BT-Drucksache 18/4384

Einführung und Umsetzung eines neuen Pflegebegriffs

Vom 13. März 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4384
18. Wahlperiode 13.03.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, Katja Kipping, Cornelia Möhring, Dr. Petra Sitte,
Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Katrin Werner, Birgit Wöllert
und der Fraktion DIE LINKE.

Einführung und Umsetzung eines neuen Pflegebegriffs

Seit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 ist der ihr zugrunde
liegende verrichtungsbezogene Pflegebegriff zu eng. Eine grundlegende Re-
form der Pflegeversicherung (Elftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB XI) ist seit
langem überfällig. Seit dem Jahr 2009 liegen dazu Empfehlungen durch von
Bundesregierungen eingesetzte Beiräte für einen erweiterten Pflegebegriff und
für ein neues Begutachtungsverfahren zur Feststellung des Pflegebedarfs vor
(Bericht des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, 2009,
www.bmg.bund.de/fileadmin/dateien/Publikationen/Pflege/Berichte/Bericht_
des_Beirats_zur_Ueberpruefung_des_Pflegebeduerftigkeitsbegriffs.pdf). Die
gesetzliche Grundlage zur Umsetzung des im Jahr 2009 neu entwickelten (und
2013 erneut bestätigten) Pflegebegriffs und das neue Begutachtungsverfahren
wurden jedoch bis heute noch nicht geschaffen.
Kern der Vorschläge ist die Abkehr von einem Pflegebegriff, der sich an den
Defiziten der zu pflegenden Menschen orientiert, und die Überwindung des star-
ren Pflegestufenmodells, das Bedarfe verrichtungsbezogen misst. Stattdessen
sollen selbstbestimmte Teilhabe, Ganzheitlichkeit und Alltagskompetenz bei der
Pflege im Vordergrund stehen. Inhalt des neuen Pflegebegriffs soll der Grad der
bestehenden und zu erhaltenden Selbstständigkeit, Maßstab der Bedarfsfeststel-
lung nicht mehr der Faktor „Zeitaufwand für die Verrichtung“ sein. Menschen
mit psychischen und dementiellen Erkrankungen sollen endlich angemessen in
die Pflegeversicherung einbezogen werden. Die besonderen Bedürfnisse von
Kindern sind dabei angemessen zu berücksichtigen. Daraus folgt eine Erweite-
rung des anspruchsberechtigten Personenkreises ebenso wie des Leistungsum-
fangs selbst. Ein ganzheitliches Begutachtungsassessment (NBA), das die ge-
samte Lebenssituation des zu Pflegenden erfasst, muss eingeführt werden. Für
den gesamten Pflegeprozess ergeben sich höhere Qualitätsanforderungen.
Letztendlich fordert der Beirat einen Paradigmenwechsel hin zu einer Teilhabe
ermöglichenden, assistierenden Pflege. Es geht um die gesetzlichen Vorausset-
zungen für einen differenzierten und an Lebens- und Bedarfslagen orientierten
Pflegeprozess. Die Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen und die
Bewahrung eines hohen Maßes an Selbstbestimmung werden Ziel eines pflege-
rischen und assistierenden Handelns sein.
Politische Entscheidungen, den neuen Pflegebegriff gesetzlich zu verankern,
blieben bis heute aus. Allerdings beschloss die Bundesregierung sowohl in der
17. als auch zu Beginn der 18. Wahlperiode Leistungsverbesserungen auf Basis

