BT-Drucksache 18/609

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung - Drucksachen 18/436, 18/602 - Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 2120 (2013) vom 10. Oktober 2013 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Vom 19. Februar 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/609
18. Wahlperiode 19.02.2014

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour, Agnieszka Brugger,
Uwe Kekeritz, Jürgen Trittin, Annalena Baerbock, Dr. Franziska Brantner,
Tom Koenigs, Dr. Tobias Lindner, Cem Özdemir, Claudia Roth (Augsburg),
Manuel Sarrazin, Doris Wagner, Luise Amtsberg, Kai Gehring, Renate Künast
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung
– Drucksachen 18/436, 18/602 –

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem
Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan
(International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen,
zuletzt Resolution 2120 (2013) vom 10. Oktober 2013 des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Bundestag unterstützt die Pläne, den ISAF-Einsatz bis zum Jahresende zu
beenden und die Kampftruppen der Bundeswehr aus Afghanistan abzuziehen.
Die Entscheidung, den ISAF-Einsatz im Lande nach über zwölf Jahren auslaufen
zu lassen und der afghanischen Regierung die vollständige Sicherheitsverantwor-
tung zu übergeben, war richtig und überfällig. Die internationale Gemeinschaft
hatte sich auf der Afghanistankonferenz 2010 in London und auf der NATO-
Konferenz in Chicago darauf verständigt. Zu lange wurde eine militärische Lö-
sung des Konflikts priorisiert und eine politische Lösung vernachlässigt. Die
Erwartung zu Beginn des Afghanistaneinsatzes, dass der Kampf gegen Al Qaida
und die Taliban nur von kurzer Dauer sei, hat sich als Irrtum erwiesen. Die jahre-
lange Dominanz militärischer Zielsetzungen gegenüber zivilen Lösungsansätzen
und eine fehlende entwicklungspolitische Strategie waren zentrale Fehler der
Afghanistanpolitik der internationalen Gemeinschaft.
Die Herausforderungen, vor denen das Land in den kommenden Jahren steht,
sind nach wie vor enorm. Die Sicherheitslage ist weiterhin besorgniserregend
und hat sich von 2003 bis 2012 zum Teil enorm verschlechtert. Laut UNAMA ist

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die Anzahl der zivilen Opfer in den ersten acht Monaten des Jahres 2013 erneut
um 16 Prozent angestiegen. Die Anzahl der von UNAMA registrierten Anschlä-
ge und Angriffe erhöhte sich im Vergleich zu 2012 um 10 Prozent. Eine Lösung
des innerafghanischen Konflikts kann es jedoch nur auf dem Verhandlungsweg
geben. Deshalb bleibt die Entscheidung richtig, dass die internationale Gemein-
schaft ihre Kampftruppen bis Ende des Jahres 2014 abzieht und auf eine politi-
sche Lösung setzt.
Mit der letzten Verlängerung dieses Mandates erfolgt zum Ende des Jahres 2014
eine Beendigung des Einsatzes deutscher Kampftruppen in Afghanistan und ggf.
auch die Beendigung des Einsatzes der Bundeswehr insgesamt.
Die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanische Regierung ist
mittlerweile in die letzte Phase eingetreten und soll Ende 2014 abgeschlossen
sein. Im Oktober 2010 wurde das Regionale Wiederaufbauteam (PRT) in Kundus
durch die Bundeswehr an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben.
Der Bundestag bekräftigt, dass der zivile Aufbau Afghanistans auch nach 2014
weiter unterstützt werden muss. In den letzten Jahren wurden wichtige entwick-
lungspolitische Erfolge erzielt, dennoch wird das Land für Jahre auf erhebliche
Hilfe durch die internationale Gemeinschaft angewiesen sein. Die internationalen
Partner müssen darum die auf der Tokio-Geberkonferenz gemachten Zusagen
einhalten und die zivile Unterstützung mindestens auf dem zugesagten Niveau
von 430 Mio. Euro jährlich fortführen. Das neu gegründete Deutsche Evaluie-
rungsinstitut für Entwicklungspolitik wird in Kürze auf Initiative des Bundes-
tagsausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung eine Kurz-
studie zur Evaluierung des BMZ-Engagements vorlegen. Dies kann nur ein Aus-
gangspunkt für eine weitere, umfassende Evaluierung der zivilen Unterstützung
sein.
Die Präsidentschaftswahlen im April dieses Jahres werden für die zukünftige
Entwicklung des Landes eine Schlüsselrolle einnehmen. Die Unregelmäßigkei-
ten, die bei den letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen festgestellt wor-
den, dürfen sich dabei nicht wiederholen. Die afghanische Regierung muss die
Durchführung von freien und fairen Wahlen gewährleisten, um eine geordnete
Machtübergabe an den neu zu wählenden Präsidenten sicherzustellen und das
Vertrauen der afghanischen Bürgerinnen und Bürger in das politische System zu
stärken.
Der Bundestag begrüßt daher die jüngsten Anstrengungen der afghanischen Kon-
fliktparteien, ernsthafte Verhandlungen auf den Weg zu bringen. Nach der An-
kündigung von Gesprächen zwischen den Taliban und den USA im Sommer
2013 schien ein wichtiger Schritt für Friedensgespräche gemacht zu sein. Es ist
bedauerlich, dass diese Bemühungen mittlerweile wieder zum Stillstand gekom-
men sind. Trotz der Schwierigkeiten und Rückschläge muss jedoch weiter an
einer diplomatischen Lösung festgehalten werden. Die abgebrochenen Gespräche
müssen schnellstmöglich wieder aufgenommen werden. Dabei muss die interna-
tionale Gemeinschaft darauf dringen, dass die vom afghanischen Parlament for-
mulierten „roten Linien“ im Bereich von Demokratie und Menschenrechten,
insbesondere bei den Frauenrechten, bei einer politischen Lösung nicht zur Dis-
position gestellt werden.
Der Abzug der ISAF-Truppen ist verbunden mit der Hoffnung auf eine ernsthafte
Zäsur, aber auch mit Ängsten. Die Strategie, vorrangig mit militärischen Mitteln
eine Friedenslösung erzwingen zu wollen, ist gescheitert. Parallel zur UN-
mandatierten ISAF-Mission führten die USA mit ihren Bündnispartnern im
Rahmen der OEF-Mission (Operation Enduring Freedom) den „Krieg gegen den
Terror“. Dieser forderte viele zivile Opfer und unterminierte das Vertrauen der
afghanischen Bevölkerung in den ISAF-Einsatz. Capture-or-Kill-Operationen,

