BT-Drucksache 18/2605

Ausbau und Qualität in der Kinderbetreuung vorantreiben

Vom 24. September 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2605
18. Wahlperiode 24.09.2014
Antrag
der Abgeordneten Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Nicole Gohlke,
Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Ralph Lenkert, Cornelia Möhring, Harald
Petzold (Havelland), Katrin Werner, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Ausbau und Qualität in der Kinderbetreuung vorantreiben

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Trotz immenser Anstrengungen insbesondere der Kommunen bleibt der Ausbau der
Kinderbetreuung und Kinderfrühförderung für Kinder unter drei Jahren weit hinter
den Erfordernissen zurück. Im März 2014 haben 562 000 Kinder unter drei Jahren
an Angeboten der Kinderbetreuung teilgenommen. Dies entspricht einer durch-
schnittlichen Betreuungsquote von 32 Prozent, der allerdings ein Bedarf von 42 Pro-
zent gegenübersteht. Bis zum 1. August 2013 sollten ursprünglich 750 000 Plätze
bereitgestellt werden, um ein flächendeckendes Angebot zur Erfüllung des Rechts-
anspruches anbieten zu können. Somit fehlen nach wie vor zehntausende Plätze ins-
besondere in den sogenannten alten Bundesländern. Hier wurde durchschnittlich nur
jedes vierte Kind unter drei Jahren in einer entsprechenden Einrichtung gefördert.

Die Betreuungssituation ist vor Ort trotz großen Engagements der Beschäftigten häu-
fig von unterschiedlichen qualitativen Mängeln geprägt. Teilweise ist es zu einer
Verschlechterung der Situation gekommen. Zu große Gruppen, zu kleine und unpas-
sende Räumlichkeiten und Defizite bei der Essensversorgung markieren nur die
Spitze des Eisberges. Erforderliche Raumgrößen und Ausstattung aber werden in
Landes- oder Kommunalhoheit geregelt, ohne dass es hierfür verbindliche allgemein
gültige Mindeststandards gibt. Diese aber sind für eine kindgerechte Kindertagesbe-
treuung bedeutsam. Gleiches gilt für die so genannte Fachkraft-Kind-Relation. Die
großen Differenzen zwischen den einzelnen Bundesländern zeigen deutlich einen
vielerorts unzureichenden Betreuungsschlüssel und Personalmangel: zu wenig Er-
zieher/-innen bei steigenden Anforderungen für zu viele Kinder. Hier besteht insbe-
sondere in den sogenannten neuen Bundesländern Nachholbedarf. In der Folge man-
gelt es an Zeit und Raum für die Kinder mit der Folge, dass die notwendige Bindung
zwischen Kindern und Erzieher/-in sowie die individuelle Förderung zu kurz kom-
men. Darüber hinaus fehlen Zeit und Raum, die für eine qualitativ gute pädagogische
Arbeit unerlässlich sind: Elterngespräche, Vor- und Nachbereitung, Weiterbildung,
Fachberatung und Leitungszeiten. Hier besteht dringend Regelungsbedarf.

Es fehlen zehntausende Fachkräfte bei gleichzeitig zunehmender Alterung des Per-
sonals. So stieg das Durchschnittsalter der Beschäftigten von 39,2 Jahren im Jahr
2002 um 2,7 Jahre auf 41,9 Jahre im Jahr 2012 (Antwort der Bundesregierung auf
eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „Arbeitsbedingungen von Erziehe-
rinnen und Erziehern“ auf Bundestagsdrucksache 17/14633). In der Praxis wird von
einer hohen Fluktuation seitens des pädagogischen Personals sowie von Abwande-
rungstendenzen insbesondere bei neu ausgebildeten Fachkräften in andere Bereiche

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der Kinder- und Jugendhilfe berichtet. Leidtragende davon sind nicht nur die Kinder,
die für eine gute Entwicklung neben einem guten Betreuungsschlüssel feste Kon-
stanten und individuelle Förderung benötigen. Leidtragende sind auch die Beschäf-
tigten in den Einrichtungen, deren Belastungen zugenommen haben. Stresserkran-
kungen sind in den sozialen und Erziehungsberufen überdurchschnittlich häufig an-
zutreffen (Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE
LINKE. „Psychische Belastungen in der Arbeitswelt“ auf Bundestagsdrucksache
17/9478) und die Anzahl meldepflichtiger Arbeitsunfälle hat zugenommen
(17/14633).

Für die Familien kommen trotz Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz erschwerend
rechtliche Unsicherheiten bezüglich des Betreuungsumfangs bzw. der Entfernung
und Wegezeiten zu den Betreuungseinrichtungen hinzu. Strittig ist unter anderem
der Betreuungs- und Förderungsumfang der Kinder, der zwischen vier Stunden pro
Tag bzw. sechs Stunden pro Tag bei einem Tagesplatz schwankt. Ein Bedarf darüber
hinaus ist abhängig von der Situation, in der sich die Eltern befinden (Ausbildung,
Erwerbstätigkeit oder Arbeitssuche der Eltern) bzw. einem besonderen Förderungs-
bedarf des Kindes. Die Anerkennung des Betreuungsbedarfes obliegt anhand der im
Bundesgesetz nicht klar definierten Kriterien den unterschiedlich agierenden Ju-
gendämtern. Auch bezüglich der Entfernung vom Wohnort und der Wegezeiten
weist die Rechtsprechung unterschiedliche Tendenzen auf. Bezüglich der Wahl zwi-
schen den Betreuungs- und Förderungsvarianten Kindertageseinrichtungen und Kin-
dertagespflege hat die Rechtsprechung klargestellt, dass beide Angebotsformen
gleichwertig sind. Die von der Bundesregierung angestrebte Wahlfreiheit der Eltern
ist vielerorts eingeschränkt, da kein ausreichendes öffentliches Betreuungsangebot
in Form von Kitas oder Kindertagespflege zur Verfügung steht.

