BT-Drucksache 18/6649

Radargeschädigte der Bundeswehr und der ehemaligen NVA zügig entschädigen

Vom 11. November 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6649
18. Wahlperiode 11.11.2015

Antrag
der Abgeordneten Doris Wagner, Agnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner,
Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), Dr. Franziska Brantner,
Uwe Kekeritz, Tom Koenigs, Omid Nouripour, Cem Özdemir, Claudia
Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Jürgen Trittin
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Radargeschädigte der Bundeswehr und der ehemaligen NVA zügig
entschädigen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Angehörige der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee (NVA) waren bis in
die 1980er-Jahre unwissend ionisierender Strahlung ausgesetzt und sind infolge des-
sen teilweise schwer erkrankt. Häufig können die Betroffenen den ursächlichen Zu-
sammenhang zwischen Dienst an der Strahlenquelle und ihrer späteren Erkrankung
nicht nachweisen. Dauer und Intensität der Exposition können in vielen Fällen nicht
sicher rekonstruiert werden und eindeutige Belege zum individuellen Umgang mit
potenziell schädlichen Strahlen- und Radarquellen liegen nicht mehr vor.

Um die Entschädigungsmöglichkeiten für die Betroffenen zu verbessern, hatte der
Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages im Jahr 2002 das Bundesminis-
terium der Verteidigung aufgefordert, eine unabhängige Expertenkommission zur
Frage der Gefährdung durch Strahlung in früheren Radareinrichtungen der Bundes-
wehr und der NVA (im folgenden „Radarkommission“) einzusetzen. Im Abschluss-
bericht dieser Kommission wurde 2003 ein Kriterienkatalog vorgelegt, der eine Ent-
scheidung darüber ermöglichen sollte, welche Erkrankungen auf eine Strahlenein-
wirkung zurückzuführen sein könnten.

Der Bericht zeigt allerdings auch weiteren Forschungsbedarf auf, insbesondere zur
Untersuchung der gesundheitlichen Auswirkungen von Leuchtfarbe, Hochfrequenz-
Strahlung und weiteren Aspekten ionisierender Strahlung.

Das Bundesministerium der Verteidigung kündigte nach dem Bericht eine Eins-zu-
eins-Umsetzung der Vorschläge der Radarkommission an. Gleichwohl konnten bis
heute nur rund ein Viertel der eingegangenen Entschädigungsanträge mit einem An-
erkennungsbescheid abgeschlossen werden. Die überwiegende Zahl der Anträge
wurde abgelehnt, auch weil bestimmte Krankheitsbilder unzureichend erforscht wa-
ren oder sind, insbesondere bei nichtkarzinogenen Erkrankungen.

Unter diesen Voraussetzungen, insbesondere aber mit Blick auf die uneinge-
schränkte Fürsorgepflicht ist es dringend geboten, den Auftrag der Radarkommis-
sion endlich umzusetzen, die gesundheitlichen Folgen ionisierender Strahlung weiter
zu erforschen und weitere Forschungslücken zu schließen. Nach wie vor strittige
Fälle müssen durch unabhängige Untersuchungen und Expertengremien einer

Drucksache 18/6649 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

schnellen Klärung zugeführt werden. Die Einschätzungen des Bundesamts für das
Personalmanagement der Bundeswehr wirken bislang häufig so, als würden „gezielt
und ausgewählt nur solche Fakten […] angegeben […], um berechtigte Ansprüche
[…] abzuwehren“ (Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts Nr. L 15 VS 19/11
S 5 VS 5/08 vom 19. November 2014). Bereits erfolgte Ablehnungen von Entschä-
digungsanträgen sollten auf der Basis des Berichts der Radarkommission evaluiert
werden.

Dabei ist festzuhalten und zu berücksichtigen, dass viele der erkrankten Personen
mittlerweile im fortgeschrittenen Lebensalter sind. Ein weiteres Warten auf die Un-
terstützung des früheren Dienstherrn und auf angemessene Entschädigungen ist we-
der für die potenziell Geschädigten hinnehmbar, noch aus Sicht des Deutschen Bun-
destages vertretbar. Die häufig langen Verfahrensdauern stellen eine zusätzliche Be-
lastung dar.

Ferner ist eine neue Initiative der Bundesregierung erforderlich, um eine Beteiligung
der Gerätehersteller an den Schädigungen zu erzielen. Die bisher eingeworbenen
Spenden über 21.000 Euro von vier Herstellern stehen weder hinsichtlich der Anzahl
der Spender noch hinsichtlich der Spendenhöhe in einem auch nur ansatzweise ak-
zeptablen Verhältnis zu den entstandenen Schäden und den bezahlten Entschädigun-
gen oder Stiftungsleistungen für Bedürftige.

