BT-Drucksache 18/8275

Probleme der vorläufigen Anwendung von CETA

Vom 26. April 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8275
18. Wahlperiode 26.04.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Klaus Ernst, Christine Buchholz, Wolfgang Gehrcke,
Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Susanna Karawanskij,
Jutta Krellmann, Katrin Kunert, Thomas Lutze, Thomas Nord, Richard Pitterle,
Michael Schlecht, Dr. Petra Sitte, Dr. Axel Troost, Alexander Ulrich und der
Fraktion DIE LINKE.

Probleme der vorläufigen Anwendung von CETA

Um das mehrere Monate dauernde Ratifizierungsverfahren in den einzelnen
EU-Mitgliedstaaten nicht abwarten zu müssen, wurde mit Artikel 218 Absatz 5
des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die Mög-
lichkeit der vorläufigen Anwendung der Vertragsteile in alleiniger EU-Zustän-
digkeit durch Beschluss des Rates geschaffen. Komplexe Freihandelsverträge wie
CETA (Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und
Kanada) und TTIP (Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft) ber-
gen allerdings die Schwierigkeit, dass sich die Grenzen zwischen EU- und natio-
naler Zuständigkeit nicht ohne weiteres ziehen lassen. Es besteht die starke Ver-
mutung, dass die EU bereits bei den Freihandelsabkommen mit Südkorea sowie
mit Kolumbien und Peru im Rahmen der vorläufigen Anwendung ihre Kompe-
tenzen überschritten hat, da hier etwa Bestimmungen zur gegenseitigen Anerken-
nung beruflicher Qualifikationen, welche auch in der Zuständigkeit der Mitglied-
staaten liegen, nicht ausgenommen wurden.
Kernproblem ist, dass die vorläufige Anwendung „anders als das endgültige
Inkrafttreten ohne parlamentarische Zustimmung auskommt“ (vgl. Gutachten
von Prof. Dr. Wolfgang Weiß, www.foodwatch.org/fileadmin/Themen/TTIP_
Freihandel/Dokumente/2016-03-26_Prof_Weiss_Gutachten_Verfassungsprobleme_
einstweiliger_Anwendung.pdf). Dabei ist das rechtliche Ergebnis „annähernd
gleich zur endgültigen Anwendung nach ordnungsgemäßer Ratifikation: Die
Bestimmungen des Abkommens werden wechselseitig angewendet und umge-
setzt. Der Unterschied liegt in der jederzeitigen Widerrufbarkeit der vorläufigen
Anwendung durch jede Partei und in der möglichen gegenständlichen Begren-
zung (…) Insgesamt ist es verfassungsrechtlich wie demokratiepolitisch unakzep-
tabel, dass die vorläufige Anwendung eines Abkommens an den Parlamenten vor-
bei erfolgt“ (vgl. Prof.-Dr.-Wolfgang-Weiß-Gutachten).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche vorläufig angewendeten Freihandelsabkommen sind bislang nicht

ratifiziert worden (bitte einzelne EU-Mitgliedstaaten auflisten, in denen die
Ratifizierung noch aussteht), und aus welchem Grund?

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2. In welchen dieser Freihandelsabkommen wurden bzw. werden auch Bestim-
mungen, die etwa Portfolioinvestitionen, die gegenseitige Anerkennung be-
ruflicher Qualifikationen oder Arbeitsschutz (vgl. Prof.-Dr.-Wolfgang-
Weiß-Gutachten) betreffen und damit nicht klar in alleiniger EU-Zuständig-
keit sind, vorläufig angewendet?

3. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, „dass die EU bei ihrer Entschei-
dung über die vorläufige Anwendung ihre Kompetenzen überschreitet, wenn
sie Abkommens-Teile vorläufig in Kraft setzt, die unter die Zuständigkeit
der Mitgliedstaaten fallen“ (vgl. Prof.-Dr.-Wolfgang-Weiß-Gutachten)?

4. Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass die EU in den Fällen von Frage 2
ihre Kompetenzen überschritten hat (bitte begründen)?

5. Warum hat die Bundesregierung über den Rat der EU der vorläufigen An-
wendung in den in Frage 2 angesprochenen Fällen trotz der o. g. Bedenken
zugestimmt?

6. Welches Gremium entscheidet bei CETA definitiv darüber, welche Vertrags-
teile vorläufig angewendet werden, da sie in den EU-only-Bereich fallen, und
welche nicht vorläufig implementiert werden dürfen, da die Mitgliedstaaten
betroffen sind, falls die Entscheidung über die vorläufige Anwendung von
CETA fällt, bevor der Europäische Gerichtshof (EuGH) seine Position be-
kannt gegeben hat, welche Bestandteile im EU-Singapur-Handelsabkommen
in den Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten fallen?

7. Wie wird der voraussichtliche zeitliche Ablauf bei CETA genau sein (Ent-
scheidung, welche Teile in alleiniger EU-Kompetenz sind/Beschluss zur vor-
läufigen Anwendung/Entscheidung, ob gemischtes Abkommen oder nicht)?

8. Wird die Entscheidung über die vorläufige Anwendung getroffen, bevor der
EuGH im Rahmen des Gutachtenverfahrens zum EU-Singapur-Abkommen
eine Positionierung darüber gegeben hat, welche Vertragsteile mitgliedstaat-
liche Kompetenzen betreffen?

9. Kann die Bundesregierung ausschließen, dass Teile des Abkommens vorläu-
fig in Kraft gesetzt werden, die die Mitgliedstaaten betreffen, wenn nicht die
Positionierung des EuGH im Rahmen des Gutachtenverfahrens zum EU-Sin-
gapur-Abkommen abgewartet wird, und wenn ja, wie?

