BT-Drucksache 18/6551

Kein Frieden und keine Stabilität ohne Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit - Für eine weitsichtige europäische Nachbarschaftspolitik gegenüber den Staaten Nordafrikas

Vom 4. November 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6551
18. Wahlperiode 04.11.2015

Antrag
der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner, Omid Nouripour, Tom Koenigs,
Claudia Roth (Augsburg), Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen),
Agnieszka Brugger, Kai Gehring, Uwe Kekeritz, Dr. Tobias Lindner, Cem
Özdemir, Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Jürgen Trittin, Doris Wagner
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kein Frieden und keine Stabilität ohne Menschenrechte und Rechtsstaat-
lichkeit – Für eine weitsichtige europäische Nachbarschaftspolitik gegen-
über den Staaten Nordafrikas

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die arabischen Staaten Nordafrikas befinden sich seit Ende 2010 in mehr oder we-
niger virulenten Umwälzungsprozessen. Was in Tunesien ausgelöst durch die
Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi begann, führte zum
Sturz der autokratischen und diktatorischen Herrscher Ben Ali (Tunesien); Mubarak
(Ägypten) und Gaddafi (Libyen). Nur in Tunesien selbst gelang es bisher, eine neue
Verfassung zu schaffen und auf dieser Grundlage eine handlungsfähige Regierung
und ein Parlament zu wählen. In Ägypten setzte das Militär die von Moslembrüdern
gebildete Regierung im Juli 2013 ab. Präsident Al-Sisi herrscht seither mindestens
so autoritär wie Hosni Mubarak. In Libyen konnte nach dem Sturz Gaddafis auf-
grund von Konflikten zwischen unterschiedlichen Stämmen und Milizen und regio-
naler Einflussnahme bislang keine funktionierende Staatsstruktur aufgebaut werden.
In Marokko kam es zur Verlagerung einiger Kompetenzen vom König auf den Mi-
nisterpräsidenten und das Parlament. Nur in Algerien kam es bisher zu keinen nen-
nenswerten Veränderungen.

Die ständig zunehmende Zahl von Flüchtlingen in dieser Region erschwert die Lage
zusätzlich. Die Länder und ihre Menschen sind überfordert und brauchen dringend
mehr und gezieltere Unterstützung seitens der EU und ihrer Mitgliedstaaten und
keine weitere Abschottungs- und Abwehrpolitik.

Der Frieden und die Stabilität in Europa hängen heute mehr denn je vom Frieden
und der Stabilität in der Nachbarschaft, also auch in Nordafrika, ab. An einem lang-
fristig angelegten Umgang mit unseren Nachbarn, an der Einhaltung von menschen-
rechtlichen und rechtsstaatlichen Standards gegenüber Bürgerinnen und Bürgern,
aber auch gegenüber Flüchtlingen in der Region wird sich die Politik Europas und
seine moralische Glaubwürdigkeit messen lassen müssen. Eine solche Politik ist in
erster Linie ein Gebot der Menschlichkeit, langfristig aber auch der ökonomischen

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und politischen Vernunft, denn die Staaten Nordafrikas haben das Potenzial, zu
wichtigen Handels- und Kooperationspartnern Europas zu werden.

Die gesellschaftlichen Umbrüche in Nordafrika waren ein Aufbegehren gegen auto-
ritäre politische Strukturen und eine Wirtschaftspolitik, die Dynamik erstickte und
Wohlstand und Aufstiegsmöglichkeiten wenigen Privilegierten vorbehielt. Diese
Regime wurden von Deutschland und der Europäischen Union mit der Maßgabe po-
litischer Stabilität jahrzehntelang gefördert und gestützt. Diese Politik ist gescheitert
und verlangt nach einem grundlegenden Politikwechsel.

Ein zentrales Element dieses Politikwechsels ist die Europäische Nachbarschaftspo-
litik (ENP). Die Europäische Kommission hat nun einen neuen Entwurf vorgelegt,
der eine konsequente Orientierung an Menschenrechten vermissen lässt. Die Bun-
desregierung hat diesen Entwurf bislang nicht kommentiert.

Eine Abkehr von der selbstkritischen Analyse der eigenen Politik vor den Umbrü-
chen von 2011 und eine Rückkehr zum alten Verständnis von „Stabilität“ im Sinne
einer trügerischen Friedhofsruhe ist aber die falsche Antwort auf die aktuellen Prob-
leme in der Region.

