Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.10.2020, Az. 4 StR 168/20

4. Strafsenat | REWIS RS 2020, 2096

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Gegenstand

Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte: Tatbestandsmerkmal der Rechtmäßigkeit einer Ingewahrsamnahme


Tenor

1. Soweit der Angeklagte im Fall II. 2. g) der Urteilsgründe wegen Beleidigung verurteilt worden ist, wird das Verfahren eingestellt. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten hat insoweit die Staatskasse zu tragen.

2. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 3. Dezember 2019 mit den Feststellungen aufgehoben

a) im Fall II. 2. g) der Urteilsgründe, soweit der Angeklagte wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung verurteilt worden ist,

b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe sowie im Ausspruch über die Dauer des [X.] der Strafe.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Das vorgenannte Urteil wird im Adhäsionsausspruch

a) aufgehoben, soweit festgestellt ist, dass der Angeklagte zur Zahlung von Schadensersatz für alle künftigen immateriellen Schäden der Adhäsionsklägerin aus der Tat vom 4. Mai 2019 (Fall II. 2. h) verpflichtet ist; insoweit wird von einer Entscheidung im Adhäsionsverfahren abgesehen,

b) dahin abgeändert, dass Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf das Schmerzensgeld für die Adhäsionsklägerin ab dem 30. November 2019 zu zahlen sind.

4. [X.] hat die in der Revisionsinstanz im Adhäsionsverfahren entstandenen besonderen Kosten sowie die der Neben- und Adhäsionsklägerin durch sein Rechtsmittel entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. Hiervon ausgenommen sind die im Adhäsionsverfahren insoweit entstandenen besonderen Kosten und notwendigen Auslagen der Adhäsionsklägerin, als von einer Entscheidung im Adhäsionsverfahren abgesehen wird; diese trägt die Staatskasse.

5. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Körperverletzung (Fall II. 2. g) und in einem Fall in Tateinheit mit Beleidigung, wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung, Beleidigung und mit Bedrohung sowie wegen Körperverletzung und Beleidigung (Fall II. 2. g) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Es hat zudem seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und den [X.] der Strafe von einem Jahr angeordnet. Ferner hat es eine Adhäsionsentscheidung getroffen.

2

Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat im Umfang der Entscheidungsformel Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 [X.].

3

1. Während der Schuld- und Strafausspruch im Übrigen keinen sachlich-rechtlichen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist, hält seine Verurteilung im Fall II. 2. g) wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung sowie wegen Beleidigung rechtlicher Prüfung nicht stand.

4

Nach den insoweit getroffenen Feststellungen des [X.]s geriet der Angeklagte auf einem Platz in B.      in eine Auseinandersetzung und wurde daraufhin von Polizeibeamten zur Verhinderung von Straftaten dem Zentralen Polizeigewahrsam des [X.] zugeführt. Dort kam er der Aufforderung, sein Mobiltelefon auszuhändigen, nicht nach und beschimpfte einen der Polizeibeamten u.a. als „Nazi“. Im [X.] daran wehrte sich der Angeklagte gegen den Versuch, ihn vom Aufnahmeraum in die [X.]zelle zu verbringen, und trat kräftig und gezielt gegen die Beine der Polizeibeamten, wodurch einer von diesen Verletzungen erlitt.

5

a) Der (tatmehrheitlichen) Verurteilung wegen Beleidigung steht ein Verfahrenshindernis entgegen. Das Verfahren ist deshalb insoweit einzustellen.

6

Es fehlt an dem nach § 194 Abs. 1 Satz 1 StGB, § 158 Abs. 2 [X.] erforderlichen schriftlichen Strafantrag des Verletzten. Das Schriftformerfordernis des § 158 Abs. 2 [X.] verlangt grundsätzlich die Unterschrift des Antragstellers (vgl. [X.], Beschluss vom 6. November 2019 - 4 StR 392/19, Rn. 2 mwN). In der von [X.]am 13. Januar 2019 aufgenommenen Strafanzeige findet sich zwar unterhalb der Angabe der Personalien des geschädigten Polizeibeamten der formularmäßige Vermerk „Ich stelle Strafantrag“; eine Unterschrift des Verletzten ist indes nicht beigefügt. Ein Fall, in dem eine Lockerung des Erfordernisses einer eigenhändigen Unterzeichnung des Strafantrags in Betracht kommt (vgl. [X.], 358; [X.]/[X.], [X.], 63. Aufl., § 158 Rn. 11 mwN; MüKo-[X.]/[X.], 1. Aufl., § 158 Rn. 44), liegt nicht vor.

7

b) Soweit das [X.] den Angeklagten in diesem Fall wegen tateinheitlich mit einer Körperverletzung begangenen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB) verurteilt hat, liegt ein Darlegungsmangel vor, weil die [X.] keine Feststellungen zur Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme des Angeklagten getroffen hat.

