BT-Drucksache 18/6118

Schaden durch Betrug mit manipulierten Kassensystemen und mögliche Einführung der INSIKA-Lösung zur Betrugssicherung

Vom 23. September 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6118
18. Wahlperiode 23.09.2015

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Paus,
Dr. Gerhard Schick und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schaden durch Betrug mit manipulierten Kassensystemen und mögliche
Einführung der INSIKA-Lösung zur Betrugssicherung

Es gibt seit mehreren Jahren Hinweise auf einen erheblichen Einnahmeausfall der
öffentlichen Hand sowie einer damit verbundenen Wettbewerbsverzerrung für
ehrliche Unternehmen durch Manipulation und (Steuer-) Betrug mit Registrier-
kassendaten. So hat der Bundesrechnungshof bereits im Jahr 2003 sehr konkrete
Hinweise auf systematischen (Umsatz-) Steuerbetrug aufgelistet (Bundestags-
drucksache 15/2020, Bemerkung 54). Besonders spektakulär wurde eine nachge-
wiesene Kassenmanipulation zuletzt durch den Fall einer einzigen Eisdiele be-
legt, die in wenigen Jahren rund 2,8 Mio. Euro Steuern und Abgaben hinterzogen
hat (www.sis-verlag.de/archiv/andere-sonstige-steuerarten/rechtsprechung/2179-
fg-rheinland-pfalz-haftung-fuer-hinterzogene-steuern-fg-rheinland-pfalz
haftung-fuer-hinterzogene-steuern). Ähnliche Fälle hat es z. B. auch bei Apothe-
ken gegeben (vgl z. B. DIE WELT vom 4. April 2014 „Steuerbetrug per Knopf-
druck“) und verschiedene Finanzministerkonferenzen haben sich deswegen mit
dem Thema befasst.

Alle 16 Bundesländer haben am 25. Juni 2015 die Zustimmung zu einem Bericht
mit einem Maßnahmenpaket gegen den Betrug mit Registrierkassen gegeben, al-
lein das Bundesministerium der Finanzen (BMF) hat seine Zustimmung zu die-
sem Bericht verweigert. Insbesondere hat das BMF die Berechnung der Steuer-
ausfälle basierend auf einem Bericht der OECD und Annahmen des Finanzminis-
teriums in Nordrhein-Westfalen sowie später geäußerte Zahlen des Bundesrech-
nungshofs in Höhe von 5 bis 10 Mrd. Euro massiv in Frage gestellt. In einem
Bericht an den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages heißt es: „Nordrhein-
Westfalen bezieht sich in Antworten auf parlamentarische Anfragen im nord-
rheinwestfälischen Landtag auf den OECD-Bericht ‚Umsatzverkürzung mittels
elektronischer Kassensysteme‘ aus dem Jahre 2013. Die darin enthaltenen Aus-
sagen zu Kanada, insbesondere der Provinz Québec, werden auf deutsche Ver-
hältnisse übertragen. Nordrhein-Westfalen legt dabei Ausfallschätzungen der Fi-
nanzbehörde von Québec in Höhe von 1,3 Mrd. CAD für den Restaurantsektor
zugrunde. Nach Veröffentlichung der Finanzbehörde Québec wird jedoch von
Steuerausfällen in Höhe von 133. Mio. CAD für zwei Jahre (2007-2008) ausge-
gangen“ (vgl. Ausschussdrucksache des Finanzausschusses des Deutschen Bun-
destages 18(7)202).

Tatsächlich ist in der Antwort von Dr. Norbert Walter-Borjans auf eine Anfrage
aus dem Landtag NRW aber von verkürzten Umsätzen (nicht von Steuerausfäl-
len) in Höhe von 1,3 Mrd. CAD die Rede (www.landtag.nrw.de/
portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMV16-2057.pdf?von=1&bis=0).