Wenn in Staaten, die Deutschland als enge Partner erachtet und mit denen es sicher-
heitspolitisch, entwicklungspolitisch oder wirtschaftlich kooperiert, zentrale Prinzi-
pien wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- oder Versammlungsfreiheit eklatant miss-
achtet werden, kann dort auch keine echte Stabilität einkehren, und Versuche der
nationalen Versöhnung werden im Keim erstickt.

Das Beispiel Ägyptens zeigt, dass Repression nur zu Scheinstabilität führt. Präsident
Al-Sisi betreibt seit seiner Machtübernahme eine Politik systematischer und brutaler
Repression gegen alle Kräfte, die seiner Regierung und dem Militär mit Kritik be-
gegnen. In den vergangenen zwei Jahren wurden Zehntausende inhaftiert, teilweise
monatelang ohne Anklage festgehalten und mit Strafverfahren überzogen, unter
ihnen tausende AnhängerInnen der Muslimbruderschaft, JournalistInnen, AnwältIn-
nen und Oppositionelle. Folter und ungeklärte Todesfälle in Polizei- und Geheim-
dienstgewahrsam sind an der Tagesordnung. Gerichtsverfahren werden in Massen-
verfahren mit mehreren hundert Angeklagten abgehandelt, dabei wird auch wieder
die Todesstrafe verhängt –allein in der ersten Jahreshälfte 2015 mindestens 233 Mal.
Die Menschenrechtslage ist schlechter als unter dem Mubarak-Regime, und die Ab-
haltung von freien Wahlen wurde immer wieder verschoben. Diese Politik der Un-
terdrückung statt Beteiligung Aller führt zu einer Radikalisierung weiterer Teile der
Gesellschaft, die wiederum zur Rechtfertigung der Repression herangezogen wird.
Die mangelnde soziale Gerechtigkeit und die fehlende Beteiligung von Frauen ver-
stärken diese Tendenzen zusätzlich.

Tunesien hat als einziges Land der Region eine positive Entwicklung in Richtung
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie genommen. Die Terroranschläge in Tunis und
Sousse bieten jedoch reaktionären Kräften einen willkommenen Anlass, den alten
Sicherheitsapparat wieder zu stärken. Das neue Anti-Terrorgesetz beispielsweise
öffnet die Tür für die Verfolgung der kritischen Zivilgesellschaft. Nur durch starke,
rechtsstaatlich gesinnte Institutionen kann einem Missbrauch dieser Gesetze vorge-
beugt werden.

Die Zusammenarbeit mit Diktatoren darf zudem kein Mittel zur Verminderung der
Flüchtlingszahlen in Europa sein. Langfristig werden nur stabile Rechtsstaaten in
Nordafrika selbst einen Beitrag zur Hilfe für Flüchtlinge leisten können. Es ist daher
falsch, sich beim Umgang mit der Flüchtlingsfrage auf Grenzschutzmissionen zu
fokussieren oder gar auf die Idee eines militärischen Eingreifens gegen die Infra-
strukturen, mit denen die Flucht organisiert wird. Vielversprechender ist im Falle
Libyens eine noch aktivere Unterstützung der internationalen Bemühungen zur Bil-
dung einer nationalen Einheitsregierung, in den anderen Staaten die Förderung von

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Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechts- sowie Frauengruppen und die Un-
terstützung der kommunalen Selbstverwaltung.

Angesichts des schwierigen politischen Umfelds bedarf es einer besseren politischen
Abstimmung der EU-Staaten untereinander mit ihren transatlantischen Partnern und
Regionalorganisationen (Arabische Liga, Organisation der Islamischen Konferenz,
Afrikanische Union). Auch eine aktivere Politik gegenüber den wichtigen Regional-
mächten (Türkei und die Golfstaaten) ist vonnöten, besonders wenn diese wie im
Falle Libyens konfliktverschärfend agieren.

