BT-Drucksache 18/6755

Zur Stigmatisierung HIV-positiver Menschen in Deutschland

Vom 12. November 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6755
18. Wahlperiode 12.11.2015

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann (Zwickau),

Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, Katja Kipping, Cornelia Möhring,

Norbert Müller (Potsdam), Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra Sitte,

Frank Tempel, Harald Weinberg, Katrin Werner, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich,

Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Zur Stigmatisierung HIV-positiver Menschen in Deutschland

Die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland ist weiterhin auf einem im eu-
ropäischen Vergleich niedrigen Niveau (www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/
Archiv/2015/Ausgaben/45_15.pdf?__blob=publicationFile). Die HIV-Infektion
ist zu einer gut behandelbaren Infektion geworden: Aids muss nicht ausbrechen,
wenn die Menschen rechtzeitig von ihrer Infektion erfahren und die notwendigen
Arzneimittel regelmäßig einnehmen. Mittelweile weiß man, dass HIV-positive
Menschen unter gut eingestellter Therapie das Virus mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit nicht übertragen können. Die Verlautbarung der Eidgenössi-
schen Kommission für Aidsfragen (EKAF) (www.saez.ch/docs/saez/archiv/
de/2008/2008-05/2008-05-089.pdf) ist mittlerweile durch weitere Studien bestä-
tigt. Doch weiterhin bestimmen Ängste und Befürchtungen das Bild von
HIV/Aids. Viele HIV-positive Menschen berichten von Diskriminierungen am
Arbeitsplatz, bei Ärzten und Zahnärzten oder im Freundes- und Familienkreis
aber auch innerhalb der Community.

Aus Angst vor Diskriminierung machen auch manche Menschen, die einer soge-
nannten Risikogruppe zugerechnet werden, nicht regelmäßig einen HIV-Test.
Das hat verheerende Folgen. Denn wenn Menschen zu spät von der HIV-Infek-
tion erfahren (sog. Late-Presenter), kann es sein, dass die therapeutischen Optio-
nen zu spät greifen und sie deshalb in ihrer Lebensqualität und -dauer u. U. ext-
rem eingeschränkt sind. Die so entstehenden Todesfälle und Virusübertragungen
wären aber vermeidbar. Eine gute Präventionspolitik ist deshalb ein Anliegen von
gesamtgesellschaftlichem Interesse.

Auch HIV-positive Menschen in Haft werden oft offen diskriminiert. Viele be-
richten, dass sie direkt oder indirekt durch die Anstaltsleitung bzw. die Art des
Umgangs mit ihnen geoutet werden. So werden ihnen teils immer noch Tätigkei-
ten verwehrt, obwohl dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht
notwendig ist, um eine Übertragung des Virus zu vermeiden (www.bayerische-
staatszeitung.de/staatszeitung/politik/detailansicht-politik/artikel/hiv-positive-
haeftlinge-duerfen-jetzt-ueberall-arbeiten.html).

Mit dem Zuzug von Menschen aus anderen Kulturkreisen entstehen Chancen,
aber auch neue gesellschaftliche Aufgaben, gerade auch für die HIV-Prävention
und die Betreuung von HIV-positiven Menschen. Denn es kommen ebenfalls
Menschen mit einer im Herkunftsland erworbenen HIV-Infektion nach Deutsch-
land. Darunter sind auch bisexuelle und homosexuelle Männer und Frauen sowie

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Transsexuelle, die aufgrund der massiven Verfolgungssituation (in 10 Staaten der
Erde wird Homosexualität mit dem Tode bestraft; vgl. de.europenews.dk/In-10-
Laendern-gibt-es-die-Todesstrafe-fuer-Homosexualitaet-79373.html) fliehen muss-
ten. In manchen Bundesländern, wie z B. Bayern, werden registrierte Flüchtlinge
zwangsweise auf HIV getestet. Diese Praxis ist nicht nur verfassungsrecht-
lich hochbedenklich, sondern auch präventionspolitisch wenig sinnvoll. Die
Deutsche AIDS-Hilfe e.V. rät daher von Zwangstests dringend ab (vgl. www.
sueddeutsche.de/muenchen/fluechtlinge-in-bayern-asylbewerber-muessen-zum-
hiv-und-hepatitis-b-test-1.2088672).