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des geltenden, überholten Pflegebegriffs, ohne jedoch ein stimmiges Gesamt-
konzept für die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs vorzulegen.
Praktische Umsetzungsvorschläge legte der Beirat ebenfalls schon im Jahr 2009
vor. Am 27. Juni 2013 übergab der Expertenbeirat einen zweiten „Bericht zur
konkreten Ausgestaltung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ an das Bundes-
ministerium für Gesundheit – BMG – (www.bmg.bund.de/fileadmin/dateien/
Publikationen/Pflege/Berichte/Bericht_Pflegebegriff_RZ_Ansicht.pdf). Damit
liegt ein stimmiges Konzept für die gesetzgeberische Einführung des neuen Be-
griffs der Pflege vor. Es enthält zahlreiche konkrete Empfehlungen, Varianten
und Hinweise zu Einführungsfragen, die aus Sicht des Beirats im Rahmen der
gesetzgeberischen Umsetzung des Konzepts erforderlich sind. Dennoch gab das
BMG im Frühjahr 2014 zunächst noch zwei Erprobungsstudien in Auftrag
(www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/2014-02/
neuer-pflegebeduerftigkeitsbegriff.html).
Die Studie zur „Evaluation des NBA – Erfassung von Versorgungsaufwen-
dungen in stationären Einrichtungen“ hat zum Ziel, eine empirische Grundlage
für Hinweise zu künftigen Leistungshöhen je Pflegegrad in Abhängigkeit vom
Pflegeaufwand zu liefern. Die parallel laufende „Praktikabilitätsstudie zur Ein-
führung des neuen Begutachtungsassessments (NBA) zur Feststellung der
Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI“ zielt auf mögliche Probleme bei der Be-
gutachtung, um notwendige Änderungen und Anpassungen bereits vor der
Einführung des neuen Begriffs vornehmen zu können. In einer Pressemitteilung
vom 27. Januar 2015 erklärte der Bundesminister für Gesundheit, Hermann
Gröhe: „Das neue Begutachtungsverfahren funktioniert“, ohne jedoch die
Ergebnisse der Öffentlichkeit vorzustellen oder seine Aussage zu begründen
(www.bmg.bund.de/fileadmin/dateien/Pressemitteilungen/2015/2015_01/
150127_gem_PM_Pflegebeduerftigkeitsgesetz.pdf).
Ohne breite öffentliche Sachkenntnis, Debatte und Zustimmung aller Beteiligten
– der zu pflegenden Menschen, der Pflegenden sowie der Leistungsträger und
Leistungserbringer – besteht jedoch die Gefahr, dass der neue Pflegebegriff
keine Verbesserungen bringt, die spürbar bei den Menschen ankommen. Vor al-
lem muss klar formuliert werden, was die Einführung eines neuen Pflegebegriffs
und des neuen Begutachtungsverfahrens kostet und wie diese finanziert werden
sollen.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wann werden die Ergebnisse der Studien zur Umsetzung des Pflegebegriffs

vollständig vorliegen, und in welcher Form werden sie der Öffentlichkeit
vorgestellt und öffentlich diskutiert?

2. Welchen Zeitplan verfolgt die Bundesregierung für die Erarbeitung eines Ge-
setzentwurfs und weitergehend für die Einführung des neuen Pflegebegriffs?

3. Von welchem zeitlichen Rahmen geht die Bundesregierung aus, bevor das
neue Begutachtungsassessment routinemäßig zum Einsatz kommen kann vor
dem Hintergrund, dass der Beirat zur konkreten Ausgestaltung des neuen
Pflegebedürftigkeitsbegriffs für den Einführungsprozess des NBA einen
Zeitraum von mindestens 18 Monaten für erforderlich hält?

4. Welche konkreten Vorarbeiten hält die Bundesregierung für erforderlich, da-
mit die Einführung des neuen Pflegebegriffs für die Menschen mit Pflege-
bedarf noch in dieser Wahlperiode praktisch wirksam wird, und welche
Maßnahmen, zum Beispiel Fortbildungsprogramme oder Informationskam-
pagnen, werden bereits vorbereitet?

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a) Welche Erkenntnisse und Hinweise erbrachte die „Praktikabilitätsstudie“
bezüglich des verwaltungstechnischen Aufwandes für die Durchführung
des Begutachtungsverfahrens und der Pflegedokumentation, und

b) für die erforderliche Qualifizierung der Mitarbeiter des Medizinischen
Dienstes der Krankenversicherung (MDK) und der Pflegekräfte?

