BT-Drucksache 18/8850

Zu den Risiken des internationalen Engagements in Libyen

Vom 10. Juni 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8850
18. Wahlperiode 10.06.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner, Jürgen Trittin, Annalena Baerbock,
Marieluise Beck (Bremen), Agnieszka Brugger, Uwe Kekeritz, Tom Koenigs,
Dr. Tobias Lindner, Omid Nouripour, Cem Özdemir, Claudia Roth (Augsburg),
Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Doris Wagner und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zu den Risiken des internationalen Engagements in Libyen

Mit der Anerkennung der neuen libyschen Einheitsregierung durch alle relevan-
ten internationalen Staaten und Organisationen gibt es ungeachtet der nach wie
vor fragilen und unübersichtlichen Lage in Libyen erste schwache Ansätze zu
einer Verbesserung der Gesamtsituation. Dazu hat das beharrliche Agieren des
UN-Sonderbeauftragten für Libyen, Martin Kobler entscheidende Impulse gege-
ben.
Andererseits bestehen nach wie vor massive Probleme: durch die immer noch
nicht vollzogene Anerkennung der libyschen Einheitsregierung durch das Parla-
ment in Tobruk steht diese Regierung nach wie vor auf einer schwachen legiti-
matorischen Grundlage; die Schaffung einer einheitlichen libyschen Armee ist
ebenso dringlich, wie unter den gegebenen Umständen schwierig einzuleiten und
umzusetzen; die humanitäre Lage eines hohen Anteils der Bevölkerung ist vor
allem aufgrund der Sicherheitslage trotz des Ölreichtums des Lands prekär: un-
zählige Krankenhäuser sind funktionsunfähig, zahlreiche Schulen sind zerstört,
Strom gibt es nur stundenweise; die Ölproduktion ist dramatisch gesunken.
Daesch (IS) breitet sich weiter aus. Die Lage in den verschiedenen Gefängnissen
und Haftzentren ist katastrophal. Die Anzahl der Menschen, die von Libyen aus
versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen, nimmt wieder zu, ebenso
die Zahl derjenigen, die bei diesem Versuch im Mittelmeer ertrinken.
Die internationale Gemeinschaft hat in den vergangenen Wochen zahlreiche Ent-
scheidungen getroffen, die viele – bislang unbeantwortete – Fragen im Zusam-
menhang mit ihrer Umsetzung aufwerfen. Auf der internationalen Stabilisie-
rungskonferenz in Wien wurde am 16. Mai 2016 eine Erklärung unterzeichnet,
wonach das UN-Waffenembargo gegen Libyen gelockert werden kann, wenn die
libysche Einheitsregierung entsprechende Anträge stellt. Die EU-Marinemission
EUNAVFOR MED – „Operation Sophia“ wurde um ein Jahr verlängert und um
die Aufgaben des Kapazitätsaufbaus für die libysche Küstenwache und Marine
sowie um die Durchsetzung des UN-Waffenembargos auf Hoher See vor der
Küste Libyens erweitert. Die Europäische Union (EU) stellt außerdem eine neue
zivile GSVP-Mission (GSVP: Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspoli-
tik) zum Kapazitätsausbau in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Grenzmanage-
ment und Bekämpfung illegaler Migration und Menschenhandel für den Fall in
Aussicht, dass eine entsprechende Anfrage der libyschen Einheitsregierung erge-
hen sollte. Es ist fraglich, ob die beschlossenen Maßnahmen in der gegebenen

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instabilen Lage dazu geeignet sind, die Einheitsregierung zu stabilisieren, oder ob
nicht neue Probleme hervorgerufen würden.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wann rechnet die Bundesregierung damit, dass die libysche Einheitsregie-

rung eigene Vorstellungen zu einer Sicherheitssektorreform vorlegen kann,
und welche Aspekte einer solchen hält die Bundesregierung für entschei-
dend, damit Daesch (IS) effektiv bekämpft werden kann?

2. Wann rechnet die Bundesregierung mit einer Anerkennung der libyschen
Einheitsregierung durch das libysche Parlament?
a) Wäre nach Einschätzung der Bundesregierung diese Anerkennung eine

notwendige Voraussetzung für die positive Prüfung von Unterstützungs-
anfragen der libyschen Regierung durch die EU und ggf. die NATO?

b) Was sind nach Einschätzung der Bundesregierung die größten Hinder-
nisse für die Anerkennung?

3. Wie schätzt die Bundesregierung die Erfolgschancen der von der libyschen
Einheitsregierung gegründeten Kommandozentrale für den Kampf gegen
Daesch (IS)?

4. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, der libysche Ministerpräsident
Fayez al-Serraj werde auf absehbare Zeit keine Form westlicher Militärinter-
vention erbitten, um der Behauptung, seine Regierung sei vom Westen in-
stalliert, um eine westliche Militärintervention zu legitimieren, keinen Vor-
schub zu leisten (www.ecfr.eu/publications/summary/intervening_better_
europes_second_chance_in_libya)?

5. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung darüber, dass sich Spezialein-
heiten Frankreichs, Italiens, der USA und mutmaßlich auch Großbritanniens
auch ohne formelle Anforderung durch die libysche Einheitsregierung be-
reits im Land befinden (www.ecfr.eu/publications/summary/intervening_
better_europes_second_chance_in_libya)?

6. Wieweit teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass ein unkoordiniertes
und unilaterales militärisches Agieren einzelner Staaten in Libyen den Kampf
gegen Daesch (IS) letztlich erschweren wird (http://carnegieendowment.
org/sada/?fa=63621), und welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregie-
rung aus den hierzu gemachten Äußerungen des UN-Sondergesandten
Martin Kobler (www.deutschlandfunk.de/libyen-martin-kobler-libyen-
braucht-eine-einheitliche-armee.694.de.html?dram:article_id=351235)?

7. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung des European Council On
Foreign Relations, die Unterstützung der libyschen Nationalarmee von Ge-
neral Haftar durch Spezialkräfte aus Ägypten und Frankreich stärke die Hal-
tung von Politikern und Militärführern im Osten Libyens, denn diese bräuch-
ten kein Abkommen zur Teilung der Macht mit den Kräften, die die Einheits-
regierung unterstützen, vor allem den Kräften in Misrata, abzuschließen, um
gute Beziehungen nach Europa und in die USA zu haben (www.
ecfr.eu/publications/summary/intervening_better_europes_second_chance_
in_libya)?

8. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, ihre Kontakte zur ägypti-
schen Regierung zu nutzen, um diese zu einem größeren Druck auf General
Chalifa Haftar zu drängen, mit der Einheitsregierung zusammenzuarbeiten?

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9. Welche Schritte sind nach Auffassung der Bundesregierung notwendig, um
die Schaffung einer einheitlichen libyschen Armee voranzubringen?
a) Welche Rolle soll nach Ansicht der Bundesregierung General Chalifa

Haftar dabei spielen?
b) Welche Rolle sollte er dabei nicht spielen?

10. Wie schätzt die Bundesregierung die Haltung Russlands im Blick auf eine
teilweise Aufhebung des UN-Waffenembargos ein?

11. Wie kann nach Auffassung der Bundesregierung verhindert werden, dass
künftig für die Einheitsregierung bestimmte und gelieferte Waffen in die fal-
schen Hände geraten?

12. Hat die Bundesregierung Kenntnis über Berichte oder eigene Erkenntnisse,
dass einzelne Staaten, trotz des UN-Waffenembargos, Waffen nach Libyen
liefern?
Falls ja, um welche Staaten handelt es sich dabei?

13. Hat die Bundesregierung Kenntnis über Berichte oder eigene Erkenntnisse,
wohin diese gelieferten Waffen innerhalb von Libyen gelangt sind und wel-
chen Milizen bzw. bewaffneten Gruppen diese Waffen erhalten haben?

14. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, aus welchen Staaten die Pilo-
ten kommen sollen, die gemäß einer Forderung des libyschen Ministerpräsi-
denten zur Bekämpfung von Daesch (IS) in Jagdbombern sowie Kampfhub-
schraubern zum Einsatz kommen sollen (www.fr-online.de/flucht-und-
zuwanderung/libyen-das-zerrissene-libyen,24931854,34311694.html)?

15. Beabsichtigt die Bundesregierung angesichts der Vorbehalte der libyschen
Einheitsregierung sowie der tunesischen Regierung, von ihrem Plan, libysche
Soldaten im Nachbarland Tunesien ausbilden zu lassen, Abstand zu nehmen
(www.spiegel.de/spiegel/vorab/bundeswehr-stoesst-mit-ausbildungsmission-
fuer-libysche-armee-auf-widerstand-a-1093289.html)?

16. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die Kontrolle der Migra-
tion angesichts der zahlreichen anderen Herausforderungen keine Priorität
der libyschen Einheitsregierung sein wird (Wolfram Lacher: Libyen kann
kein Partner für den Westen sein, Der Tagesspiegel, 22. Mai 2016)?

17. Unterstützt die Bundesregierung die Einrichtung von „vorübergehenden
Auffanglagern für Migranten und Flüchtlinge“ und „Inhaftierungseinrichtun-
gen“ in Libyen, wie sie kürzlich durch den Europäischen Auswärtigen Dienst
(EAD) vorgeschlagen worden sind, und plant die Bundesregierung eine Be-
teiligung an einer möglichen Mission zur Einrichtung solcher Lager (www.
spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-europaeische-union-peilt-schmutzigen-
deal-mit-libyen-an-a-1089670.html)?

18. In welchem Planungsstand befindet sich derzeit die Einrichtung einer sol-
chen Mission?
Welche Absprachen und Vorgespräche gibt es dazu, und wann ist dazu eine
Beratung bzw. ein Beschluss im Europäischen Rat vorgesehen?