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gezielte Tötungen durch Drohnenangriffe und Night Raids einiger ISAF-
Partnerstaaten erschweren nach wie vor die Versuche, zu einer politischen Lö-
sung zu gelangen und fordern immer wieder zivile Opfer. Die Bundesregierung
muss auf ihre Bündnispartner einwirken, diese Praxis endgültig zu beenden. Die
offensive Aufstandsbekämpfung ist für das Finden einer Verhandlungslösung
kontraproduktiv und gefährdet den weiteren Friedensprozess.
Die Bundesregierung hat angekündigt, dass sie sich an einer möglichen Ausbil-
dungs- und Trainingsmission für die afghanischen Streitkräfte nach 2014 mit ca.
600 bis 800 Soldatinnen und Soldaten gegebenenfalls beteiligen will. Derzeit
sind die Rahmenbedingungen für einen solchen Einsatz noch völlig unklar. Die
Verhandlungen dazu dauern noch an. Sollte die afghanische Regierung eine wei-
tere Truppenpräsenz für Ausbildungszwecke oder zur Überwachung eines Waf-
fenstillstandes wünschen, muss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dafür
eine neue Rechtsgrundlage schaffen. Die Bundesregierung muss sich dafür ein-
setzen, dass ein solcher UN-Einsatz im Sinne einer Peace-Building-Mission
mandatiert wird.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich dafür einzusetzen, dass der VN-Sicherheitsrat ausdrücklich ein Mandat
für Verhandlungen mit den Aufständischen formuliert und alle beteiligten
Mitgliedstaaten auffordert, diese zu unterstützen sowie die Sicherheit der
Unterhändler zu garantieren;

2. allen afghanischen Ortskräften und ihren Familienangehörigen, die für die
Bundeswehr in Afghanistan gearbeitet haben, eine Aufnahme in Deutschland
anzubieten und eine vergleichbare Regelung auch für Ortskräfte zu finden,
die für das Auswärtige Amt oder staatliche Organisationen der Bundesrepub-
lik Deutschland (z. B. der Polizei) gearbeitet haben oder die im Rahmen der
Entwicklungszusammenarbeit für Deutschland tätig waren, um sie vor Be-
drohungen durch die Aufständischen zu schützen. Diejenigen Ortskräfte, die
bereits eine Aufnahmezusage erhalten haben, müssen mit ihren Familienan-
gehörigen unverzüglich nach Deutschland ausreisen können;