5. Zu welchen Problemen führt aus Sicht der Bundesregierung die entstandene
Situation, dass mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz und dem Ersten
Pflegestärkungsgesetz Leistungen definiert wurden und erst in einem zwei-
ten Schritt der Kreis der Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger
bestimmt wird?

6. Verfolgt die Bundesregierung das politische Ziel einer regelgebundenen
Leistungsdynamisierung zur Begrenzung der Eigenanteile der Pflegebe-
dürftigen, in die neben der Inflationsentwicklung auch die Reallohnent-
wicklung eingeht?
Wenn nein, mit welcher Begründung?

7. Verfolgt die Bundesregierung das politische Ziel, pflegende Angehörige
durch eine Stärkung der professionellen Pflege zu entlasten?
Wenn ja, welche Konzepte werden geprüft?
Wenn nein, mit welcher Begründung?

8. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass sich die Nachfrage nach
professioneller Pflege im Vergleich zur Pflege durch Angehörige in Zukunft
weiter verstärken wird (bitte begründen)?

9. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die Fähigkeit und Bereit-
schaft der Angehörigen, die Pflegearbeit zu übernehmen, aus unterschied-
lichsten Gründen nicht vorausgesetzt werden kann, und welche Konsequen-
zen zieht sie daraus (bitte begründen)?

10. Verfolgt die Bundesregierung das politische Ziel einer Bestandsschutzrege-
lung für bereits bestehende Pflegeeinstufungen?
Wenn ja, nach welchem Modell?
Wenn nein, mit welcher Begründung?

11. Welche finanziellen Auswirkungen sieht die Bundesregierung bei der Um-
setzung des neuen Pflegebegriffs sowohl für die Sozialhilfeträger als auch
für die Pflegekassen durch die zu erwartende Veränderung der Zahl der
Leistungsberechtigten (Mengeneffekt) und der Konsequenz, dass die neuen
Bedarfsgrade des neuen Assessmentverfahrens leistungsrechtlich durch-
schnittlich höher liegen werden, als die „alten“ Pflegestufen (Struktureffekt;
Berichte des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs,
2009, und des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pfle-
gebedürftigkeitsbegriffs, 2013), und welche Konsequenzen zieht die Bun-
desregierung ggf. daraus?

12. Verfolgt die Bundesregierung das politische Ziel, den Anstieg von Sozial-
hilfeleistungen („Hilfe zur Pflege“) zur Sicherung der pflegerischen Versor-
gung zu senken?
Wenn nein, mit welcher Begründung?
Wenn ja, wie?

13. Verfolgt die Bundesregierung das politische Ziel, den Leistungskatalog der
Pflegeleistungen auch im vollen Umfang für Empfängerinnen und Empfän-
ger der „Hilfe zur Pflege“ zur Verfügung zu stellen?
Wenn nein, mit welcher Begründung?

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14. Wie will die Bundesregierung gewährleisten, dass bei einem erweiterten,
teilhabeorientierten Pflegebedürftigkeitsbegriff die finanziellen Auswir-
kungen nicht einseitig auf die Sozialhilfeträger übertragen werden?

15. Wie wird die Bundesregierung in diesem Zusammenhang das Problem der
Leistungsbegrenzung der Pflegeversicherung auf der einen Seite und die
Bedarfsdeckung der Sozialhilfe auf der anderen Seite lösen?

16. In welcher Weise verfolgt die Bundesregierung das Ziel, den neuen Pflege-
begriff im SGB I und einheitlich in allen relevanten Sozialgesetzbüchern
(SGB XII und SGB IX) sowie im angekündigten Bundesteilhabegesetz zu
verankern?

17. Wie bewertet die Bundesregierung den Anspruch des neuen Pflegebegriffs,
alle Leistungsträger zu umfassen und damit für verschiedene Sozialleis-
tungsbereiche übergreifend zu sein?

