BT-Drucksache 18/6409

Mögliche Regelungslücke bei Rückforderungen gegenüber erwerbstätigen Arbeitslosengeld-II-Beziehern

Vom 13. Oktober 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6409
18. Wahlperiode 13.10.2015

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald,

Klaus Ernst, Dr. Gregor Gysi, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Azize Tank,

Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Pia Zimmermann

und der Fraktion DIE LINKE.

Mögliche Regelungslücke bei Rückforderungen gegenüber erwerbstätigen
Arbeitslosengeld-II-Beziehern

Im Februar 2015 (aktuell verfügbare Daten) gab es im Bundesgebiet 1 223 292
erwerbstätige Arbeitslosengeld-II-Beziehende. Davon waren 1 114 566 abhängig
beschäftigt und 118 326 selbständig. Der Lohn wird in der Regel innerhalb eines
Beschäftigungsverhältnisses am Ende des Monats gezahlt. Selbständige haben
überwiegend schwankende Einkommen und können Einkommen nicht verläss-
lich voraussehen. Im Leistungsbezug nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
(SGB II) stellen Erwerbseinkommen und gleichzeitiger Leistungsbezug regelmä-
ßig ein Problem dar. Dies betrifft in erster Linie die als Aufstocker bezeichneten
Leistungsberechtigten negativ, beschäftigt die Jobcenter und letztendlich die So-
zialgerichte.

Die Anrechnung von Erwerbseinkommen ist zwingend im SGB II vorgeschrie-
ben. Vor allem bei den selbstständig Tätigen unter den „Aufstockern“ kommt es
vielfach dazu, dass wegen schwankender Einkünfte die Grundsicherung nur vor-
läufig bewilligt wird. Teilweise wird von der Rechtsprechung geradezu von einer
Pflicht zur vorläufigen Bescheidung bei schwankenden Einkommen gesprochen
(vgl. Sozialgericht Chemnitz, Urteil vom 16. August 2011, Az.: S 37 AS 1853/10).

Als Folge der vorläufigen Bescheidung wird im späteren „abschließenden“ Be-
scheid nach § 328 Absatz 3 SGB III die Zahlung der vorläufig bewilligten Be-
träge endgültig zuerkannt oder überzahlte Beträge werden zurückgefordert. Je
nach Dauer des Zeitraumes zwischen der vorläufigen und der abschließenden Be-
scheidung durch den Grundsicherungsträger können so über mehrere Jahre ganz
erhebliche Überzahlungsbeträge zu Lasten der Beziehenden von Grundsiche-
rungsleistungen auflaufen. Bestätigen sich hingegen die Annahmen der vorläufi-
gen Bescheide, werden abschließende Bescheide nur auf Antrag des Leistungs-
berechtigten ausgestellt und verschickt. Diese Vorgehensweise ist in § 328
Absatz 3 SGB III ausdrücklich angeordnet. Der gesetzliche Verzicht auf Ausstel-
lung und Versendung der bestätigenden Endbescheide wird den Grundsiche-
rungsbeziehenden schon mit der vorläufigen Bescheidung mitgeteilt. Viele der
Leistungsberechtigten schließen daraus, dass – wenn sie nach Abgabe ihrer soge-
nannten abschließenden Angaben zum Bewilligungszeitraum zum Ende der Be-
willigungsperiode nichts mehr hören – ihre Bescheide endgültig sind und sie in
der Folge keine Rückforderungen erwarten müssen.

Drucksache 18/6409 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

 

Wie das Sozialgericht Hamburg mit Urteil vom 23. April 2012, Az.: S 6
AS 273/11, verdeutlicht hat, stellt die vorläufige Bescheidung die Grundsiche-
rungsbeziehenden vielfach schlechter, als sie nach den in § 40 SGB II angeord-
neten Verfahrensvorschriften des SGB X stünden. Die vorläufige Bescheidung
erlaubt als speziellere Gesetzesregelung gegenüber den Betroffenen Rückforde-
rungen, ohne dass die umfassenden Schutzvorschriften der §§ 45 bis 50 SGB X
(Ausschlussfristen, Verjährungsvorschriften und Vertrauensschutzvorschriften)
zugunsten der Betroffenen Anwendung finden.