8

Eine Ingewahrsamnahme nach polizeirechtlichen Vorschriften ist eine Vollstreckungshandlung im Sinne des § 114 Abs. 3 StGB. Hierunter fällt jede Handlung einer dazu berufenen Person, welche die notfalls zwangsweise durchsetzbare Verwirklichung des im Einzelfall bereits konkretisierten Staatswillens bezweckt (vgl. [X.], Beschluss vom 11. Juni 2020 - 5 [X.], NJW 2020, 2347; Urteil vom 6. Mai 1982 - 4 [X.], [X.], 328, jeweils mwN). Dies ist bei dem Vollzug eines polizeirechtlichen [X.] der Fall. Infolgedessen ist nach § 114 Abs. 3 StGB die Vorschrift des § 113 Abs. 3 StGB entsprechend anwendbar, wonach die Tat nicht als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte strafbar ist, wenn die Diensthandlung nicht rechtmäßig ist.

9

Das [X.] hat nur festgestellt, dass der Angeklagte in den frühen Morgenstunden des [X.] „in eine Auseinandersetzung“ geraten war und „infolgedessen“ durch Polizeibeamte zur Verhinderung von Straftaten dem Zentralen Polizeigewahrsam des [X.] Bielefeld zugeführt wurde. Feststellungen zu den Hintergründen, die eine Prüfung ermöglichen, ob die Voraussetzungen des [X.] nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG [X.] vorgelegen haben, hat das [X.] nicht getroffen. Mit der Frage hat es sich auch an anderer Stelle des Urteils nicht befasst.

Damit unterliegt auch die für sich genommen rechtsfehlerfreie tateinheit-liche Verurteilung wegen Körperverletzung der Aufhebung (vgl. [X.], Urteil vom 10. Juli 2019 - 1 StR 265/18, Rn. 25; Urteil vom 29. August 2007 - 5 [X.], Rn. 51).

Die Aufhebung entzieht der Gesamtstrafe und somit auch der Anordnung des [X.]es die Grundlage.

2. Schließlich weist auch die Adhäsionsentscheidung durchgreifende Rechtsfehler auf.

a) Soweit festgestellt ist, dass der Angeklagte zum Ersatz künftiger immaterieller Schäden verpflichtet ist, mangelt es an einer Begründung eines entsprechenden Feststellungsinteresses. Nach der Rechtsprechung des [X.] setzt ein derartiger Ausspruch eine einzelfallbezogene Begründung voraus, aus der sich ergibt, dass künftig immaterielle Schäden, die nicht bereits von dem Ausspruch über die Verurteilung des Angeklagten zur Zahlung der [X.] umfasst sind, wahrscheinlich entstehen werden (vgl. [X.], Urteil vom 22. Oktober 2019 - 2 StR 397/19). Eine solche Begründung kann den Urteilsgründen, die insoweit lediglich pauschal auf die „andauernden psychischen Folgen der Tat“ abstellen, nicht entnommen werden. Der [X.] hat insoweit zu entfallen (§ 406 Abs. 1 Satz 3 [X.]).

b) Infolge des in der Hauptverhandlung vom 29. November 2019 gestellten [X.] sind der Adhäsionsklägerin gemäß § 404 Abs. 2 [X.], § 291 Satz 1, § 187 Abs. 1 BGB analog Prozesszinsen auf das ihr zugesprochene Schmerzensgeld erst seit dem Folgetag, mithin dem 30. November 2019, zuzusprechen (vgl. [X.], Urteil vom 22. Oktober 2019 - 2 StR 397/19, NStZ-RR 2020, 53 mwN), worauf ihr Adhäsionsantrag, der wegen des Zinsbeginns auf die Rechtshängigkeit abstellte, bei verständiger Würdigung auch nur gerichtet war. Der Senat ändert das Urteil entsprechend ab.

3. Der Senat kann über die die Verfahrenseinstellung betreffenden Kosten, die besonderen Kosten des Adhäsionsverfahrens sowie die notwendigen Auslagen der Neben- und Adhäsionsklägerin abschließend entscheiden, weil sie von der Zurückverweisung der Sache nicht berührt werden.

Sost-Scheible     

        

Quentin     

        

Bartel

        

Rommel     

        

Maatsch     

        

Meta

4 StR 168/20

06.10.2020

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Bielefeld, 3. Dezember 2019, Az: 10 Ks 9/19

§ 113 Abs 3 StGB, § 114 Abs 1 StGB, § 114 Abs 3 StGB, § 35 Abs 1 Nr 2 PolG NW

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.10.2020, Az. 4 StR 168/20 (REWIS RS 2020, 2096)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2096

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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