19. Steht aus Sicht der Bundesregierung die Einrichtung solcher „vorübergehen-
den Auffanglager für Migranten und Flüchtlinge“ und „Inhaftierungseinrich-
tungen“ in Libyen im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskon-
vention und der UN-Flüchtlingskonvention?

20. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die derzeitige Zusam-
mensetzung der libyschen Küstenwache, ihre Bewaffnung und ihr Kom-
mando?

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21. Wie schätzt die Bundesregierung die derzeitige Funktionsfähigkeit der liby-
schen Küstenwache ein, und sieht sie die Voraussetzungen für eine Ausbil-
dungsmission gegeben?

22. Vertritt die Bundesregierung die Auffassung, dass mit einer Ausbildung der
libyschen Küstenwache auch dann begonnen werden sollte, wenn Libyen
noch nicht über eine funktionsfähige sowie handlungsfähige Einheitsregie-
rung verfügt?

23. Welche libyschen Kräfte sollen im Rahmen der Mission EUNAVFOR MED
„Sophia“ nach der am 23. Mai 2016 beschlossenen Ausweitung der Mission
ausgebildet werden, und wo werden diese Kräfte voraussichtlich ausgebil-
det?
Ist dafür aus Sicht der Bundesregierung eine Änderung des Bundeswehrman-
dats notwendig?

24. Wie beurteilt die Bundesregierung den Bericht „Operation Sophia, the EU’s
naval mission in the Mediterranean: an impossible challenge“ des britischen
Oberhauses, in dem festgestellt wird, die Operation EUNAVFOR MED „does
not, and we argue, cannot, deliver its mandate“ (www.publications.parliament.
uk/pa/ld201516/ldselect/ldeucom/144/14403.htm#_idTextAnchor003)?
a) Sieht die Bundesregierung diesen Bericht als Widerspruch zur Position

der Bundesregierung?
b) Wenn ja, kann die Bundesregierung erklären, warum der Bericht zu einer

diametral gegensätzlichen Einschätzung der Operation EUNAVFOR MED
kommt?

c) Wenn nein, welche Schlüsse zieht die Bundesregierung daraus für die
Fortsetzung der Operation?

25. Wie bewertet die Bundesregierung den Mandatsgrund „Schlepperbekämp-
fung“ bei der Operation EUNAVFOR MED, angesichts der Tatsache, dass
bis zum 20. Mai 2016 in Phase 2i insgesamt erst 53 der Schlepperei verdäch-
tige Personen festgesetzt wurden („Seit Beginn der Mission haben die Hin-
weise der Operation SOPHIA zur Festnahme von 53 Schleusereiverdächtigen
durch italienische Behörden geführt.“ www.einsatz.bundeswehr.de/portal/
a/einsatzbw/!ut/p/c4/LYuxDYAwDARnYYG4p2MLoEEOeZAVJ0HBgMT0
pEBf3emeZmrLfMvOJiWz0kjTKr1_nH8CFkg-2d6GHO2C6q9gLxyu9txKTQ
guoP6tpCRm0ARUOuLQfXgJ-yA!/)?

26. Sieht die Bundesregierung in einer Ausbildung der libyschen Küstenwache
das Risiko, dass das Wirken der Einheitsregierung behindert würde?
a) Wenn nein, warum nicht?
b) Wenn ja, welche Voraussetzungen müssen nach Ansicht der Bundesre-

gierung für den Beginn einer Ausbildungsmission geschaffen werden?
27. Teilt die Bundesregierung die Auffassung von Amnesty International, dass

die EU-Mitgliedstaaten mit der Unterstützung des Ausbaus der libyschen
Küstenwache riskieren, sich zu Komplizen der unrechtmäßigen Inhaftierung
derjenigen zu machen, die auf See aufgegriffen werden (Mouna Elkekhia:
Flüchtlinge sind im Land massiver Gewalt ausgesetzt. Eine Kooperation mit
Libyen führt zur Mitschuld der EU, Der Tagesspiegel, 22. Mai 2016)?

28. Wann rechnet die Bundesregierung damit, dass ihr konkrete Anträge der li-
byschen Einheitsregierung zur Unterstützung von Maßnahmen zur Beratung
und zum Kapazitätsaufbau in den Bereichen Polizei, Strafjustiz, Terroris-
musbekämpfung, Grenzmanagement und Migration vorgelegt werden?

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29. In welchem Zeitraum rechnet die Bundesregierung damit, dass der militäri-
sche Planungsprozess für eine mögliche multinationale Ausbildungs- und
Beratungsmission mit dem Arbeitstitel „Libya International Assistance Mis-
sion“ (LIAM) abgeschlossen und politische Entscheidungen über eine mög-
liche Durchführung und damit über den Mandatsumfang einer solchen Mis-
sion getroffen werden?

30. In welchem Umfang wurde Libyen seit Bildung der libyschen Einheitsregie-
rung humanitäre Hilfe geleistet von:
a) Deutschland,
b) der Europäischen Union,
c) der UN?

Berlin, den 10. Juni 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

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