BT-Drucksache 18/7566

Ausstieg aus Stuttgart 21 - Die Deutsche Bahn AG vor einem finanziellen Desaster bewahren

Vom 17. Februar 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/7566
18. Wahlperiode 17.02.2016
Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, Karin Binder,
Heidrun Bluhm, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus, Annette Groth, Kerstin
Kassner, Ralph Lenkert, Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze,
Birgit Menz, Michael Schlecht, Dr. Kirsten Tackmann, Hubertus Zdebel und
der Fraktion DIE LINKE.

Ausstieg aus Stuttgart 21 – Die Deutsche Bahn AG vor einem finanziellen
Desaster bewahren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Kosten für das Projekt Stuttgart 21 steigen immer weiter: auf – von unabhängi-
gen Experten konservativ geschätzte – 9,8 Milliarden Euro, so dass das Projekt
längst eindeutig sehr unwirtschaftlich ist. Ein Weiterbau stünde in krassem Gegen-
satz zu den ohnehin schon bestehenden wirtschaftlichen Problemen der Deutschen
Bahn AG (DB AG), die alle anfallenden Mehrkosten komplett selbst tragen muss,
weil keiner der Projektpartner dazu bereit ist. Überdies sind wichtige Fragen zur Si-
cherheit und zur Leistungsfähigkeit des Bahnhofsprojekts (siehe Antrag der Frakti-
onen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Bundestagsdrucksache
18/3647) nach wie vor ungeklärt.
Sowohl die Bundesregierung als auch die DB AG ignorieren bislang Berichte über
Kostensteigerungen des Projekts, bieten aber umgekehrt keine Kostentransparenz.
Dies war auch in der Vergangenheit zur Zeit des „Kostendeckels“ von 4,5 Milliar-
den Euro der Fall – bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Kostensteigerung auf damals
6,5 Milliarden Euro nicht mehr zu leugnen war.
Ein Gutachten des Bundesrechnungshofes zu den Kosten des Projekts, das bereits
im Dezember 2014 abgeschlossen und den zuständigen Ministerien nach einer Stel-
lungnahme durch die DB AG im Juli 2015 übersandt wurde, wird seitdem von den
Ministerien massiv verzögert und ist noch immer nicht veröffentlicht (Schreiben des
BRH an Nico Nissen vom 10.2.2016, Aktenzeichen III 2 – 05 20 35 – 3265/2016).

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. in ihrer Rolle als Vertreterin des Alleineigentümers der Deutschen Bahn AG
darauf hinzuwirken, dass diese einen sofortigen Stopp und den Ausstieg aus dem
Projekt Stuttgart 21 beschließt und auch schnellstmöglich vollzieht, um wirt-
schaftlichen Schaden vom Unternehmen abzuwenden;

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2. sämtliche Finanzmittel, die von Seiten des Bundes in den Bau von Stuttgart 21

fließen, einzufrieren, bis ein alternatives Konzept für einen funktionsfähigen
und kapazitätserweiternden Umbau des existierenden Bahnhofs vorliegt und die
finanziellen Mittel für diesen verwendet werden können;

3. das Gutachten des Bundesrechnungshofes zur Kostenentwicklung des Projekts
dem Bundestag so schnell wie möglich zugänglich zu machen;

4. den Bedenken des Bundesrechnungshofes zu folgen und sicherzustellen, dass
die finanziellen Mittel des Bundes aus der Leistungs- und Finanzierungsverein-
barung II (LuFV II) nicht zur Finanzierung von Mehrkosten bei Stuttgart 21
verwendet werden;

5. in Zusammenarbeit mit der Stadt Stuttgart und dem Land Baden-Württemberg
einen Bürgerbeteiligungsprozess zu initiieren, um gemeinsam mit den Stuttgar-
ter Bürgerinnen und Bürgern einen sinnvollen Umgang mit den schon getätigten
Bauleistungen zu entwickeln.