18. Welche Auswirkungen erwartet die Bundesregierung durch die Umsetzung
des neuen Pflegebegriffs auf die „Hilfe zur Pflege“ (SGB XII)?

19. Welche Auswirkungen erwartet die Bundesregierung durch die Umsetzung
des neuen Pflegebegriffs auf die häusliche Krankenpflege (SGB V) sowie
auf die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX), und
welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung daraus?

20. Welchen Anforderungen sollte die inhaltliche Weiterentwicklung von
Pflege und Eingliederungshilfe genügen?
Welche Auswirkungen erwartet die Bundesregierung durch die Umsetzung
des neuen Pflegebegriffs für das zu erarbeitende Bundesteilhabegesetz?

21. In welcher Form wird die Bundesregierung die beiden genannten Systeme
voneinander abgrenzen oder aufeinander beziehen?

22. Wird die Bundesregierung die mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz so-
wie dem Ersten Pflegestärkungsgesetz eingeführten Leistungen erneut auf
den Prüfstand stellen?
Wenn ja, welche Leistungen?
Wenn nein, mit welcher Begründung?

23. Auf welcher Datengrundlage kommt die Bundesregierung zu der Einschät-
zung, dass eine weitere Erhöhung der Pflegebeiträge um 0,2 Prozent aus-
reicht, um die Einführung eines neuen Pflegebegriffs finanziell zu sichern
(www.bmg.de vom 22. Februar 2015 „Das zweite Pflegestärkungsgesetz“)?

24. Welche zusätzlichen oder alternativen Finanzierungsmöglichkeiten prüft
die Bundesregierung für den Fall, dass eine Beitragssteigerung um 0,2 Pro-
zent nicht ausreicht, um einen teilhabeorientierten Pflegebegriff praktisch
umzusetzen?

25. Schließt die Bundesregierung Schritte in Richtung einer solidarischen Bür-
gerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege zur möglichen Finanzie-
rung der Umsetzung des neuen Pflegebegriffs aus?
Wenn ja, mit welcher Begründung?

26. Mit welchen Kompetenzen soll das zu schaffende Begleitgremium für die
Einführung des neuen Pflegebegriffs über die fachliche Beratung hinaus
ausgestattet werden?

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27. Welche weiteren Institutionen sollen neben dem BMG, dem Bundesministe-
rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), dem Pflege-
beauftragten der Bundesregierung, dem Deutschen Pflegerat e. V. und den
Pflegekassen Mitglieder des neuen Begleitgremiums werden?
Wie und von wem werden explizit die Interessen der Pflegebedürftigen und
Pflegekräfte in dieses Gremium eingebracht, und sind Gewerkschaftsvertre-
terinnen und Gewerkschaftsvertreter Teil des Gremiums?

28. Wie beurteilt die Bundesregierung die Möglichkeit, einen nationalen „Run-
den Tisch Pflege“ zu wiederholen, um die Einführungsphase des neuen Pfle-
gebegriffs zu koordinieren und öffentlich zu begleiten?

29. Wie steht die Bundesregierung zum Instrument eines „Nationalen Aktions-
planes Pflege“, der ausgehend von der gesetzlichen Einführung des neuen
Pflegebegriffs – über den unmittelbaren Pflegeprozess hinausgehende – er-
forderliche Strukturmaßnahmen und Rahmenbedingungen für eine teilhabe-
orientierte Pflege mittelfristig plant und ausgestaltet?

30. Wird die Bundesregierung den im Dezember 2015 turnusmäßig vorzulegen-
den Sechsten Pflegebericht auf der Basis des veränderten Pflegebegriffs neu
konzipieren?
Wenn ja, mit welcher Ausrichtung, und mit welchen Schwerpunkten?
Wenn nein, mit welcher Begründung?

Berlin, den 13. März 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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