Der Beschluss des Bundestages auf Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von 2011, ein unabhängiges Expertengremium
zu prüfen, wurde bislang seitens der Bundesregierung nicht umgesetzt. Auch, um
keine weitere Zeit zu verlieren, ist ein entsprechendes Audit unverzüglich einzurich-
ten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. unabhängige Untersuchungen in Auftrag zu geben, um in strittigen Fällen einen
Konsens über technische Ausstattung und Eigenschaften der Radargeräte sowie
zur Bewertung der Strahlung erzielen zu können und dem Deutschen Bundestag
nach Abschluss der Untersuchungen hierzu einen Bericht vorzulegen, der die
Ergebnisse aufzeigt,

2. erneut eine unabhängige Radarkommission einzusetzen, um

a. die bisherige Anerkennungspraxis der Bundeswehrverwaltung auf der Basis
des Berichts der Radarkommission zu evaluieren,

b. seit der Veröffentlichung des Berichts der Radarkommission neu hinzuge-
kommene Forschungsergebnisse zu einer Gesamtschau zusammenzuführen
und zu bewerten,

c. Handlungsempfehlungen, wie zum Beispiel erleichterte Beweislasten, für
Erkrankungen zu erarbeiten, die möglicherweise im Umgang mit Radarge-
räten entstanden sind und zu denen die damalige Radarkommission keine
Beweiserleichterung vorgeschlagen hat, insbesondere zu nichtkarzinogenen
Erkrankungen,

3. erneut darauf zu dringen, dass sich auch Radargerätehersteller angemessen an
den Entschädigungskosten für Erkrankungen infolge des Umgangs mit Radar-
geräten beteiligen,

4. ein unabhängiges Expertengremium zu bilden, um in strittigen Einzelfällen zu
vermitteln.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6649
Berlin, den 10. November 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Begründung

Zu 1. Angesichts der lange zurückliegenden Schädigungszeiträume sind viele Arbeitsplatzverhältnisse heute
nur noch begrenzt rekonstruierbar. Ferner wurden in der Vergangenheit Informationen seitens des Bundesamts
für das Personalmanagement der Bundeswehr und der Strahlenmessstelle der Bundeswehr nur nach sehr langer
Bearbeitungszeit weitergegeben (vgl. Aussagen der Richterin im Rechtsstreit L 12 VE 15/12 vor dem Landes-
sozialgericht Niedersachsen-Bremen und des Richters im Rechtsstreit L 15 VS 19/11 vor dem Bayerischen
Landessozialgericht).

Zu 2. Die unabhängige Expertenkommission zur Frage der Gefährdung durch Strahlung in früheren Radarein-
richtungen der Bundeswehr und der NVA (Radarkommission) hatte 2003 nach nur neunmonatiger Arbeitszeit
einen ausführlichen Bericht vorlegt, darin aber bereits dargelegt, dass grundsätzlich noch Forschungsbedarf
bestünde, „insbesondere zur Untersuchung der gesundheitlichen Auswirkungen von HF-Strahlung sowie zu
einigen Aspekten der ionisierenden Strahlung“ (Bericht der Radarkommission, Seite VII). Daraufhin wurden
viele gesundheitliche Schädigungen anerkannt, den Großteil der vorgelegten Anträge auf Anerkennung einer
Wehrdienstbeschädigung lehnte die Bundeswehrverwaltung aber ab. Einige Verfahren sind auch heute noch
Inhalt gerichtlicher Auseinandersetzungen, häufig in höherer Instanz. Vor diesem Hintergrund erscheint es
sinnvoll, den Umgang mit Anerkennungen, ausgehend vom Bericht der Expertenkommission, zu evaluieren.
Dabei sollten auch die Überlegungen des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages zur „Anerkennung
einer Beweislastumkehr, zumindest jedoch eine[r] erleichterte[n] Beweislast“ (WB 5 – 3624/2014) sowie Ge-
richtsurteile, die andere als die von der Radarkommission genannten Erkrankungen anerkannt haben, z. B.
Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Az. 3 LB 21/11 vom 13.11.2012, berücksichtigt werden.
Zuletzt hat auch der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages eine Petition der Bundesregierung zur Er-
wägung überwiesen, „soweit die Möglichkeit Beweislastumkehr bzw. Beweiserleichterung geprüft werden
soll“ (Petition 1-17-14-5345-044702).

