BT-Drucksache 18/7374

Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein - Polizei und Justiz entlasten

Vom 27. Januar 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/7374
18. Wahlperiode 27.01.2016
Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Halina Wawzyniak, Caren Lay, Herbert
Behrens, Karin Binder, Heidrun Bluhm, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus,
Annette Groth, Ulla Jelpke, Kerstin Kassner, Ralph Lenkert, Michael Leutert,
Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze, Birgit Menz, Dr. Kirsten Tackmann,
Hubertus Zdebel und der Fraktion DIE LINKE.

Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein – Polizei und Justiz
entlasten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Bislang wird die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ohne einen gültigen Fahr-
schein nach § 265a des Strafgesetzbuchs (StGB) als Erschleichung von Leistung de-
finiert, als Straftat geahndet (in der allgemeinen Praxis erst im Wiederholungsfall)
und mit Geld- oder sogar Freiheitsstrafen bestraft. Zusätzlich wird von den Ver-
kehrsbetrieben in jedem Fall ein erhöhtes Beförderungsentgelt erhoben, was einer
Doppelbestrafung gleichkommt. Die Härte der Sanktionierung des „Schwarzfah-
rens“ nach § 265a StGB mit den entsprechenden Folgen für die Betroffenen (Eintra-
gung ins Strafregister bis hin zur Einstufung als vorbestraft und ggf. Abschiebegrund
von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft) ist ein unverhältnismäßiger Ein-
griff des Staates und widerspricht der gebotenen Zurückhaltung des Gesetzgebers
beim Einsatz des Strafgesetzes (Ultima-Ratio-Funktion des Strafrechts). Vielmehr
sollte der Staat die Sanktionierung dieses niedrigschwelligen Normverstoßes ganz
den Verkehrsbetrieben überlassen. Von erhöhtem Beförderungsentgelt bis hin zu
Hausverboten haben diese genügend Instrumente in der Hand. Polizei und Justiz
würden durch diese „Entbürokratisierung“ enorm entlastet.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Tatbestand der Leistungserschleichung aus § 265a StGB so abzuändern, dass
die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ohne gültigen Fahrschein auch im
Wiederholungsfall nicht als Straftat geahndet wird. Auch eine Ahndung als Be-
trug gemäß § 263 StGB ist auszuschließen;

2. sich dafür einzusetzen, dass § 12 der Eisenbahn-Verkehrsordnung (EVO) und § 9
der Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Stra-
ßenbahn- und Omnibusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen
(BefBedV) so verändert werden, dass das erhöhte Beförderungsentgelt reduziert

Drucksache 18/7374 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

wird; zu prüfen ist, ob das erhöhte Beförderungsentgelt im Sinne der Verhältnis-
mäßigkeit je nach Tarifgebiet differenziert werden kann und sollte (z. B. die
Hälfte der Kosten einer Monatskarte);

3. gemeinsam mit den Bundesländern eine Initiative zu starten, die eine bundesweit
flächendeckende Ausgabe von Sozialtickets zum Ziel hat, und eine Finanzierung
dafür sicherzustellen. Es ist sicherzustellen, dass auch Menschen, die Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, Anspruch auf ein solches Sozi-
alticket haben. Solche Sozialtickets könnten an die Berechtigten kostenlos aus-
gegeben werden oder zu einer maximalen Kostenbeteiligung unterhalb der Höhe
des Hartz-IV-Regelsatzes für Verkehr.

Berlin, den 27. Januar 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/7374
Begründung

