar und er zeige die Bereitschaft zu Falschaussagen. Dies begründe nachhaltige Zweifel an seiner Zeugentauglichkeit.

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b) Hierzu führen die Urteilsgründe sodann aus: „Den grundsätzlichen Darlegungen der Sachverständigen nicht zu folgen, hatte die Kammer keine Veranlassung. Wie bereits ausgeführt, geht die Kammer davon aus, dass das geschädigte Kind jedenfalls noch bei seiner ersten Befragung […], da völlig unbeeinflusst und teils spontan mit unerwarteten Details aufwartend sowie unter Schilderung von originellen Details und Interaktionen, von tatsächlich mit dem Angeklagten erlebten sexuellen Erfahrungen berichtet hat.“ Dies lässt besorgen, dass die [X.] das Ergebnis der aussagepsychologischen Begutachtung missverstanden und folglich unzutreffend in eine Gesamtwürdigung einbezogen hat, oder dass sie sich ohne inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gutachten über dessen Ergebnis hinweggesetzt hat. Beides ist rechtsfehlerhaft. Zwar ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Tatrichter eine von einem Sachverständigengutachten abweichende eigene Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben des Belastungszeugen vornimmt, denn er ist im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung stets zu einer eigenen Beurteilung verpflichtet. Weicht der Tatrichter mit seiner Beurteilung von einem Sachverständigengutachten ab, muss er sich jedoch konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen und seine Auffassung tragfähig sowie nachvollziehbar begründen, um zu belegen, dass er mit Recht das bessere Fachwissen für sich in Anspruch nimmt, nachdem er zuvor glaubte, sachverständiger Beratung zu bedürfen (st. Rspr., vgl. nur [X.], Beschluss vom 16. September 2008 – 3 [X.], Rn. 5 mwN). Jedenfalls dies ist im gegebenen Fall nicht in ausreichender Weise geschehen.

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4. Der Rechtsfehler nötigt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den Feststellungen. Die Sache bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung.

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5. Der Senat merkt an:

a) Eine wörtliche Wiedergabe umfangreicher Vernehmungsprotokolle in den Urteilsgründen allein auf der Grundlage von Vorhalten gegenüber dem jeweiligen Vernehmungsbeamten ist schon für sich genommen rechtlich bedenklich. Mit Blick auf den Inhalt der über mehrere Seiten referierten Angaben des [X.] auf entsprechende Fragen des Vernehmungsbeamten ([X.] bis 19) besteht im vorliegenden Fall ferner Anlass zu dem Hinweis, dass die Wertung des [X.], die Mitteilungen des Geschädigten (gegenüber dem Vernehmungsbeamten) seien „teils überraschend und spontan erfolgt und daher glaubhaft“, näherer Erläuterung bedurft hätte.

b) Der neue Tatrichter wird Gelegenheit haben, ein auch im Übrigen den Anforderungen des § 267 StPO genügendes Strafurteil abzufassen (zur gebotenen Klarheit in Sprache und Darstellung vgl. [X.]/[X.], [X.], 29. Aufl., Rn. 207 ff., 228 ff.). Insbesondere bei einer umfangreicheren Beweiswürdigung ist darauf Bedacht zu nehmen, diese durch eine erkennbare Struktur – etwa eine Gliederung – klar und nachvollziehbar zu machen; ist eine Beweiswürdigung unstrukturiert, kann allein dies den Bestand eines Urteils gefährden ([X.], Beschluss vom 12. August 1999 – 3 StR 271/99). Die schriftlichen Urteilsgründe sollen in allgemein verständlicher und sachlicher Form abgefasst sein (Senat, Urteil vom 3. Dezember 2008 – 2 [X.], [X.], 103, 104). Ein klarer sprachlicher Ausdruck dient – wie eine Gliederung – der notwendigen intersubjektiven Vermittelbarkeit der bestimmenden Beweisgründe (vgl. bereits [X.], Beschluss vom 18. April 1994 – 5 StR 160/94, [X.], 400; vgl. auch Senat, Beschluss vom 11. März 2020 – 2 [X.], Rn. 4). So finden auch Eigentümlichkeiten in Sprache und Gedankenführung in tatrichterlichen Urteilen (hier z.B. [X.] mittlerer Absatz) ihre Grenzen in den aus den §§ 261, 267 StPO folgenden gesetzlichen Anforderungen.

[X.]     

      

[X.]     

      

Eschelbach

      

Zeng     

      

Meyberg     

      

Meta

2 StR 7/20

19.05.2020

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Gera, 26. August 2019, Az: 2 KLs 11/19

§ 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.05.2020, Az. 2 StR 7/20 (REWIS RS 2020, 1451)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1451

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