Die Politik der Bundesregierung gegenüber der Region ist ambivalent und inkonsis-
tent. Einerseits bemüht sie sich mit den libyschen Konfliktparteien um eine diplo-
matische Lösung am Runden Tisch. Andererseits lädt sie den autoritären ägyptischen
Präsidenten al-Sisi nach Berlin zum Abschluss gemeinsamer Wirtschafts-Deals ein.
Vor allem aber liefert sie nach wie vor Waffen und Rüstungsgüter in die Region. Sie
fällt damit zurück in das alte Verständnis von Stabilität, das sich als trügerisch und
falsch erwiesen hat.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich dafür einzusetzen, dass Menschenrechtsschutz, Rechtsstaatlichkeit und
Demokratie in den eigenen Beziehungen zu den Staaten Nordafrikas und bei
der Neuformulierung der Europäischen Nachbarschaftspolitik handlungslei-
tend werden und künftig alle einschlägigen Instrumente der EU je nach Tiefe
der Zusammenarbeit zumindest auf die Erreichung dieser Ziele ausgerichtet
werden;

2. das „Mehr für Mehr“-Prinzip, das zu eng auf Regierungshandeln fokussiert ist,
zu verbinden mit direkter Unterstützung auch zivilgesellschaftlicher Akteure in
den verschiedenen Staaten, um Räume für deren Arbeit zu schaffen und zu er-
weitern sowie Maßnahmen für mehr Rechtsstaatlichkeit und kommunale
Selbstverwaltung fördern zu können;

3. in Regierungsverhandlungen Druck auf die Staaten Nordafrikas auszuüben, da-
mit die zunehmenden Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Akteure zurück-
genommen werden;

4. die politischen Institutionen in Tunesien nachhaltig zu unterstützen und öffent-
lich Stellung zu möglichen Einschränkungen der Bürgerrechte durch die Anti-
terrorgesetze zu beziehen;

5. soziale Rechte zu unterstützen und mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen, in-
dem die Erleichterung von Handel und faire Handelsbedingungen gefördert
werden. In den Projekten, die von der Europäischen Kommission, von der Eu-
ropäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD),von der Europä-
ischen Investitionsbank (EIB) sowie von der Weltbank oder der Afrikanischen
Entwicklungsbank gefördert werden, muss vor Projektbeginn sichergestellt
werden, dass die Einbeziehung der Zivilgesellschaft und Gewerkschaften und
die Einhaltung ökologischer, sozialer und rechtsstaatlicher Standards bei der
Umsetzung gewährleistet werden;

6. gemäß der Politischen Grundsätze der Bundesregierung keine Waffenlieferun-
gen in Spannungsgebiete zu genehmigen, diese Praxis auch für den Export von
Überwachungssoftware anzuwenden und Kooperationen im Sicherheitsbereich
an die Durchführung von Sicherheitssektorreformen zu koppeln;

7. die nationalen Transformationspartnerschaften fortzuführen und im Blick auf
die veränderten politischen Umstände und auf ihre Konsistenz mit den Pro-
grammen anderer EU-Staaten und der EU-Nachbarschaftspolitik anzupassen;

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8. sich von der wenig realistischen, umfassenden Vorstellung zu verabschieden,
dass es ein einheitliches Konzept für alle Staaten gibt und stattdessen den un-
terschiedlichen Lagen und Bedürfnissen der jeweiligen Staaten mit fokussierten
und flexiblen Assoziations-Abkommen und Aktionsplänen zu begegnen. Diese
müssen dauerhaft vom Rat politisch unterstützt und regelmäßig einer selbstkri-
tischen Überprüfung unterzogen werden;

9. den zivilgesellschaftlichen, wirtschaftlichen und bildungspolitischen Aus-
tausch zwischen den Staaten Nordafrikas und Deutschland und den anderen
EU-Staaten durch eine liberalere Visapolitik zu fördern;

10. die Vereinbarungen zur Mobilitätspartnerschaft durch eine gemeinsame Ein-
wanderungspolitik innerhalb der EU und zwischen der EU und den Nachbar-
staaten sowie durch Möglichkeiten zirkulärer Arbeits- und Ausbildungs-Mig-
ration zu ersetzen.