Berlin, den 17. Februar 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/7566
Begründung

Bei dem Projekt Stuttgart 21 handelt es sich rein formell bekanntermaßen nicht um ein Bedarfsplanprojekt des
Bundes, sondern um ein eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn AG. Dennoch kann und muss die
Bundesregierung auf mehrfache Weise Einfluss auf dieses Projekt nehmen, um einen erheblichen Schaden von
der Deutschen Bahn AG als bundeseigenes Unternehmen abzuwenden:
− in ihrer Funktion als Vertreterin des Eigentümers über den direkten Einfluss auf den Vorstand und den

Aufsichtsrat der DB AG,
− über die Vertreter des Bundes im Aufsichtsrat, insbesondere die Staatssekretäre der Bundesministerien,

sowie
− über die Gewährung der Bundes-Fördermittel, die in das Bahnhofsprojekt fließen und die sinnvollerweise

nur für eine Planung ausgegeben werden sollten, die anders als Stuttgart 21 die Bahnhofskapazität erweitert
und die Qualität des Bahnverkehrs verbessert.

Dass ein solcher direkter Einfluss der Bundesregierung sowohl auf den Vorstand als auf Mitglieder des Auf-
sichtsrats der DB AG tatsächlich existiert, beweisen nicht zuletzt Akten aus dem Bundeskanzleramt, in denen
diese Einflussnahme dokumentiert ist (Stuttgarter Zeitung vom 03.07.2015: „Wackelkandidaten auf Kurs ge-
bracht“). In diesen Akten ging es um die Entscheidung vom 5. März 2013 für den Weiterbau von Stuttgart 21
mit dem erweiterten Finanzierungsrahmen von 6,526 Milliarden Euro. Dokumentiert wurde unter anderem die
Kommunikation zwischen dem damaligen Chef des Bundeskanzleramts und heutigen DB-Vorstandmitglied
Ronald Pofalla und dem Verkehrsstaatssekretär Michael Odenwald als Mitglied im DB-Aufsichtsrat. Im Um-
kehrschluss kann die Bundesregierung auch eine Beendigung des Projekts auf ähnliche Weise herbeiführen und
sich nicht auf das Argument der Eigenwirtschaftlichkeit der DB AG zurückziehen und damit jegliche Verant-
wortung von sich weisen. Überdies liegt es in der Verantwortung der Bundesregierung, das öffentliche Interesse
(vgl. Art. 87e Absatz 4 Grundgesetz) sowie auch den aktienrechtlich und strafrechtlich zwingenden Maßstab
umzusetzen, dass die Vermögensinteressen des bundeseigenen Unternehmens Bahn nicht beschädigt werden
dürfen.
Obwohl die Gültigkeit des bereits erhöhten Finanzrahmens von 6,526 Milliarden Euro von Seiten der DB AG
immer wieder betont wird, gibt es inzwischen stichhaltige Hinweise auf eine deutliche Steigerung der Projekt-
kosten sowie auf eine Verschiebung der Fertigstellung um mindestens zwei Jahre – vom Jahr 2021 auf das Jahr
2023 oder sogar auf das Jahr 2024.
Ein am 16. Dezember 2015 in Berlin präsentiertes Gutachten des Verkehrsberaters Dr. Martin Vieregg, das die
aktuellen Rahmenbedingungen sowie den Baufortschritt berücksichtigt, prognostiziert wahrscheinliche Bau-
kosten von 9,8 Milliarden Euro. Darüber hinaus legt es zusätzliche Risiken dar, die noch zu deutlich höheren
Kosten führen können. Gründe für diese Kostensteigerungen und weitere Risiken sind vor allem das umfang-
reichere Grundwassermanagement, der wesentlich aufwändigere Bau des Hauptbahnhofs selbst (insbesondere
wegen des Brandschutzes, der zusätzlichen Fluchtwege und des komplizierten Baus der Düker) sowie die we-
sentlich kompliziertere und riskantere Gründung des Bauwerks. Alleine für den Bahnhofsbau selbst prognosti-
ziert das Gutachten über 900 Millionen Euro an Mehrkosten. Auch die notwendigen Umplanungen des Filder-
abschnitts (PFA 1.3a/b) aufgrund der gescheiterten und weiterhin offenen Planfeststellung tragen zu den Kos-
tensteigerungen bei. Kostentreiber in diesem Bereich sind der brandschutzbedingt wesentlich aufwändigere
Fernbahnhof und dessen Anbindung an die Neubaustrecke sowie die Erweiterung des Filderabschnitts um einen
eingleisigen Bahnhof für die Gäubahn („3. Gleis“). Der Gutachter rechnet auf Basis seiner ersten Untersuchung
aus dem Jahre 2008 und nach den zahlreichen, nicht aufholbaren Verzögerungen nun mit einer Fertigstellung
frühestens im Jahr 2024. Dabei bestätigt er – noch ohne die unvorhersehbaren Risiken beim Tunnelbau im
Anhydrit – im Wesentlichen die Kosten der DB AG für die Tunnelstrecken, passt diese jedoch mit höheren
Zuschlägen für Anlagen Dritter, Wiederherstellung der Oberfläche, für Umweltschutz, Unvorhergesehenes und
Planungskosten an die Verzögerungen im Bauzeitplan an (Martin Vieregg: „Aktualisierung der Baukosten-
Prognose von 2008 für das Projekt Stuttgart 21“. München (Vieregg-Rössler GmbH), 15.12.2015).
Derselbe Gutachter Dr. Martin Vieregg hatte bereits im Juli 2008 ein vergleichbares Gutachten zur Kostensitu-
ation des Projekts Stuttgart 21 vorgelegt und damals im Gegensatz zum offiziellen sogenannten „Kostendeckel“
von 4,526 Milliarden Euro eine Kostensteigerung für die Projektrealisierung auf 6,9 Milliarden Euro prognos-

