BT-Drucksache 18/4663

Gesetzliche Tarifeinheit - Umsetzung und Wirkung

Vom 15. April 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4663
18. Wahlperiode 15.04.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Corinna Rüffer, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Markus Kurth, Ekin Deligöz, Dr. Thomas Gambke,
Britta Haßelmann, Dieter Janecek, Sven-Christian Kindler und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gesetzliche Tarifeinheit – Umsetzung und Wirkung

Das Gesetz zur Tarifeinheit ist umstritten. Neben der Verfassungsmäßigkeit sind
auch die Fragen, wie die Mitgliederzählung im Betrieb praktikabel und rechtlich
umgesetzt werden kann und welche gewünschten und unerwünschten Wirkun-
gen durch das Gesetz entstehen, nicht geklärt. Durch die Antwort der Bundes-
regierung auf die Kleine Anfrage „Fragen zur gesetzlichen Tarifeinheit“ der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 18/4156) eröff-
nen sich diesbezüglich weitere Fragen.

Wir fragen die Bundesregierung:
Umsetzung des Tarifeinheitsgesetzes
1. Was bedeutet die Antwort der Bundesregierung, laut der „die Tatsachen-

gerichte dem geringeren Beweiswert mittelbarer Beweismittel durch eine be-
sonders sorgfältige Beweiswürdigung und Begründung ihrer Entscheidung
Rechnung tragen“ müssen (Bundestagsdrucksache 18/4156, Antwort zu
Frage 39), insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Gewerkschaften bei
der Mitgliederzählung ausschließlich die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder
in einer notariellen Erklärung ohne „Vorgaben über einen erforderlichen Min-
destinhalt der öffentlichen Urkunde“ (ebd., Antwort zu den Fragen 35 bis 37)
vorlegen können, in der Konsequenz für die Arbeitsgerichte?
a) Müssen die Arbeitsgerichte die Richtigkeit der Mitgliederzahl beurteilen,

und wenn ja, auf welcher Grundlage?
b) Wenn nein, warum nicht, und wer prüft dann die Mitgliederlisten?

2. Wie sollen die Arbeitsgerichte unter Berücksichtigung der informationellen
Selbstbestimmung der Gewerkschaftsmitglieder nach Ansicht der Bundes-
regierung eine „besonders sorgfältige Beweiswürdigung“ durchführen, und
welche der nachfolgend skizzierten Möglichkeiten sieht die Bundesregierung
in diesem Zusammenhang als rechtens und praktikabel an?
a) Sind die Gewerkschaften dazu verpflichtet, dem Gericht weitere Informa-

tionen über die auf den Listen genannten Gewerkschaftsmitglieder offen-
zulegen?

Drucksache 18/4663 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Wenn ja,
– müssen die Gewerkschaften dazu bei allen Mitgliedern eine Genehmi-

gung einholen,
– wie wird mit Mitgliedern verfahren, die solch einer Genehmigung wi-

dersprechen, und
– soll der Nachweis der Mitgliedschaft beispielsweise mithilfe von Mit-

gliedsbeiträgen auf Kontoauszügen erbracht werden?
b) Sollen die Gerichte bei den Beschäftigten direkt die notwendigen Infor-

mationen für die Überprüfung der Mitgliederzahl einholen?
Wenn ja,
– in welcher Form sollen die Beschäftigten zu ihrer Gewerkschaftsmit-

gliedschaft befragt werden – telefonisch, schriftlich oder per Haus-
besuch –,

– sollen Mitgliedsbeiträge auf Kontoauszügen angefordert werden, oder
– sollen die Beschäftigten eidesstattliche Versicherungen abgeben?

c) Wie können die Gerichte die Mitgliederlisten überprüfen, wenn die Fra-
gen 2a und 2b von der Bundesregierung verneint werden?

3. Müssen die notariell beglaubigten Mitgliederlisten der Gewerkschaften nach
Ansicht der Bundesregierung von den Gerichten aufgrund der geforderten
„besonders sorgfältigen Beweiswürdigung“ komplett oder nur stichproben-
haft überprüft werden?
a) Wenn Stichproben ausreichen, ab wie vielen festgestellten unrichtigen

Angaben muss die gesamte Liste von den Gerichten geprüft werden?
b) Mit welchem zeitlichen Aufwand der Gerichte rechnet die Bundesregie-

rung für die Überprüfung von kleinen, mittleren und großen Betrieben mit
durchschnittlichem Organisationsgrad der Beschäftigten?

c) Wie hoch beziffert die Bundesregierung für diesen zeitlichen Aufwand
(Frage 3b) die geschätzten durchschnittlichen Kosten für die Arbeitsge-
richte und somit für die Bundesländer?

4. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der Forderung des Bundes der Richterinnen und Richter der Arbeits-
gerichtsbarkeit, dass die notarielle Erklärung beinhalten muss, „auf welche
Weise der Notar sich von der Richtigkeit des Inhalts seiner Erklärung über-
zeugt hat“ (Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Ta-
rifeinheit), und sieht die Bundesregierung an diesem Punkt Änderungsbedarf
beim Gesetzentwurf (bitte begründen)?

5. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der Aussage des Bundes der Richterinnen und Richter der Arbeits-
gerichtsbarkeit, dass die Auslegung des Betriebsbegriffs „ohne gesetzliche
Definition zu weiteren Streitfragen Anlass geben wird“ (Stellungnahme zum
Referentenentwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit), und wie sollen solche
Streitigkeiten zukünftig gelöst werden, zumal die Bundesregierung in ihrer
Antwort zu Frage 46 (Bundestagsdrucksache 18/4156) ausführt, dass ein be-
sonderes Verfahren zur Klärung des Betriebszuschnitts nicht vorgesehen ist?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/4663
Wirkungen des Tarifeinheitsgesetzes
6. Welche positiven Auswirkungen erhofft sich die Bundesregierung durch das

Tarifeinheitsgesetz auf die Branchen Gesundheitswesen, Luftverkehrs- und
Bahnbereich, in denen die Bundesregierung kollidierende Tarifverträge
identifiziert hat (Bundestagsdrucksache 18/4156, Antwort zu Frage 1), und
zwar konkret
a) im Tarifbereich der Pilotinnen und Piloten,
b) im Tarifbereich der Ärzteschaft,
c) bei der Bahn und
d) hinsichtlich der kollidierenden Tarifverträge beispielsweise im öffentli-

chen Dienst sowie im Bereich des Journalismus?
e) Wie wird die Bundesregierung verhindern, dass in diesen Bereichen be-

stehende Kooperationen durch die einseitige Stärkung der Mehrheitsge-
werkschaften aufgrund des Tarifeinheitsgesetzes aufgekündigt werden?

7. Bei welchen Tätigkeiten bzw. Berufen sieht die Bundesregierung konkret
Fehlentwicklungen, die zu ihrer Aussage führen: „Die Verteilungsfunktion
wird gestört, wenn ein Tarifabschluss nicht den Wert verschiedener Arbeits-
leistungen innerhalb einer betrieblichen Gemeinschaft zueinander wider-
spiegeln“ (Bundestagsdrucksache 18/4156, Antwort zu Frage 10)?
a) Aus welchen Gründen geht die Bundesregierung davon aus, dass nicht

auch Mehrheitsgewerkschaften gewisse Beschäftigtengruppen bei Tarif-
verhandlungen bevorzugen, weil sie z. B. streikrelevanter sind?

b) Wie will die Bundesregierung vor dem Hintergrund ihrer Aussage ver-
hindern, dass Leiharbeitskräfte oft weniger verdienen als Stammbeleg-
schaften?

c) Beurteilt die Bundesregierung, dass gleiche Arbeitsleistung in einer
Branche durch Tarifflucht immer ungleicher entlohnt wird, auch als
Fehlentwicklung?

d) Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Tarifbindung seit
dem Jahr 1990 bis heute entwickelt,
wie groß war die Lohndifferenz prozentual zwischen tariflich und nicht
tariflich entlohnten Beschäftigten im Jahr 1990, und wie hoch ist sie
heute, und
welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen wird die Bundesregie-
rung daraus ziehen?

8. Stimmt die Bundesregierung der Aussage zu, dass sich die Konkurrenz
zwischen den Gewerkschaften bzw. der Kampf um Mitglieder im Betrieb
verschärft, wenn sich Berufsgewerkschaften als Konsequenz auf das Tarif-
einheitsgesetz für andere Berufsgruppen öffnen?
Wenn nein, warum nicht?

9. Warum sieht die Bundesregierung das Schutzkonzept von Flächen- bzw.
Branchentarifverträgen nicht gefährdet, auch wenn diese in einzelnen Be-
trieben aufgrund der Mehrheitsverhältnisse verdrängt werden (Bundestags-
drucksache 18/4156, Antwort zu Frage 27), und widerspricht das nicht der
Intention des Tarifautonomiestärkungsgesetzes, mit dem gerade Allgemein-
verbindlicherklärungen gestärkt werden sollten?

10. Was passiert nach Ansicht der Bundesregierung mit Berufsgruppen, wenn
aufgrund der Mehrheitsverhältnisse der Tarifvertrag einer Berufsgewerk-
schaft im Betrieb gilt, der jedoch für andere Berufsgruppen keine Regelun-

Drucksache 18/4663 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
gen enthält, und werden dann beispielsweise die Pflegekräfte in einem
Krankenhaus aufgrund der Mehrheit des Marburger Bunds – Verband der
angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte Deutschlands e. V. – tarif-
los?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 15. April 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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