Berlin, den 3. November 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Begründung

Die Staaten Nordafrikas stehen fast fünf Jahre nach dem Beginn der Umbruchsprozesse vor großen politischen
und wirtschaftlichen Herausforderungen. Sie müssen Strukturen schaffen, die ausreichend wirtschaftliches
Wachstum für ihre ebenfalls stark wachsenden Bevölkerungen generieren, ihre oftmals politisch fragmentierten
Bevölkerungen an einem friedlichen politischen Prozess beteiligen, sich gegen die Bedrohung des islamisti-
schen Extremismus zur Wehr setzen und auch die ökologischen Herausforderungen der Region durch den Kli-
mawandel bewältigen. Es gibt in allen Ländern starke Kräfte, die an einer Entwicklung zu Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit kein Interesse haben. Gleichzeitig fehlt es auf Seiten der Zivilgesellschaft bzw. der politi-
schen Opposition oftmals an Know-how, sich für ihre Ziele einzusetzen. Jedes der Länder hat sehr unterschied-
liche Ausgangssituationen im Umgang mit diesen Herausforderungen, die von der Stabilisierung demokrati-
scher Strukturen in Tunesien bis hin zu einem Bürgerkrieg unter Beteiligung des sogenannten Islamischen
Staats in Libyen reichen.

Die Europäische Union kann als wohlhabender nördlicher Nachbar, mit dem die Region historisch, kulturell,
politisch und wirtschaftlich eng verflochten ist, positiven Einfluss ausüben. Dazu aber muss sie, besonders
nach der Erfahrung der lang anhaltenden Proteste gegen die autoritären Regime der Region, eine auf ihre de-
mokratischen Grundwerte gestützte Politik betreiben. Die kurzfristige Orientierung an wirtschaftlichen Profi-
ten oder einer politischen Scheinruhe bringt langfristig erheblichen Schaden mit sich.

Diesen Schaden zu vermeiden ist ein wesentliches Interesse Europas. Angesichts der geografischen Nähe und
des großen Entwicklungspotenzials einer Region mit erheblichem Bevölkerungswachstum muss Europa die
Menschen in Nordafrika nach allen Kräften bei wirtschaftlicher Entwicklung und politischer Selbstbestimmung
unterstützen.

Die Überarbeitung der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) bietet die Chance, einen neuen Ansatz und
eine neue Politik zu formulieren. Dazu muss allerdings nach Wegen gesucht werden, wie Menschenrechte und
Rechtsstaatlichkeit trotz und in andauernden Krisen und Konflikten Richtschnur der eigenen Interessen und
des eigenen politischen Handelns sein können.

Es ist richtig, dass die EU-Kommission jetzt erneut die Überarbeitung dieser Politik in Angriff genommen hat
und im Rahmen eines öffentlichen Konsultationsprozesses (Joint consultation paper – Towards a new European
Neighbourhood Policy Join(2015)6 final) ihren bisherigen Ansatz transparent zur Diskussion stellt, bevor sie
im Herbst dem Rat ihren abschließenden Reformvorschlag vorlegen wird. Leider sind das Aufschlagpapier,
der Fragenkatalog ebenso wie Äußerungen der Kommissare geprägt von einer Abkehr von Menschenrechten

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als Richtschnur, die zumindest theoretisch im Rahmen des „More for more“ Prinzips noch der aktuelle Rahmen
ist.

Bei den Projekten wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik ist es geboten, die politischen
Auswirkungen hinreichend zu berücksichtigen. Die europäischen Staaten besitzen Know-how und Schlüssel-
technologien, die wichtige Beiträge zur wirtschaftlichen Entwicklung in Nordafrika leisten können. Sie müssen
daher ihren Einfluss nutzen, um auf eine nachhaltige Implementierung der gemeinsamen Projekte zu bestehen.
In der Praxis dagegen lassen sie sich oft von autoritären Regierungen erpressen und geben politische Prinzipien
zugunsten von Großaufträgen auf, wie das der Fall Siemens in Ägypten kürzlich gezeigt hat.

Neben den autoritären Regierungen stellen islamistische Extremisten die größte Gefährdung Nordafrikas dar.
Letzterer muss auch mit militärischen und polizeilichen, vor allem aber mit politischen Mitteln begegnet wer-
den. Eine Unterdrückung aller Kräfte des politischen Islams ist ein folgenschwerer Irrweg.