3. im Rahmen einer entwicklungspolitischen Agenda für den Aufbau bis 2014
und danach, die auf der Tokio-Geberkonferenz im Sommer 2012 gemachten
Versprechungen einzuhalten sowie eine nachhaltige und sich selbst tragende
Wirtschaftsstruktur im Lande zu fördern. Bis einschließlich 2017 sollen jähr-
lich mindestens 430 Mio. Euro für den zivilen Wiederaufbau zur Verfügung
gestellt werden, um dann nach einer unabhängigen Prüfung die Unterstüt-
zung in der Transformationsphase auf hohem Niveau weiter fortzuführen;

4. für den Fall, dass eine Beteiligung an einer ISAF-Nachfolgemission durch
die afghanische Regierung gewünscht und durch die Bundesregierung mit
Militärberatern und Ausbildern beabsichtigt wird, muss eine neue Rechts-
grundlage durch ein Mandat der Vereinten Nationen geschaffen werden. Die
Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass dieser Einsatz im Sinne ei-
ner von den Vereinten Nationen geführten Peace-Building-Mission manda-
tiert wird;

5. Initiativen zu verstärken, die afghanischen Nachbarstaaten und andere regio-
nale Akteure in eine politische Lösung des Afghanistankonfliktes und der
regionalen Sicherheitsprobleme mit einzubeziehen und bestehende Initiati-
ven, wie den Istanbuler Prozess, weiter nach Kräften zu unterstützen;

6. sich gegenüber den ISAF-Partnern für eine Beendigung von nicht mit dem
Völkerrecht zu vereinbarenden Night-Raids und gezielten Tötungen einzu-
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setzen und sicherzustellen, dass sich die Bundeswehr in keiner Weise, auch
nicht durch Informationsweitergabe, an solchen Aktionen beteiligt;

7. im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus die Unterstützung der Zivilgesell-
schaft und der Frauenrechtsgruppen zu einem zentralen Schwerpunkt zu ma-
chen. Dabei kann sie an den erfolgreichen Kabul-Prozess im Vorfeld der
Bonner Afghanistankonferenz unter Einbeziehung der politischen Stiftungen
anknüpfen. Ziel muss es sein, die afghanische Zivilgesellschaft, insbesondere
Frauen, viel stärker in Verhandlungen mit der afghanischen Regierung und
anderen Akteuren einzubeziehen;

8. in der Zusammenarbeit einen Schwerpunkt auf die stärkere Beteiligung von
Frauen an gesellschaftlichen und politischen Prozessen, die Stärkung von
Frauenrechten und die Unterstützung von Maßnahmen zur Eindämmung der
Gewalt gegen Frauen zu legen;

9. ein nachhaltiges Konzept für die weitere Unterstützung des Aufbaus polizei-
licher Strukturen inklusive Polizeiausbildung vorzulegen, welches insbeson-
dere darstellt, wie das deutsche Engagement im Polizeibereich nach Beendi-
gung des ISAF-Einsatzes gestaltet werden soll;

10. sich auf internationaler Ebene dafür einzusetzen, die Finanzierung für die
weitere Beschäftigung der afghanischen Sicherheitskräfte, die von der inter-
nationalen Gemeinschaft ausgebildet wurden, sicherzustellen und sich für die
Eingliederung ehemaliger Sicherheitskräfte in das zivile, wirtschaftliche und
gesellschaftliche Leben einzusetzen, die von der geplanten Reduzierung der
ANSF betroffen sind;

11. sich dem Resettlement-Programm des UN-Flüchtlingskommissariats
(UNHCR) mit einem großzügigen Kontingent anzuschließen und die Arbeit
des UN-Flüchtlingskommissariats zu unterstützen, damit weiterhin Flücht-
lingen in Afghanistan und insbesondere den afghanischen Flüchtlingen in
Iran und Pakistan geholfen wird;

12. einen lückenlosen Abschiebestopp für afghanische Flüchtlinge durchzuset-
zen, um deren Leben nicht zu gefährden;

13. dem Bundestag eine Evaluierung und Wirksamkeitsanalyse des bisherigen
deutschen Gesamt-Engagements in Afghanistan durch eine unabhängige Ex-
pertenkommission vorzulegen.

Berlin, den 19. Februar 2014

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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