Da die bereits knapp bemessenen Grundsicherungsleistungen entsprechend ihres
Charakters zur Deckung des Existenzminimums regelmäßig verbraucht wurden,
fällt es den Betroffenen außerordentlich schwer bzw. ist es ihnen vielfach nicht
möglich, die teilweise über längere Zeiträume überzahlten Beträge zurückzuzah-
len. Mit dem Ausschluss der Schutzvorschriften der §§ 45 bis 50 SGB X besteht
hier eine Hartz-IV-Sonderregelung zum Nachteil der Betroffenen, die umgehend
zu korrigieren ist.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch war in den Jahren 2005 bis September 2015 jährlich die Anzahl
der vorläufigen Bescheide bei erwerbstätigen Leistungsberechtigten (bitte
hier und bei den weiteren Fragen nach abhängig Beschäftigten und Selbst-
ständigen und nach Bundesländern differenzieren)?

2. Wie viele der vorläufigen Bescheide im Zeitraum der Jahre 2005 bis Sep-
tember 2015 wurden im endgültigen Bescheid mit Rückforderungen beschie-
den (bitte absolute Zahlen sowie Relation zu vorläufigen Bescheiden pro Jahr
angeben; Angaben bitte auch nach Bundesländern)?

3. Wie hoch waren im Jahresdurchschnitt die Rückforderungen durch die end-
gültigen Bescheide (pro Rückforderung sowie in der Summe)?

4. Welcher Zeitraum lag im Durchschnitt zwischen dem vorläufigen und dem
endgültigen Bescheid (bitte ebenfalls den maximalen Zeitraum angeben und
Angaben pro Jahr machen)?

5. Welchen Zeitraum zwischen einem vorläufigen und einem endgültigen Be-
scheid hält die Bundesregierung für maximal zulässig, und warum?

6. Wo ist der maximal zulässige Zeitraum geregelt, bzw. was spricht dagegen,
eine solche Regelung gesetzlich zu verankern?

7. Welche Rückforderungsbeträge sind aus Rückforderungen nach § 328 Ab-
satz 3 Satz 2 SGB III i. V. m. § 40 Absatz 2 Nummer 1 SGB II für den ge-
nannten Zeitraum in den einzelnen Bundesländern aufgelaufen?

8. Wie viele Grundsicherungsbeziehende sind in den einzelnen Bundesländern
von Rückforderungen betroffen?

9. Wie stellen sich die verschuldensunabhängigen und die verschuldeten Rück-
forderungen seit dem 1. Januar 2011 in den einzelnen Bundesländern dar?

10. Werden bei dem Verfahren der Festsetzung der Rückforderung und dem Ver-
fahren der Geltendmachung der Zahlungsforderung die aktuellen Einkom-
mens- und Vermögensverhältnisse der Betroffenen berücksichtigt?

Wenn ja, wie?

Wenn nein, warum nicht?

11. In wie vielen Fällen pro Jahr wurden die Rückforderungen vollständig begli-
chen?

12. In wie vielen Fällen pro Jahr wurden Widersprüche gegen die Rückforderun-
gen eingelegt, und in wie vielen Fällen waren diese erfolgreich?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6409

 

13. Wie viele Klagen gegen Rückforderungen wurden vor den Sozialgerichten
in den Jahren 2005 bis 2014 erhoben, und wie stellt sich der Abschluss der
Klagen in den einzelnen Instanzen dar?

14. Wie bewertet die Bundesregierung die bisherige Praxis, und welche Schluss-
folgerungen und Konsequenzen zieht sie aus dem Vorwurf, dass mit der Er-
stellung von vorläufigen Bescheiden durch den Ausschluss der Schutzvor-
schriften der §§ 45 bis 50 SGB X zum Nachteil der betroffenen Leistungsbe-
rechtigten agiert wird?

Berlin, den 13. Oktober 2015

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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