Drucksache 18/6118 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Daraus werden laut der im OECD-Bericht wiedergegebenen Studie Steueraus-
fälle in Höhe von etwa 417 Mio. CAD abgeleitet (OECD-Bericht „Umsatzsteu-
erverkürzung mittels elektronischer Kassensysteme: Eine Bedrohung für die
Steuereinnahmen“, S. 6 bis 7, www.fm.nrw.de/presse/anlagen/2013-06-00_
OECD_-_Umsatzverk__rzung_mittels_elektronischer_Kassensysteme__eine_
Bedrohung_f__r_die_Steuereinnahmen.pdf). Entsprechend der vom BMF dem
Sachstandsbericht beigefügten Anlage 2 setzen sich die genannten 417 Mio. CAD
Steuerausfälle aus 133 Mio. CAD Umsatzsteuerverlust und 284 Mio. CAD Ein-
kommensteuerausfällen zusammen. Hierbei handelt es sich jedoch lediglich um
die Steuerausfälle der Provinz Québec. Hinzu treten gemäß der Fußnote 11 zu-
sätzliche Steuerverluste des Staates Kanada in etwa der gleichen Höhe. Der ge-
nannte Zeitraum bezieht sich auf das abweichende kanadische Fiskaljahr 2007 bis
2008, umfasst somit lediglich zwölf Monate und nur eine einzige Branche (vgl.
Boston University School of Law Working Paper No. 10-04, Seite 3,
www.bu.edu/law/faculty/scholarship/workingpapers/documents/Ainsworth
022610.pdf). In der vom BMF zitierten Studie selbst werden zudem die Steuer-
ausfälle in Deutschland allein im Restaurant-Sektor auf 4,5 Mrd. CAD (ca.
3 Mrd. Euro) jährlich geschätzt. Die Argumentation des BMF weist damit grobe
Fehlinterpretationen der vorgelegten Studie auf. Die Bedenken des BMF aus dem
Bericht an den Finanzausschuss gegenüber der Finanzverwaltung in NRW, der
OECD und dem Bundesrechnungshof sind damit deutlich widerlegt (vgl. auch
http://datenbank.nwb.de/Dokument/Anzeigen/547275/?shigh=BMF%2B
Kassenf%C3%BChrung&listPos=7&listId=3271132).

Allein für das Taxigewerbe hat eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe im Jahr 2001
eine Umsatzverkürzung von 1,3 Mrd. Euro berechnet, aus denen sich hier Steu-
erausfälle im dreistelligen Millionenbereich ableiten lassen (www.claudia-
haemmerling.de/2011/dapd-0119-taxigewerbe.pdf). Die Umsetzung eines fäl-
schungssicheren Konzeptes für das Taxigewerbe im Bundesland Hamburg hat zu
einer deutlichen Wettbewerbsegalisierung geführt, die vom Taxigewerbe mit gro-
ßer Zustimmung begleitet wurde. Neben höheren Steuereinnahmen profitieren
insbesondere auch die Sozialversicherungen, weil durch betrugssichere Taxame-
ter auch Schwarzarbeit und Sozialversicherungsbetrug verhindert wird.

Außer den Bedenken bezüglich des Ausmaßes der Steuerausfälle benennt das
BMF eine Reihe von weiteren Gründen, um die Blockade gegen die Einführung
einer technisch möglichen Betrugssicherung von Registrierkassen zu begründen:
den bürokratischen Aufwand, europarechtliche Bedenken und die technische
Leistungsfähigkeit entsprechender Konzepte insbesondere gegen das bereits ent-
wickelte INSIKA-Verfahren (vgl. Ausschussdrucksache des Finanzausschusses
des Deutschen Bundestages 18(7)202).

Wir fragen die Bundesregierung:

Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass das Steuerjahr in Québec ei-
nen Zeitraum von zwölf Monaten umfasst, die Angabe 2008/2009 in der zi-
tierten Studie der Boston University School sich also auf einen Zeitraum von
zwölf Monaten und nicht, wie in der Finanzausschussdrucksache 18(7)202
angegeben, auf eine Zeitraum von 24 Monaten bzw. 2 Jahren bezieht, sowie
die gesamten Steuerausfälle aus der Studie zum Kassenbetrug in Québec
(Boston University School of Law Working Paper No. 10-04, Seite 3) zu-
sammengerechnet 417 Mio. CAD zuzüglich von Steuerausfällen in etwa
gleicher Höhe für den Staat Kanada betragen und das Finanzministerium
NRW auf parlamentarische Anfragen von Umsatz- und nicht von Steuerver-
kürzung (www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/
MMV16-2057.pdf?von=1&bis=0) berichtet?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6118

Wenn die Bundesregierung die Auffassung aus Frage 1 teilt, hat das BMF
vorsätzlich oder infolge von falschen Annahmen den Finanzausschuss des
Deutschen Bundestages unzutreffend über die abgefragte Sachlage zum
INSIKA-Verfahren informiert?