10. Wie ist die offizielle Rechtsauffassung der Bundesregierung über die not-
wendige Stimmenzahl im Rat der EU beim Beschluss über die vorläufige
Anwendung von CETA, auf welche konkreten Artikel in den europäischen
Verträgen beruft sich die Bundesregierung dabei, und weicht diese Rechts-
auffassung von der Rechtsauffassung der Europäischen Kommission ab?
Wenn ja, welche konkreten Schritte wird die Bundesregierung unternehmen,
um ihre Rechtsauffassung durchzusetzen?

11. Erhöht sich nach Einschätzung der Bundesregierung bei einer vorläufigen
Anwendung von CETA die Gefahr, dass es zu keiner anschließenden Betei-
ligung der EU-Mitgliedstaaten kommt, da mit der vorläufigen Anwendung
bereits Fakten geschaffen werden und die Europäische Kommission CETA
ohnehin als EU-only-Abkommen sieht?

12. Welche konkreten CETA-Vertragsstellen liegen der unterschiedlichen Ein-
schätzung der Bundesregierung und der von der Bundestagsverwaltung (Re-
ferat PE 2) zitierten Position des juristischen Dienstes des Rates bzgl. der
Zuständigkeit des CETA-Investitionskapitels zugrunde (vgl. Antwort auf die
Schriftliche Frage 3 des Abgeordneten Klaus Ernst auf Bundestagsdrucksa-
che 18/7842: „Die Investitionsschutzbestimmungen sowie Regelungen zur
Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten in CETA müssen nach Auffas-
sung der Bundesregierung von der vorläufigen Anwendung ausgenommen

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werden, da hier auch mitgliedstaatliche Kompetenzen betroffen sind“ versus
EU-Sachstand, „Aktueller Verhandlungsstand zu TTIP und CETA“ vom
7. April 2016/Referat PE 2: „So enthalte das CETA-Investitionsschutzkapi-
tel nur die EU und nicht die Mitgliedstaaten als Vertragspartei. Die ge-
mischte Kompetenz beim Investitionsschutz könne nicht dadurch hergestellt
werden, dass in dem Titel des CETA-Vertrages neben der EU die Mitglied-
staaten als Vertragsparteien aufgenommen würden. Dies sei nicht ausrei-
chend. Es müssten vielmehr ganz konkret im CETA-Investitionsschutzkapi-
tel entsprechende Anpassungen vorgenommen werden“)?

13. Was unternimmt die Bundesregierung konkret, um in dieser Angelegenheit
Sicherheit zu schaffen?

14. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass es ratsam wäre,
eine vorläufige Anwendung von CETA auch abzulehnen, um die Gefahr ei-
ner Kompetenzübertretung der EU zu vermeiden, da es sehr unterschiedliche
Einschätzungen dazu gibt, welche Bereiche allein in EU-Zuständigkeit lie-
gen?

15. Wenn die Bundesregierung die Rechtsauffassung teilt, dass „bereits dann ein
gemischtes Abkommen vorliegt, wenn ein Teilaspekt in einem bilateralen
Vertrag der Europäischen Union in mitgliedstaatlicher Kompetenz liegt“
(Bundestagsdrucksache 18/8020) und das von Generalanwältin Dr. Juliane
Kokott zitierte Bild der Trübung eines Glases Wasser durch einen kleinen
Tropfen Pastis gelten lässt (vgl. Bundestagsdrucksache 18/8020), wie ist
dann eine Aufspaltung in Teile in EU-Kompetenz und Teile in mitgliedstaat-
licher Kompetenz (Wasser und Pastis) überhaupt möglich?

16. Wird die Bundesregierung dafür sorgen, dass nur die Bereiche von CETA
vorläufig angewendet werden, bei denen die Alleinkompetenz der EU un-
streitig ist (bitte begründen)?
Wenn ja, wie, und welche Bereiche wären das?

17. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, dass die nicht
zwingende vorherige Zustimmung des Europäischen Parlaments ein demo-
kratiepolitisches Problem ist, da die Praxis „im Belieben von Rat und Kom-
mission“ steht und das EU-Parlament „dem Rat die vorläufige Anwendung
weder ganz noch teilweise untersagen“ kann (vgl. Prof.-Dr.-Wolfgang-
Weiß-Gutachten und bitte begründen)?

18. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass die grundlegen-
den politischen und verfassungsrechtlichen Dimensionen der Freihandelsab-
kommen der neuen Generation das im Grundgesetz verankerte Recht des
Bundestages auf eine die Regierung nicht strikt bindende Stellungnahme bei
rechtlich wirksamen Entscheidungen des Rates zu einer Befassungspflicht
des Bundestages verdichten (vgl. Prof.-Dr.-Wolfgang-Weiß-Gutachten und
bitte begründen)?

19. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass eine Erörterung
im Deutschen Bundestag notwendig zur demokratischen Legitimation auch
des unionalen Handelns im Rat beiträgt (vgl. Prof.-Dr.-Wolfgang-Weiß-Gut-
achten und bitte begründen)?

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20. Wie ist nach Ansicht der Bundesregierung konkret sichergestellt, dass mit
Blick auf den Charakter eines „living agreement“ bei CETA keine Selbstent-
machtung der Parlamente bei grundlegenden Aufgaben stattfindet und dass
diese im Interesse demokratischer Rückbindung weiterhin den Parlamenten
zukommen (vgl. Prof.-Dr.-Wolfgang-Weiß-Gutachten und bitte anhand des
CETA-Vertragstextes begründen)?

Berlin, den 25. April 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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