BT-Drucksache 18/8787

Innenpolitische Lage im Tschad und die Rolle der internationalen Zusammenarbeit

Vom 2. Juni 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8787
18. Wahlperiode 02.06.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Claudia Roth (Augsburg), Luise Amtsberg,
Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), Dr. Franziska Brantner,
Agnieszka Brugger, Tom Koenigs, Dr. Tobias Lindner, Omid Nouripour,
Cem Özdemir, Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Jürgen Trittin,
Doris Wagner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Innenpolitische Lage im Tschad und die Rolle der internationalen Zusammenarbeit

Im Zuge der Präsidentschaftswahlen im April 2016 im Tschad wurden laut Me-
dienberichten (vgl. Le Monde vom 29. und 30. April 2016) und Berichten von
Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen Grundrechte im Hinblick auf
freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit massiv eigeschränkt. Unter anderem
wurden vor der Wahl führende Aktivistinnen und Aktivisten der Zivilgesellschaft
festgenommen und verurteilt. Kurz nach der Präsidentschaftswahl verschwanden
darüber hinaus Soldaten und Sicherheitskräfte. Zivilgesellschaftliche Organisati-
onen, Menschenrechtsorganisationen und deren Vertreterinnen und Vertreter
werden seit der Verkündung des Wahlergebnisses in besonderem Maße über-
wacht und bedroht. Das betrifft insbesondere die Verteidiger und Verteidigerin-
nen der verurteilten Aktivistinnen und Aktivisten und die Familien der vermissten
Soldaten und Sicherheitskräfte; aber auch andere Organisationen, die beispiels-
weise im Kontext von Landraub und Schutz vor Gewalt arbeiten sind bedroht.
Die Bedrohungen zeigen sich u.a. in militärischer Präsenz und Drohgebärden vor
Privathäusern. Die individuelle Mobilität und Kommunikationswege wie Inter-
netzugänge und Telefonanschlüsse werden willkürlich eingeschränkt.
Der Tschad ist laut dem Human Development Index das viertärmste Land der
Erde und gleichzeitig ein wichtiges Aufnahmeland, insbesondere für Flüchtlinge
aus dem Sudan. Laut dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen
(UNHCR) leben insgesamt ca. 380 000 Flüchtlinge im Land. Der Tschad leidet
besonders an der Unterfinanzierung der humanitären Bedarfe von Seiten der in-
ternationalen Gemeinschaft. Die Finanzierung für die Bedarfe des UNHCR im
Tschad sind erst zu 16 Prozent (Stand: 17. Mai 2016) und die des Kinderhilfs-
werks der Vereinten Nationen (UNICEF) erst zu 15 Prozent (Stand: 30. April
2016) gedeckt. Das Welternährungsprogramm musste die Rationen in den letzten
Jahren aufgrund von kontinuierlichen Finanzierungskürzungen immer weiter re-
duzieren. Der Welthunger-Index 2015 führt den Tschad nach der Zentralafrikani-
schen Republik als am stärksten von Hunger betroffenes Land. 34 Prozent der
Bevölkerung ist unterernährt, die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünf Jahren
liegt bei 15 Prozent und 39 Prozent der Kinder unter fünf Jahren zeigen Wachs-
tumsverzögerungen.
Der Tschad ist im Zuge der Maßnahmen zum Grenz- und Migrationsmanagement
stärker in den Fokus der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten gerückt.
Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (GIZ) führt
u. a. Projekte des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und

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Entwicklung, des Auswärtigen Amts und der Europäischen Union im Tschad
durch. Diese Projekte finden laut GIZ in den Bereichen Grenzschutz, Stärkung
der Funktionsfähigkeit von Polizeistrukturen, gute Regierungsführung, Friedens-
sicherung und Konfliktprävention und ländliche Entwicklung statt.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über die strafrechtlichen Verfah-

ren gegen die Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft Mahamat
Nour Ibedou, Younous Mahadjir, Nadjo Kaina Palmer, Céline Namadji und
Dr. Albissaty Salhe Alazam, die unmittelbar vor der Präsidentschaftswahl im
April 2016 festgenommen und zwischenzeitlich zu vier Monaten auf Bewäh-
rung wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ verurteilt wurden (Le
Monde vom 29. und 30. April 2016)?

2. Was unternimmt die Bundesregierung konkret, um auf die Rechtsstaatlich-
keit der in Frage 1 genannten Verfahren zu drängen?

