Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.01.2021, Az. 4 StR 405/20

4. Strafsenat | REWIS RS 2021, 9350

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Strafverfahren: Inbegriff der Hauptverhandlung bei Erstattung eines Gutachtens


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 2. April 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen „bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwölf Fällen, vorsätzlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 154 Fällen“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt und die Einziehung des Wertes von Taterträgen angeordnet. Ferner hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet und ausgesprochen, dass von der [X.] vorweg zu vollziehen sind. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten erzielt mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

2

Die Nachprüfung des Urteils hat zum Schuld- und Strafausspruch sowie zur Einziehungsentscheidung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Jedoch hält der [X.] rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

3

1. Das [X.] hat das Vorliegen eines Hanges im Sinne des § 64 StGB nicht tragfähig begründet.

4

a) Für die Annahme eines Hanges im Sinne des § 64 StGB ist nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger [X.] von [X.] ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschlüsse vom 27. August 2019 - 4 StR 330/19, Rn. 8; vom 18. Juli 2019 - 4 StR 80/19, insoweit nicht abgedruckt in NStZ-RR 2019, 275 und vom 17. Mai 2018 - 3 [X.], Rn. 12; jeweils mwN). Die Annahme einer [X.] Gefährdung oder [X.] Gefährlichkeit kommt nicht nur dann in Betracht, wenn der Betroffene Rauschmittel in einem solchen Umfang zu sich nimmt, dass seine Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit dadurch erheblich beeinträchtigt werden, sondern auch bei Beschaffungskriminalität ([X.], Beschluss vom 27. September 2018 - 4 StR 276/18, [X.], 261, 262).

5

b) Gemessen hieran halten die Ausführungen zum Vorliegen eines Hanges im Sinne des § 64 Satz 1 StGB rechtlicher Überprüfung nicht stand, denn sie sind lückenhaft.

6

Das [X.] hat sich die Ausführungen des Sachverständigen zum Vorliegen eines Hanges vollumfänglich zu eigen gemacht. Dessen wertende Ausführungen hat es in den Urteilsgründen dahin wiedergegeben, dass auf der Grundlage der Angaben des Angeklagten „vom Vorliegen eines zumindest schädlichen Gebrauchs multipler Substanzen“ auszugehen sei und daher ein Hang im Sinne des § 64 StGB vorliege; einschränkend hat der Sachverständige jedoch darauf hingewiesen, dass die Angaben des Angeklagten zu seinem [X.] nicht objektivierbar seien und deshalb „nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen“ sei, dass der Angeklagte „als Ausdruck seiner Lebensführung“ nur „einen sporadischen, respektive 'Lifestyle-[X.]' unterhalb des Schweregrads eines Hangs“ betrieben habe. Diesen Ausführungen hat sich das [X.] ohne eigene Würdigung angeschlossen. An anderer Stelle des Urteils - im Rahmen der Schuldfähigkeitsprüfung - hat es jedoch nicht nur das Vorliegen einer „multiplen Substanzabhängigkeit“ ausgeschlossen, sondern in diesem Zusammenhang ausdrücklich festgehalten, dass es die Angaben des Angeklagten zu seinem langjährigen multiplen Substanzkonsum nicht für glaubhaft halte. Der [X.] vermag den hierin liegenden Widerspruch nicht aufzulösen und dem Urteil auch in seinem Gesamtzusammenhang nicht zu entnehmen, aufgrund welcher beweiswürdigenden Erwägungen das [X.] gleichwohl zu der Annahme eines jedenfalls schädlichen Gebrauchs multipler Substanzen als Grundlage für den angenommenen Hang gelangt ist, und die vom Sachverständigen für den Fall der Widerlegung seiner Angaben in den Raum gestellte Möglichkeit ausgeschlossen hat, dass der mit Kokain in größerem Stil handelnde Angeklagte nur gelegentlich selbst Rauschgift konsumierte.

7

Da bereits ein Hang im Sinne des § 64 Satz 1 StGB nicht tragfähig belegt ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob die knappen Darlegungen zu den Erfolgs-aussichten einer Maßregelbehandlung im Sinne des § 64 Satz 2 StGB, die sich mit der einem Behandlungserfolg möglicherweise entgegenstehenden Persönlichkeitsproblematik des Angeklagten nicht auseinandersetzen, rechtlicher Überprüfung standhalten (zu der insoweit erforderlichen Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen prognoserelevanten Umstände vgl. [X.], Beschluss vom 1. Oktober 2020 - 3 [X.], Rn. 4 mwN).

8

c) Da es nicht ausgeschlossen erscheint, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt festgestellt und tragfähig belegt werden können, bedarf die Sache zum [X.] neuer Verhandlung und Entscheidung.

9

2. Die Aufhebung der Anordnung nach § 64 StGB führt zur Aufhebung der Entscheidung über den [X.] eines Teils der Strafe. Sie lässt den Strafausspruch unberührt. Der [X.] kann ausschließen, dass das [X.] ohne die [X.] auf niedrigere [X.] und eine niedrigere Gesamtfreiheitsstrafe erkannt hätte.

3. Die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe gibt Anlass zu folgendem Hinweis:

Es ist regelmäßig verfehlt und kann den Bestand eines Urteils gefährden, wenn die Ausführungen des zu den Akten genommenen vorbereitenden schriftlichen Gutachtens eines Sachverständigen in großem Umfang und als wörtliches Zitat in die [X.] aufgenommen werden.

Zum Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO wird nicht das vorbereitende schriftliche Gutachten des Sachverständigen, sondern seine mündlichen Ausführungen in der Hauptverhandlung (vgl. [X.], Urteil vom 19. Februar 2014 - 5 [X.], [X.], 476, 477; Beschluss vom 23. August 2012 - 1 StR 389/12, [X.], 98, 99); sie erfolgen regelmäßig unter Einbeziehung des gesamten mündlichen Verfahrensstoffes der Hauptverhandlung und daher auf einer in der Regel umfassenderen Erkenntnisgrundlage als das vorbereitende vorläufige schriftliche Gutachten. Die gewählte Darstellungsweise kann daher Zweifel daran wecken, ob das [X.] die Grenzen des § 261 StPO beachtet hat.

Sost-Scheible     

        

Quentin     

        

Bartel

        

Rommel     

        

Maatsch     

        

Meta

4 StR 405/20

21.01.2021

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Dortmund, 2. April 2020, Az: 37 KLs 14/19

§ 261 StPO, § 267 StPO, § 337 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.01.2021, Az. 4 StR 405/20 (REWIS RS 2021, 9350)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 9350

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 StR 261/18 (Bundesgerichtshof)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Vorliegen eines Hanges


1 StR 415/17 (Bundesgerichtshof)

Betäubungsmitteldelikt: Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt


1 StR 155/20 (Bundesgerichtshof)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Vorliegen eines Hangs zum übermäßigen Rauschmittelgenuss


5 StR 194/23 (Bundesgerichtshof)

Unterbringung eines betäubungsmittelabhängigen Straftäters in einer Entziehungsanstalt: Feststellung des Hangs und Beurteilung der Erfolgsaussicht einer …


3 StR 645/17 (Bundesgerichtshof)

Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt wegen einer Betäubungsmittelstraftat: Anforderungen an die tatrichterliche Feststellung eines …


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.