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tiziert. Daraufhin teilte die DB AG in einer Presseerklärung vom 18. Juli 2008 mit: Die „Aussagen über Kos-
tenerhöhungen bei Stuttgart 21 sind haltlos.“ Auch Politiker aus Baden-Württemberg bezeichneten das Gutach-
ten damals als „unsolide und aggressive Desinformation“ (der damalige Ministerpräsident Günther Oettinger),
als „politisch motiviertes Schlechtachten“ (Landtagsvizepräsident Wolfgang Drexler) oder als „unseriös“ (der
damalige Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster) (alle Zitate aus BUND-Regionalverband Stuttgart
„Wer ständig lügt,…“, 23.01.2013). Tatsächlich musste die DB AG jedoch nach einer neuen Kostenprognose
im Jahr 2012 den Finanzierungsrahmen auf 6,526 Milliarden Euro anheben – und damit letztlich eingestehen,
dass Viereggs Berechnungen durchaus zutreffend waren. Aus diesem Grund ist das aktuelle Gutachten von
Martin Vieregg, das mit der gleichen Methodik wie das Gutachten vom Juli 2008 erstellt wurde und die aktuel-
len Entwicklungen des Projekts sehr akribisch mit einbezieht, unbedingt als seriös zu betrachten. Die Berück-
sichtigung dieser Berechnung ist insbesondere auch die Aufgabe des Aufsichtsrats der DB AG, der sich nach
eigenen Angaben in einem „fortlaufenden Prüfungsprozess“ befindet.
Eine im Juni 2015 vorgestellte Studie vom 28. Oktober 2014 von Prof. Roland Ostertag, Peter Grohmann und
Peter Kappes kommt überdies mit einer ganz anderen Methode ebenfalls zu vergleichbaren Ergebnissen: Aus-
gehend von dem 2007 ermittelten Kostenstand von 7,5 Milliarden Euro für eine Fertigstellung im Jahre 2019
prognostizierten sie bei einer Fertigstellung im Jahre 2022 Kosten von 9,77 Milliarden Euro und für eine Fer-
tigstellung im Jahre 2025 von 12,56 Milliarden Euro. Bezieht man den Anteil der DB AG an zusätzlichen
„bahnverkehrlichen Kosten“ mit ein, ergeben sich für die DB AG bei einer Fertigstellung im Jahr 2022 sogar
Kosten von 11,77 Milliarden Euro bzw. bei einer Fertigstellung im Jahr 2025 von 15,56 Milliarden Euro (Ro-
land Ostertag, Peter Grohmann, und Peter Kappes: „Kostensituation Stuttgart 21“, Stand 28.10. 2014).
Überdies deuten auch einige Planungen der DB AG selbst bereits darauf hin, dass mit einer Verzögerung der
Fertigstellung mindestens bis zum Jahr 2023 zu rechnen ist (Stuttgarter Nachrichten vom 26.1.2016, „Bahn
kippt Zeitplan – auf dem Schaubild“). Die bisherigen Verzögerungen im Bauablauf sowie die Verzögerung bei
der Planfeststellung des Filderabschnitts (PFA 1.3a/b) um mehr als zwei Jahre aufgrund der bislang noch nicht
genehmigungsfähigen Planungen deuten ebenfalls in diese Richtung. Daher erscheinen die dargestellten Zeit-
und Kostenprognosen der Sachverständigen Vieregg und Ostertag/Grohmann/Kappes durchaus realistisch.