3. Geht die Bundesregierung bei den in Frage 1 genannten Fällen von rechts-
staatlichen Verfahren aus?

4. Wie schätzt die Bundesregierung die Chancen der Verurteilten ein, durch
Widerspruch gegen das Urteil einen Freispruch zu erhalten, und wird der
tschadischen Regierung von Seiten Deutschlands und der Europäischen
Union deutlich gemacht, dass das Widerspruchsverfahren von den europäi-
schen Partnern genau beobachtet wird?

5. Sieht die Bundesregierung das in Frage 1 genannte Urteil als Einschränkung
des zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraums im Tschad?
a) Wenn nein, wie begründet die Bundesregierung ihre abweichende Ein-

schätzung?
6. Inwieweit arbeitet die deutsche Botschaft im Tschad mit der EU-Delegation

bei der Prozessbeobachtung in diesem Fall zusammen?
7. Wie setzt sich die Bundesregierung für den Aufbau rechtsstaatlicher Struk-

turen im Tschad ein?
8. Inwieweit setzt sich die Bundesregierung auch innerhalb der Europäischen

Union dafür ein, den Schutz der Zivilgesellschaft im Tschad nachdrücklich
einzufordern?

9. Unterstützt die Bundesregierung die Aufforderung Frankreichs an die tscha-
dische Regierung, das Verschwinden von Soldaten und Sicherheitskräften
kurz nach der Präsidentschaftswahl aufzuklären (Anfrage eines Sprechers
des französischen Außenministeriums vom 12. Mai 2016)?

10. Wie setzt sich die Bundesregierung für eine Unterstützung eben dieser Auf-
forderung durch die Europäische Union ein?

11. Inwieweit wird die Bundesregierung die Aufklärung des Verschwindens der
Soldaten und Sicherheitskräfte begleiten und beobachten?

12. Welche Maßnahmen trifft die Bundesregierung selbst oder im Rahmen der
Europäischen Union, um Vertreterinnen und Vertreter von Amnesty Interna-
tional und der Ligue Tchadienne des Droits de l’Homme (LTDH), die sich
mit den Veröffentlichungen in der Sache der verschwundenen Soldaten und
Sicherheitskräfte Repressionen aussetzen, zu schützen?

13. Trifft die Bundesregierung selbst oder im Rahmen der Europäischen Union
Maßnahmen, um gegebenenfalls die Quellen von Amnesty International und
der LTDH zu schützen, sollten diese bei Bekanntwerden gefährdet werden?

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14. Wie bewertet die Bundesregierung den Verlauf der Präsidentschaftswahlen
im Tschad?
a) Handelte es sich aus Sicht der Bundesregierung um freie und geheime

Wahlen?
b) Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung zu gewalttätigen Zwischen-

fällen?
c) Gab es nach Kenntnis der Bundesregierung weitere Unregelmäßigkeiten?
d) Inwieweit fließt das Verschwinden von Militärs, die nicht Präsident Idriss

Déby gewählt haben sollen, in die Bewertung der Wahlen und des Wahl-
ergebnisses der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2016 im Tschad ein?

15. Wie bewertet die Bundesregierung die seit der Präsidentschaftswahl zuneh-
mende Bedrohung von Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft,
die sich u. a. in militärischer Präsenz und Drohgebärden vor Privathäusern,
Unterbrechungen des Internetzugangs und des Telefonnetzes sowie Ein-
schränkung der Mobilität äußert?

16. Welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um solchen Restriktionen
zu begegnen?

17. Inwieweit setzt sich die Bundesregierung im Tschad für die Umsetzung der
EU-Leitlinien zum Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und -vertei-
digern ein?

18. Inwieweit arbeitet die Bundesregierung mit anderen Mitgliedstaaten der Eu-
ropäischen Union und der EU-Delegation zusammen, um im Tschad die EU-
Leitlinien zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern umzusetzen?

19. Welche Vorkehrungen hat die Bundesregierung ergriffen, um den Schutz
von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern bei weiterer Gefähr-
dung und einer sich zuspitzenden Lage zu gewährleisten?

20. Wie bewertet die Bundesregierung die mangelnden Fortschritte im Tschad
im Bereich gute Regierungsführung, und welche Konsequenzen zieht die
Bundesregierung daraus?

21. Welche Maßnahmen werden und wurden von der Europäischen Union und
der Bundesregierung im Tschad in den letzten drei Jahren unterstützt (bitte
unter Angabe der Partner, der aufgewendeten bzw. vorgesehenen Mittel und
evtl. gelieferter Ausrüstung auflisten)?