Wenn die Bundesregierung die Auffassung aus Frage 1 teilt, kommt sie zu
einer anderen Bewertung der von der OECD, dem Bundesrechnungshof und
den Bundesländern vertretenen Auffassung, der Steuerschaden aus Kassen-
und Abrechnungsbetrug betrage 5 bis 10 Mrd. Euro, oder plant die Bundes-
regierung eigene Erhebungen, weil die Aussagen der OECD, des Bundes-
rechnungshofs oder des Finanzministeriums Nordrhein-Westfalen als nicht
belastbar bewertet werden?

Wann wird die Bundesregierung dem Wunsch der Länder nachkommen, ei-
nen Gesetzesvorschlag zur technischen Betrugssicherung von Registrierkas-
sen vorzulegen?

Inwieweit kann der im Jahr 2008 diskutierte Entwurf einer gesetzlichen Lö-
sung zur Betrugssicherung (vgl. Bundestagsdrucksache 16/10488) von Re-
gistrierkassen Grundlage eines neuen Entwurfs zur Lösung der Betrugsan-
fälligkeit sein?

Wie viele Fördergelder des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie
wurden für die Entwicklung der INSIKA-Lösung investiert, und hält die
Bundesregierung diese Fördergelder für eine Fehlinvestition, weil sie den
technischen Innovationsgrad und Sicherheitsstandard der von der Physika-
lisch-Technischen Bundesanstalt Berlin (PTB) und verschiedenen Kassen-
herstellern entwickelten Lösung infrage stellt?

Sind der Bundesregierung alternative technische Kassensicherungssysteme
bekannt, und wie bewertet sie den Sicherheitsstandard dieser Lösungen und
die mit deren Einführung verbundenen Bürokratiekosten für die Steuer-
pflichtigen und die Verwaltung im Vergleich zur INSIKA-Lösung?

Wie wird die Prüfbarkeit der Einhaltung dieser Lösungen durch die Verwal-
tung bewertet, und ist diese mit den derzeitigen Personalressourcen der Fi-
nanzverwaltung leistbar?

Wie bewertet die Bundesregierung die Aussagen der PTB in Bezug auf die
Sicherheitsstufe von INSIKA, und welche konkreten technischen Bedenken
hat die Bundesregierung gegenüber der INSIKA-Lösung insbesondere vor
dem Hintergrund des technischen Einsatzes der INSIKA-Lösung im Taxige-
werbe in Hamburg?

Welche anderen Kenntnisse liegen der Bundesregierung vor, aufgrund des-
sen eine technische Lösung aus dem Jahr 2012 keinesfalls als gesetzliche
Lösung implementiert werden solle (vgl. Ausschussdrucksache des Finanz-
ausschusses des Deutschen Bundestages 18(7)202)?

Sind der Bundesregierung technische Lösungen bekannt, die einfacher
und/oder billiger in Registrierkassen-, PC-Kassen- oder Cloud-Kassen-Sys-
teme (also technologieoffen) implementiert werden könnten, als die patent-
und lizenzfreie INSIKA-Lösung, und welche technischen Restriktionen sind
im Bereich der Kassensysteme mit diesen Lösungen verbunden?

Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der Entwicklung im Taxigewerbe von Hamburg, indem seit Einführung
einer faktischen INSIKA-Pflicht für Taxibetriebe der gemeldete Umsatz die-
ser Branche um 50 Prozent gestiegen ist, obwohl es weniger Fahrzeuge gibt
(vgl. DER SPIEGEL 06/2015: „Alles Gebongt“)?

Drucksache 18/6118 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Inwieweit unterstützt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Be-
mühungen verschiedener Taxi-Branchenverbände für eine flächendeckende
Einführung der INSIKA-Lösung, um ehrlichen Unternehmen Wettbewerbs-
gleichheit gegenüber unehrlichen Konkurrenten zu ermöglichen?

Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
insgesamt aus der Tatsache, dass durch manipulierte Kassensysteme Wett-
bewerbsverzerrungen in bestimmten Branchen entstehen, und welche Bran-
chen hält die Bundesregierung insgesamt für besonders betrugsanfällig?