Damit sind die Kostensteigerungen mit zwei ganz unterschiedlichen Methoden in ähnlicher Größenordnung
prognostiziert worden. Zusammengenommen ist mit Gesamtkosten in der Größenordnung von mindestens
10 Milliarden Euro für das Projekt Stuttgart 21 zu rechnen. Schon ohne diese erneuten Kostensteigerungen war
das Projekt für die DB AG nicht mehr wirtschaftlich (so DB-Vorstandsvorsitzender Rüdiger Grube im Aus-
schuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, 95. Sitzung am 27.2.2013). Die zusätzlichen Kosten treiben
dieses Projekt daher nun endgültig in den Bereich der extremen Unwirtschaftlichkeit. Gemäß den Vereinbarun-
gen zwischen den Projektpartnern DB AG, Land Baden-Württemberg und Stadt Stuttgart trägt die DB AG
sämtliche Mehrkosten, die über den damals vereinbarten „Kostendeckel“ von 4,526 Milliarden Euro hinausge-
hen. Aus der sogenannten „Sprechklausel“ (§ 8 Absatz 4 des Finanzierungsvertrags) lässt sich kein weiterer
Anspruch der DB AG gegenüber den Projektpartnern ableiten, wie auch die diesbezüglichen Debatten der letz-
ten Jahre gezeigt haben. Das bedeutet in der Konsequenz, dass zusätzliche Kosten in Höhe von über 5 Milliarden
Euro auf die DB AG zukommen. Damit ist ein schnellstmöglicher Ausstieg aus dem Projekt unumgänglich, um
einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden von der DB AG abzuwenden. Ein weiteres Gutachten zu den Aus-
stiegskosten, das am 12.02.2016 vorgestellt wurde, zeigt überdies, dass der Ausstieg aus dem Projekt zum jet-
zigen Zeitpunkt um 5,9 Milliarden Euro günstiger wäre als der Weiterbau (Martin Vieregg: „Ermittlung der
Ausstiegskosten für das Projekt Stuttgart 21 zum Stand Ende Januar 2016“. München (Vieregg-Rössler GmbH),
12.02.2016).
Über die Kostensituation hinaus begründen die auch in der Anhörung vom 6. Mai 2015 im Ausschuss für Ver-
kehr und digitale Infrastruktur des Bundestags in der Sache weiterhin unbeantworteten Fragen zur mangelnden
Leistungsfähigkeit und Sicherheit des Bahnhofsneubaus (siehe Antrag der Fraktionen DIE LINKE. und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN auf Bundestagsdrucksache 18/3647) die Notwendigkeit eines sofortigen Ausstiegs aus
dem Projekt. Die in der Anhörung vorgetragene Begründung, es läge seit 2010 „nichts Neues“ vor, ist nicht
haltbar in Bezug auf die vorgetragenen Kritikpunkte, zu denen in der Sache keine Stellung genommen worden
ist (vgl. dazu das Protokoll der 41. Sitzung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur am 6.5.2015
sowie die detaillierte Auswertung dieser Anhörung auf http://wikireal.org/wiki/Stuttgart_21/Anhörung_Bun-
destag_2015).

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
http://wikireal.org/wiki/Stuttgart_21/Anh%C3%B6rung_Bundestag_2015
http://wikireal.org/wiki/Stuttgart_21/Anh%C3%B6rung_Bundestag_2015

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