Aufgrund dieser Herausforderungen und der dramatischen Entwicklungen vor allem in Ägypten und Libyen
den Schluss zu ziehen, dass die Proteste und Aufstände gescheitert seien und in den Staaten Nordafrikas eine
Entwicklung zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht möglich ist, wäre falsch und unverantwortlich.
Es ist aber klar, dass wir erst am Beginn eines langen und leider auch vermutlich oft gewaltsamen Prozesses
stehen, der von außen oft nur bedingt zu beeinflussen ist.

Der friedliche Übergang zu einem demokratisch verfassten System in Tunesien zeigt, dass die Beteiligung des
ganzen politischen Spektrums der richtige Ansatz ist. Die Bundesrepublik hat in der Tat einen wichtigen Bei-
trag zur Unterstützung dieser Entwicklung geleistet, der in Tunesien große Anerkennung findet. Dennoch hat
die demokratische Transformation in Tunesien mit dem erfolgreichen Wahlprozess 2014 erst begonnen. Die
Umsetzung der in der Verfassung formulierten demokratischen Reformen hat noch nicht begonnen. Der Si-
cherheitssektor ist im Wesentlichen noch wie unter dem Regime Ben Alis aufgestellt. Ohne Reformen wird er
nicht in der Lage sein, auf die Bedrohung seitens dschihadistischer Gruppen effektiv zu reagieren. Notwendige
Wirtschaftsreformen wurden noch nicht durchgeführt, und der demokratische Umbau der öffentlichen Verwal-
tung durch Dezentralisierung ist noch nicht auf den Weg gebracht. Die notwendige Unterstützung dieser Pro-
zesse muss mit einem kritischen Ansatz verbunden sein, um die Re-Etablierung von undemokratischen Ver-
fahren und alten Eliten zu verhindern.

Gerade die fortgesetzte Lieferung von Rüstungsgütern nach Nordafrika muss mit Blick auf die Erfahrung der
vermeintlichen „Stabilität“ in der Region vor 2010 als besonders kritisch angesehen werden. Deutschland hatte
Libyen unter Gaddafi noch 2009 Ausfuhrgenehmigungen im Wert von 53,1 Mio. € erteilt und unter anderem
Radaranlagen zur Gefechtsfeldüberwachung und Kommunikationsausrüstung zur Kriegsführung geliefert.
Zahlreiche afrikanische Konflikte werden auf die frei verfügbaren Waffen aus Libyen nach dem Sturz Gaddafis
zurückgeführt. Aufgrund fehlender Grenzüberwachung, unsicherer Lagerungsstätten, schlechter Regierungs-
führung und Korruption ist in der gesamten Region Nordafrikas eine Vielzahl von Waffen im Umlauf.

Die Länder Algerien, Ägypten und Marokko firmieren auf den Plätzen 18, 26 und 29 des Globalen Militarisie-
rungsindex des BICC.

Ägypten ist bis heute dem Internationalen Chemiewaffenabkommen nicht beigetreten. Nichtsdestotrotz erhielt
es zuletzt im Juni 2015 die Genehmigung für den Erhalt von Zubehör zum Einbau in Fregatten und ein Soft-
ware-Paket zur Kampfwertsteigerung von Swingfire-Panzerabwehrraketen.

An Algerien werden aus Deutschland Patrouillenboote und Panzer verkauft, und es soll sogar der Bau einer
ganzen Panzerfabrik erwogen werden, in der in den nächsten Jahren bis zu 1.200 Fahrzeuge produziert werden
könnten. Die Bundesregierung verfolgt offenbar die Strategie, Algerien als Beispiel für ihre „Ertüchtigungs-
strategie“ zu nehmen, indem sie das Land zum „Stabilitätsanker“ erklärt. Zwar hat Algerien eine Plattform für
die Verhandlungen der malischen Regierung mit unterschiedlichen Rebellengruppen geboten, die in diesem
Frühjahr erfolgreich mit einem Vertrag abgeschlossen werden konnten, aber innenpolitisch ist die Lage unver-
ändert schlecht. Die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) verweist auf die sehr schlechte
Menschenrechtslage und interne Gewalt. All dies sind Gründe, die gemäß der Politischen Grundsätze der Bun-
desregierung gegen eine Waffenlieferung sprechen. Die GKKE warnt auch entsprechend, diese Politik der
„Ertüchtigung“ im Falle Algeriens fortzusetzen.

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