Plant die Bundesregierung eine Ausschreibung oder ähnliche Initiativen, um
alternative Möglichkeiten zur Sicherung von Registrierkassen zu prüfen?

Plant die Bundesregierung eigene Initiativen, um den Dialog mit den Län-
dern in der Sache wieder aufzunehmen?

Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass im Zusammenhang mit dem
BMF-Schreiben vom 26. November 2010 zur Aufbewahrung digitaler Un-
terlagen bei Bargeschäften (Gz. IV A 4 - S 0316/08/10004-07, DOK
2010/0946087), welches eine Übergangsfrist bis Ende des Jahres 2016 vor-
sieht, Unternehmen unter Umständen bestehende Kassensysteme austau-
schen müssen, und wäre deswegen nach Meinung der Bundesregierung die
zeitnahe Festlegung gesetzlicher Betrugssicherungsstandards für Kassensys-
teme geboten, um mögliche Investitionskosten rechtssicher zu ermöglichen?

Falls nein, warum nicht?

Erfüllt die INSIKA-Lösung für Kassensysteme nach Auffassung der Bun-
desregierung die Grundsätze zur ordnungsmäßigen Führung und Aufbewah-
rung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form
sowie zum Datenzugriff (GoBD) sowie die Abforderungen des BMF-Schrei-
bens vom 26. November 2010 zur Aufbewahrung digitaler Unterlagen bei
Bargeschäften (Gz. IV A 4 - S 0316/08/10004-07, DOK 2010/0946087), und
wenn nein, warum nicht?

Welche EU-Mitgliedstaaten haben nach Kenntnis der Bundesregierung einen
technischen Standard für Kassensysteme gesetzlich festgeschrieben (auch
einzelne Branchenanforderungen benennen), seit wann gilt der jeweilige
Standard, und hält die Bundesregierung die gesetzlichen Anforderungen ei-
ner der Lösungen für EU-rechtmäßig und in Deutschland für einsetzbar?

Hält die Bundesregierung die berechneten Bürokratiekosten von jährlich
250 Mio. Euro im Verhältnis zu möglichen Steuermehreinnahmen von 5 bis
10 Mrd. Euro für nicht vertretbar und damit eine gesetzliche Einführung
technischer Kassensicherungsanforderungen für verzichtbar?

Wie soll bei einer technologieoffenen Lösung ein Verbesserung des Status
quo sichergestellt werden, insbesondere vor dem Hintergrund, dass bereits
jetzt gesetzliche und untergesetzliche Rechtsnormen regeln, welche Daten
durch den Steuerpflichtigen (technologieoffen) unveränderbar zu sichern
sind?

Sollte nach Meinung der Bundesregierung auf Ebene der EU ein einheitli-
ches System zur Sicherung von Kassensystemen entwickelt werden, und in-
wieweit hält die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die europäi-
schen Behörden für dieses Thema der Steuerverwaltung und des Steuervoll-
zugs für zuständig?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/6118

Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus den mit der Einführung eines Kassensicherungssystem im Restaurant-
sektor in der kanadischen Provinz Québec verbundenen Erfahrungen im ers-
ten Jahr der Einführung (vgl. Pressemitteilung der Revenu Québec vom
14. Februar 2013, www.revenuquebec.ca/en/salle-de-presse/communiques/
autres/2013/14fevrier.aspx)?

Teilt die Bundesregierung die in den Medien bekannt gewordene Annahme
des Bundesrechnungshofes, dass im Bereich der Besteuerung von Barge-
schäften inzwischen ein strukturelles Vollzugsdefizit entstanden ist, und
wenn nein, warum nicht (www.n-tv.de/wirtschaft/Laender-kaempfen-gegen-
Schummel-Kassen-article15373191.html)?

Wie beabsichtigt die Bundesregierung – unabhängig von der Beantwortung
der Frage 24 – mit der von den Feststellungen des Bundesrechnungshofes
ausgehenden Gefahr für die Besteuerung der Bargeldbranche umzugehen
(vgl. Urteil des BVerfG zur Nichtigkeit der Spekulationssteuer aufgrund ei-
nes strukturellen Vollzugsdefizites vom 9. März 2004, Az. 2 BvL 17/02)?

Berlin, den 23. September 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

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