Es ist davon auszugehen, dass das derzeitige Niveau des sogenannten Schwarzfahrens bei den betroffenen Ver-
kehrsunternehmen und -verbünden zu nur geringen Einnahmeausfällen führt. Angesichts steigender Fahrpreise
und zunehmender Armut können es sich viele Menschen nicht mehr leisten, Tickets zu kaufen. Die Alternative
zum Schwarzfahren wäre für diese Menschen also das Zu fuß gehen. Die Verdrängung von Menschen mit gerin-
gem Einkommen aus dem öffentlichen Nahverkehr durch hohe Fahrpreise und Strafen hat sozial- und umweltpo-
litisch verheerende Folgen. Für viele Menschen mit ungeklärtem Aufenthaltsrecht ist die Anwendung des
§ 265a StGB zudem von existentieller Bedeutung, weil ihnen durch die Strafe die Abschiebung drohen kann. Für
Behördengänge u. a. sind diese Menschen aber auf Mobilität angewiesen – gleichzeitig haben sie kaum genug
Geld zum Leben. Diese Menschen werden derzeit auch noch mit Freiheitsstrafe bzw. Abschiebung bedroht.
Notwendig ist ein flächendeckendes Angebot an Sozialtickets. Solche Sozialtickets könnten an die Berechtigten
kostenlos ausgegeben werden oder zu einer Kostenbeteiligung, die deutlich unterhalb der Höhe des Hartz-IV-
Regelsatzes für Verkehr liegen muss (derzeit 25,45 Euro), da dieser Regelsatz u. a. auch Kosten für Fahrradwar-
tung, ggf. notwendige Taxifahrten und Reisen beinhaltet. Auch auf die flächendeckende Einführung von kosten-
losen oder sehr günstigen Schüler- und Azubi-Tickets ist hinzuwirken.
Andere Gründe für „Schwarzfahren“ sind Vergesslichkeit, Unklarheit über Tarifstruktur (falsches Ticket) oder
die fehlende Möglichkeit des Ticketerwerbs im Fahrzeug, fehlendes Kleingeld für Automaten oder das Nichtauf-
finden eines (funktionierenden) Automaten bzw. einer Ticketverkaufsstelle. In diesen Fällen kommt keine „kri-
minelle Energie“ zum Ausdruck, insbesondere, weil in aller Regel keine Zugangssperren bewusst überwunden
werden. Diese Verhaltensweisen mit Strafrecht zu bedrohen, ist absurd. Um von allen Fahrgästen Fahrgelder
einzunehmen, sind die Verkehrsbetriebe selbst gefordert – durch besseren Service, Vereinfachung und Verein-
heitlichung der Tarifstruktur, Ticketverkauf im Fahrzeug und anderes – und nicht durch härtere Kontrollen und
Strafen. Natürlich kann das Fahren ohne gültigen Fahrausweis auch weiterhin mit Kontrollen und einem erhöhten
Beförderungsentgelt geahndet und sanktioniert werden. Einen „Freifahrtschein“ für kostenloses Fahren bedeutet
die Entkriminalisierung des Schwarzfahrens in keiner Weise. Durch Herausnahme aus dem Strafgesetzbuch wür-
de damit aber die derzeitige doppelte Sanktionierung gestrichen.
Die Prozesse und Verurteilungen nach dem Strafgesetzbuch von Menschen, die wiederholt ohne gültigen Fahr-
schein in öffentlichen Verkehrsmitteln angetroffen werden, erzeugt enorme gesellschaftliche Kosten: Mit bis zu
einem Drittel aller Strafprozesse füllen Verhandlungen wegen „Schwarzfahrens“ in manchen Regionen die Straf-
gerichte – und ebenso hoch ist der Anteil von Menschen vor allem in Großstadtgefängnissen. So saß 2011 etwa
ein Drittel der Verurteilten in der Berliner Haftanstalt Plötzensee wegen „Schwarzfahrens“ ein (Berliner Zeitung
vom 19.2.2015: „Schwarzfahrer gehören nicht in den Knast“; DER TAGESSPIEGEL vom 16.12.2015: „Strafan-
zeigen wegen Schwarzfahrens nehmen drastisch zu“; Die Tageszeitung vom 14.10.2010: „Freifahrt in den
Knast“). Auch dieses Problem wäre mit dem hier vorgeschlagenen Vorgehen beseitigt und würde die Bundeslän-
der finanziell enorm entlasten. Zudem käme der Bundestag Forderungen von Jugendrichtern und der Gewerk-
schaft der Polizei (GdP) zur Entlastung der Justiz entgegen, die z. T. bereits vor Jahren gefordert hatten, Schwarz-
fahren zur Ordnungswidrigkeit zu erklären (Frankfurter Rundschau vom 19.2.2015: „Strafe muss nicht sein“;
FOCUS Money online vom 19.1.2015: „Schwarzfahren, weiche Drogen, Beleidigung: Polizei will nicht mehr
ermitteln“). Der verursachte Schaden bei den Verkehrsbetrieben in Höhe von drei Fahrscheinen kann so teilweise
Kosten für die Allgemeinheit von mindestens 3.000 Euro für die Inhaftierung und mindestens noch einmal
3.000 Euro für die Strafverfolgung nach sich ziehen (Haufe.de/Recht vom 10.6.2011: „Schwarzfahren bald nur
noch OWi?“). Dass ein solcher niedrigschwelliger Normverstoß derartige Kosten und einen so großen Verwal-
tungsakt inkl. der Aufnahme in die polizeiliche Kriminalstatistik nach sich zieht, ist völlig unverhältnismäßig und
überflüssig.
Die Streichung der „Beförderungserschleichung“ bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne gültigen Fahr-
schein auch im Wiederholungsfall als Straftatbestand ist daher ein überfälliger Schritt.

http://www.berliner-zeitung.de/meinung/leitartikel-zu-oeffentlichen-verkehrsmitteln-schwarzfahrer-gehoeren-nicht-in-den-knast,10808020,29906398.html
http://www.tagesspiegel.de/berlin/bvg-und-s-bahn-berlin-strafanzeigen-wegen-schwarzfahrens-nehmen-drastisch-zu/12733452.html
http://www.tagesspiegel.de/berlin/bvg-und-s-bahn-berlin-strafanzeigen-wegen-schwarzfahrens-nehmen-drastisch-zu/12733452.html
http://www.taz.de/!5134051/
http://www.taz.de/!5134051/
http://www.fr-online.de/leitartikel/schwarzfahrerei-strafe-muss-nicht-sein,29607566,29906140.html
http://www.focus.de/finanzen/recht/schwarzfahren-sachbeschaedigung-weiche-drogen-polizei-will-bei-kleinen-straftaten-nicht-mehr-ermitteln_id_4414308.html
http://www.focus.de/finanzen/recht/schwarzfahren-sachbeschaedigung-weiche-drogen-polizei-will-bei-kleinen-straftaten-nicht-mehr-ermitteln_id_4414308.html
http://www.haufe.de/recht/weitere-rechtsgebiete/allg-zivilrecht/schwarzfahren-bald-nur-noch-owi_208_77098.html
http://www.haufe.de/recht/weitere-rechtsgebiete/allg-zivilrecht/schwarzfahren-bald-nur-noch-owi_208_77098.html
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