Viele Erkrankungsbilder müssen noch intensiver erforscht werden. Neben den von der Radarkommission be-
nannten Forschungslücken muss insbesondere überprüft werden, ob weitere Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-
Probleme, Genschäden, benigne Tumore, elektromagnetische Hypersensibilität u. a. Folgen des Umgangs mit
Radargeräten sein können. In den vergangenen Jahren hat das Bundesministerium der Verteidigung zwar einige
Untersuchungen angestrengt und auch die Erkrankung chronische lymphatische Leukämie (CLL) wird seit
2011 als mögliche Berufskrankheit Nr. 2402 anerkannt. Bei diesen Bemühungen muss allerdings konstatiert
werden, dass sie nicht mit der erforderlichen Geschwindigkeit angegangen werden. So wurde beispielsweise
gegenüber den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages 2013 eine Arbeitsgruppe
zur „Entstehung gutartiger Tumore nach Strahlenexposition“ angekündigt, die nach einjähriger Arbeitszeit ein
Ergebnis vorlegen sollte. 2015 wurde bekannt, dass die Arbeitsgruppe erst zu diesem Zeitpunkt eingerichtet
wurde und mit einem „Ergebnis nicht vor dem ersten Quartal 2017 zu rechnen“ sei (vgl. Ausschussdrucksachen
17 (12)1162 und 18(12)328 sowie Antwort auf Schriftliche Frage 9/123 der Abgeordneten Doris Wagner).

Eine Gesamtschau aller Ergebnisse ist auch erforderlich, da sich Anpassungen der Anerkennungspraxis laut
Bundesregierung „in aller Regel nicht auf der Basis einzelner Untersuchungen, sondern vielmehr aus der Neu-
bewertung des gesamten Wissens zur relevanten Fragestellung“ ergeben (Antwort der Bundesregierung zu
Bundestagsdrucksache 17/3607, Frage 5). Um diese Gesamtschau zu erzielen, ist eine zweite unabhängige
Radarkommission einzusetzen. Das im Februar 2015 durch das Bundesministerium der Verteidigung veran-
staltete Experten-Symposium, dessen Ergebnis bislang noch nicht vorliegt, konnte diese Aufgabe nicht über-
nehmen, da eine konkrete Aufgabenstellung nicht vorlag und ein mögliches Ergebnis des Symposiums mit der

Drucksache 18/6649 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Abwicklung bestehender Unsicherheiten über die Treuhänderische Stiftung zur Unterstützung besonderer Här-
tefälle in der Bundeswehr und der ehemaligen NVA („Härtefall-Stiftung“) benannt war. Ferner waren einige
wichtige ExpertInnen zum Thema nicht zum Symposium eingeladen.

Zu 3. Bislang gab es lediglich eine Initiative, Spenden, also freiwillige Leistungen ohne Anerkennung einer
Rechtspflicht, von Seiten der Gerätehersteller einzuwerben. Infolge dieser Initiative haben gerade einmal vier
(von 26 angeschriebenen) Unternehmen Spenden über eine Gesamthöhe von 21.000 Euro geleistet, davon le-
diglich 12.000 Euro unmittelbar an die Treuhänderische Stiftung zur Unterstützung besonderer Härtefälle in
der Bundeswehr und der ehemaligen NVA („Härtefall-Stiftung“) (Schreiben des Parlamentarischen Staatssek-
retärs Markus Grübel an die Abgeordnete Doris Wagner vom 24. Juli 2015). Diese Gesamtsumme unterschrei-
tet die durchschnittliche Zuwendung der Stiftung an einzelne Personen, deren Antrag zuletzt positiv beschieden
wurde, und steht somit in keinem Verhältnis zu den entstandenen Schäden.

Zu 4. Die Prüfung eines solches Gremiums hat der Deutsche Bundestag auf Antrag der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2011 beschlossen (Bundestagsdrucksache 17/7354). Die Bun-
desregierung ist diesem Prüfauftrag bis zum heutigen Tag nicht nachgekommen, indem sich ihre diesbezügli-
chen Bemühungen allesamt auf den Zeitraum deutlich vor den Beschluss des Deutschen Bundestages erstre-
cken und für eine weitere Vermittlung in strittigen Einzelfällen nach Ansicht der Bundesregierung „kein Raum“
besteht (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN,
Bundestagsdrucksache 18/4651). Dies widerspricht ganz offensichtlich den Bemühungen des Gesetzgebers.
Ferner ist angesichts der teilweise schon seit Jahren andauernden Streitigkeiten um Arbeitsplatzbedingungen
und mögliche Gefährdungspotenziale zwischen potenziell Geschädigten und der Bundeswehrverwaltung eine
schnelle Lösung erforderlich. Die Einrichtung eines entsprechenden Auditverfahrens wird als Möglichkeit ge-
sehen, offene Verfahren im Sinne aller Beteiligten zeitnah abzuschließen.

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.