22. Welche Maßnahmen von Seiten der Europäischen Union und der Bundesre-
gierung wurden im Zuge des Valletta-Gipfels und der allgemeinen „Flucht-
ursachenbekämpfung“ in den letzten zwei Jahren neu aufgelegt oder sind
zurzeit in Planung (bitte unter Angabe der Partner, der aufgewendeten bzw.
vorgesehenen Mittel und evtl. gelieferter Ausrüstung auflisten)?

23. Inwiefern dienen diese Maßnahmen der Deckung der humanitären und ent-
wicklungsrelevanten Bedarfe der Bevölkerung?

24. Welche Projekte werden von Seiten der Europäischen Union und der Bun-
desregierung konkret in den Bereichen Funktionsfähigkeit von Polizeistruk-
turen und Grenzsicherung umgesetzt (bitte unter Angabe der Partner, der auf-
gewendeten bzw. vorgesehenen Mittel und evtl. gelieferter Ausrüstung auf-
listen)?

25. Wie stellt die Bundesregierung sicher, dass insbesondere die Kooperation in
den Bereichen Funktionsfähigkeit von Polizeistrukturen und Grenzsicherung
nicht für weitere staatliche Repressionen genutzt wird?

26. Wie, von wem, und in welchen zeitlichen Abständen wird überprüft, dass
eine solche Zweckentfremdung nicht stattfindet?

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27. Inwieweit spielen für die Bundesregierung bei der Kooperation mit dem
Tschad innerafrikanische Fluchtbewegungen und Fluchtbewegungen aus
und durch den Tschad in Richtung Europa eine Rolle, wenn es darum geht,
Kritik an der menschenrechtlichen Situation im Tschad zu üben, und Projekte
der Entwicklungszusammenarbeit durchzuführen?

28. Inwieweit spielt für die Bundesregierung bei der Kooperation mit dem
Tschad die Bereitschaft der Regierung sich an internationalen Militäreinsät-
zen wie in Mali zu beteiligen eine Rolle, wenn es darum geht, Kritik an der
menschenrechtlichen Situation im Tschad zu üben, und Projekte der Ent-
wicklungszusammenarbeit durchzuführen?

29. Mit welchen Partnern arbeitet die Bundesregierung in den Bereichen gute
Regierungsführung, Friedenssicherung und Konfliktprävention zusammen?

30. Setzt die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Repressionen gegen die
Zivilgesellschaft vornehmlich auf regierungsferne Zusammenarbeit, um die
Unterstützung autoritärer Strukturen zu vermeiden?
a) Wenn nein, warum nicht?
b) Wie gewährleistet die Bundesregierung, dass durch die staatliche Zusam-

menarbeit die Möglichkeiten der tschadischen Regierung verstärkt Re-
pressalien auszuüben nicht gefördert werden?

31. Welche Fortschritte sieht die Bundesregierung in den Bereichen Funktions-
fähigkeit von Polizeistrukturen und Grenzsicherung, und inwieweit profitiert
die Bevölkerung und die engagierte Zivilgesellschaft von diesen Fortschrit-
ten?

32. Hält die Bundesregierung eine Kooperation mit der tschadischen Regierung
in den Bereichen Funktionsfähigkeit von Polizeistrukturen und Grenzma-
nagement vor dem Hintergrund der Bedrohung der Zivilgesellschaft im
Tschad für zielführend?
a) Wenn ja, warum?

Und wie stellt die Bundesregierung sicher, dass dennoch rechtsstaatliche
Grundprinzipien gewahrt bleiben?

b) Wenn nein, welche Konsequenzen wird die Bundesregierung ziehen?
33. Was unternimmt die Bundesregierung, um, insbesondere bei Projekten im

Bereich ländliche Entwicklung und Landwirtschaft, das zivilgesellschaftli-
che Engagement im Bereich Landrechte zu ermöglichen, und wie schätzt die
Bundesregierung diesbezüglich die Handlungsspielräume der tschadischen
Zivilgesellschaft ein?

34. Laut Welthunger-Index 2015 ist die Hungersituation im Tschad nach der
Zentralafrikanischen Republik am gravierendsten; welche Beiträge haben
die Bundesregierung und die Europäische Union in den letzten beiden Jahren
zur Deckung der humanitären Bedarfe im Tschad geleistet?

Berlin, den 2. Juni 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

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