Ein weiteres Beispiel für die Diskriminierung HIV-positiver Menschen besteht
darin, dass die Polizeibehörden der Länder Datenbanken angelegt haben, bei de-
nen HIV-Positive und (ehemalige) hepatitisinfizierte Menschen auf stigmatisie-
rende Weise mit dem Merkmal „ANST“ – für „Ansteckend“ – belegt werden. In
Bayern wurden gar 14 000 Menschen mit diesem Merkmal gespeichert
(www.aidshilfe.de/de/aktuelles/meldungen/deutsche-aids-hilfe-bayerische-politik-
schadet-der-hiv-praevention). Dies wird mit der Sicherheit der Beamten begrün-
det. Da eine gut therapierte HIV-Infektion selbst bei einem direkten Blut-zu-Blut
Kontakt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu einer Vi-
rus-Übertragung führt sowie Hepatitisinfektionen gut behandelbar sind und
die meisten ehemaligen Patienten als geheilt gelten, werden Menschen mit
dem Merkmal „ANST“ belegt, die ein Virus mit an Sicherheit grenzender Wahr-
scheinlichkeit nicht weitergeben können (aidshilfe.de/de/aktuelles/meldungen/
kennzeichnung-hiv-positiver-polizeidatenbanken-beenden). In einer Dokumenta-
tion des WDR-Fernsehens über Polizeiübergriffe in Deutschland wird berichtet,
dass die im Anschluss an einen überharten Polizeiübergriff verurteilten Beamten
sich damit rechtfertigten, dass sie sich vor Gefahren schützen wollten, da in der
Datenbank das Merkmal „ANST“ gespeichert war (s. „Polizei, Gewalt und Videos:
Wenn Einsätze aus dem Ruder laufen“ www1.wdr.de/fernsehen/dokumentation_
reportage/die-story/sendungen/polizei-gewalt-und-videos102.html, ab Minute
3:20).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, dass HIV-positive
Menschen unter gut eingestellter Therapie das Virus mit an Sicherheit gren-
zender Wahrscheinlichkeit nicht übertragen können?

Welche Studien sind der Bundesregierung dazu bekannt?

2. Inwiefern gewährleistet die Bundesregierung, dass die Bevölkerung ausrei-
chend über die nicht bestehenden Gefahren einer HIV-Übertragung durch
therapierte HIV-positive Menschen informiert ist?

3. Welche Maßnahmen trifft die Bundesregierung, um einer Stigmatisierung
von HIV-positiven Menschen entgegenzuwirken?

4. Welche Maßnahmen trifft die Bundesregierung, um die Testbereitschaft zu
erhöhen, und welche Bedeutung übt darin die sogenannte strukturelle Prä-
vention aus?

5. Inwiefern sieht sich die Bundesregierung in der Pflicht, selbst eine Vorbild-
funktion auszuüben und deshalb in den Behörden des Bundes auf eine ver-
stärkte Integration von HIV-positiven Menschen hinzuwirken, so dass diese
auch im Falle einer womöglich verminderten Arbeitsfähigkeit weiterhin ih-
ren Beruf ausüben können?

6. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Maßnahmen von Ge-
fängnisleitungen, die direkt oder indirekt zum Outen HIV-positiver Häftlinge
führen, und was unternimmt die Bundesregierung, solche Vorkommnisse zu
unterbinden?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6755

 

7. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, dass HIV-positive
Gefangene von Arbeits- oder Freizeitaktivitäten ausgeschlossen werden, nur
weil sie HIV-positiv sind, und in welcher Weise trägt die Bundesregierung
dazu bei, diese mögliche Diskriminierung zu unterbinden, und inwiefern ist
die Versorgung von HIV-positiven Menschen in Haft gewährleistet?

8. Gibt es aus Sicht der Bundesregierung Arbeits- oder Freizeitaktivitäten, von
denen man HIV-positive Gefangene ausschließen müsste?

9. Gibt es Bemühungen der Bundesregierung zusammen mit den Justizministe-
rien der Länder, sicherzustellen, dass durch die anonyme Abgabe von Sprit-
zen für den intravenösen Drogenkonsum, in Form von Spritzenautomaten, in
allen Haftanstalten sichergestellt ist, so dass die in Haftanstalten erworbenen
HIV- und Hepatitis-Infektionen seltener werden?

10. Welche Notwendigkeit besteht aus Sicht der Bundesregierung, eine Zwangs-
testung von Flüchtlingen auf HIV vorzunehmen?

11. Inwiefern wird im Falle eines positiven Testergebnisses sichergestellt, dass
die Flüchtlinge eine gute Versorgung und Betreuung erhalten?

12. Welche Maßnahmen und Kooperationen mit der Selbsthilfe und regionalen
Aidshilfen existieren, um die HIV-Prävention und die Betreuung von
HIV-positiven Flüchtlingen in Flüchtlingsunterkünften zu gewährleisten?

13. Welche Maßnahmen zum Schutz vor Diskriminierung von HIV-positiven
und/oder Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender und
Intersexuellen (LSBTTI) in Flüchtlingsunterkünften sind der Bundesregie-
rung bekannt bzw. sollen getroffen werden?

14. An wen können sich HIV-Positive und/oder auch LSBTTI in Flüchtlingshei-
men im Falle einer vermeintlichen oder tatsächlichen Diskriminierung wen-
den?

15. Welche Angebote zum Schutz vor Übergriffen wurden bislang getroffen?

16. Inwiefern kann die Bundesregierung verbindlich ausschließen, dass mit dem
geplanten Flüchtlingsausweis auch Gesundheitsdaten der geflüchteten Men-
schen (zum Beispiel auch hinsichtlich einer HIV-Infektion) dazu nicht be-
fugten Personen zugänglich gemacht werden?

17. Inwiefern stellen nach Erkenntnis der Bundesregierung auch gut eingestellte
HIV-Infizierte (die somit aller Wahrscheinlichkeit nach kein Virus übertra-
gen können) und ehemalige Hepatitiserkrankte für Dritte ein Infektionsrisiko
dar?

18. Wie kann nach Kenntnis der Bundesregierung durch die Kennzeichnung
„ANST“ für behandelte HIV-Infizierte (die somit nach aller Wahrscheinlich-
keit kein Virus übertragen können) und ausgeheilte ehemalige Hepatitiser-
krankte dazu beigetragen werden, die Sicherheit für Polizeibeamte zu ge-
währleisten?

19. Inwiefern ist die Speicherung zehntausender Menschen mit einen Merkmal,
das keinerlei Aufschluss über eine tatsächliche Gefahr für Dritte gibt, mit
dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung vereinbar?

20. Welche Fälle einer Übertragung von HIV oder Hepatitis an Polizeibeamte
im Rahmen eines Polizeieinsatzes sind der Bundesregierung bekannt?

21. Welche Behörden des Bundes oder der Länder überprüfen die Datensätze in
welchen Zeiträumen auf eine mögliche oder im Sinne des Datenschutzgeset-
zes des Bundes und der Länder notwendige Löschung der Daten?

Drucksache 18/6755 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

 

22. Inwiefern stellt die Bundesregierung sicher, dass die Speicherung des Merk-
mals „ANST“ nicht eine Gefahr für die gespeicherten Personen im Rahmen
eines Polizeieinsatzes darstellt?

23. Welche Maßnahmen, z.B. in Form von Schulungen von Polizeibeamten, hat
nach Kenntnis der Bundesregierung die Polizei des Bundes und der Länder
getroffen, um über mögliche und tatsächliche Risiken von HIV- und/oder
Hepatitis-Infektionen zu informieren?

Berlin, den 11. November 2015

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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