Für die Qualität der frühkindlichen Bildung ist auch ein gesellschaftlicher Konsens
bezüglich der inhaltlichen Leitbilder vonnöten. In diesem Rahmen ist unter anderem
die Förderung der Akzeptanz der gesellschaftlichen Vielfalt zu gewährleisten: die
Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderung, Regenbogenfamilien und
die Interkulturalität. Nicht zuletzt spiegelt sich diese Vielfalt in den Einrichtungen
selbst wieder. Dafür müssen die entsprechenden Grundlagen gestärkt bzw. geschaf-
fen werden.

Mit diesen umfassenden Problemlagen dürfen die Familien, Kinderbetreuungsein-
richtungen und ihre Beschäftigten nicht alleine gelassen werden. Eine gute Förde-
rung von Kindern braucht gute Rahmenbedingungen, die geschaffen werden müs-
sen.

Dabei muss der Augenmerk auf die Kommunen gelegt werden: Sie tragen die finan-
zielle Hauptlast der Kinderbetreuung. Deren finanzielle Lage ist mit ausschlagge-
bend für die Ausstattung und Qualität der frühkindlichen Förderung. Für die Kinder-
tagesbetreuung wurden 2012 20,36 Mrd. Euro ausgegeben (Statistiken der Kinder-
und Jugendhilfe 2012). Die finanzielle Beteiligung des Bundes macht trotz der Ein-
richtung und der wiederholten Aufstockung des Sondervermögens sowie einer Be-
teiligung des Bundes an den Betriebskosten nur einen Bruchteil der anfallenden Kos-
ten aus. Die aktuell vorgesehene Aufstockung des Sondervermögens zum Ausbau
der Kinderbetreuung um 550 Mio. Euro reicht nicht aus, um den Ausbau quantitativ
und qualitativ gemäß den Erfordernissen voranzutreiben. Das bestehende jährliche
Finanzierungsdefizit beläuft sich auf bis zu 10 Mrd. Euro (z. B. Stefan Sell: Die
Finanzierung der Kindertagesbetreuung vom Kopf auf die Füße stellen: 9 Mrd.
Euro).

Um den Ausbau der Kinderbetreuung qualitativ und quantitativ voranzutreiben,
braucht es einen breiten gesellschaftlichen Prozess, in dem die bestehenden Defizite
in den Bereichen der Quantität, der Qualität und der Finanzierung analysiert und
tragfähige Lösungen erarbeitet werden. Die derzeit bestehenden mitunter extremen

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Unterschiede bezüglich Angebot, Qualität und Umfang der Förderung sind nicht hin-
nehmbar. Alle Kinder im Bundesgebiet haben das Recht, gemäß ihren Bedürfnissen
gefördert und betreut zu werden – unabhängig von der Finanzkraft der Kommune
und des Bundeslandes, in dem sie leben. Der Bund hat die Verantwortung, sich für
gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet einzusetzen und ist somit auch
finanziell stärker in die Pflicht zu nehmen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. unverzüglich eine Sachverständigenkommission sämtlicher Akteure einzurich-
ten, die insbesondere aus Vertretern und Vertreterinnen und von Bund, Ländern,
Kommunen, Jugendämtern, Wissenschaft, Elternvertretern und -vertreterinnen,
Kinderrechtsexperten und -expertinnen , Trägern der Kindertageseinrichtungen
und Gewerkschaften besetzt wird, die beauftragt wird, bis zum 31. Dezember
2015 ein Konzept vorzulegen, um die bestehenden Defizite in den Bereichen der
Quantität, der Qualität und der Finanzierung aufzulösen;

2. anhand dessen einen Entwurf eines Kitaqualitätsgesetzes vorzulegen, das Min-
destqualitätsstandards für öffentliche Kindertagesbetreuung definiert und dar-
über hinaus sicherstellt, dass über diese Definitionen hinausgehende Qualität
nicht abgesenkt wird. Ebenso ist ein Gestaltungsspielraum für die öffentlichen
Träger der Kinder- und Jugendhilfe zu sichern, der den regionalen Besonderhei-
ten und Anforderungen Rechnung trägt. Der Geltungsbereich des Gesetzes soll
Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege umfassen und die jeweiligen
Besonderheiten der Frühförderungseinrichtungen berücksichtigen. Dabei sind
insbesondere für folgende Bereiche Qualitätskriterien zu entwickeln und festzu-
schreiben:
Fachkraft-Kind-Relation
Kompetenzprofile, Ausbildung, Qualifizierung und Weiterbildung der

Fachkräfte
Zeit für Führungsaufgaben, Zeit für Vor- und Nachbereitung
wohnort- bzw. sozialraumnahe sowie inklusive Betreuung und Förderung
Raumgrößen, Ausstattung und Freiflächen
Anspruch auf Ganztagesbetreuung und Förderung unabhängig von der Si-

tuation der Eltern
Qualität der Essensversorgung
Attraktivität des Berufsfeldes, Arbeitsbedingungen und Prävention;

3. eine Neuregelung der Lastenverteilung bezüglich der Kinderbetreuungskosten
zwischen dem Bund auf der einen Seite und den Ländern auf der anderen Seite
voranzutreiben, die eine stärkere Beteiligung des Bundes an den Kosten der Kin-
derbetreuung und eine indirekte Entlastung der Kommunen zur Folge hat, die
bei der bisherigen Regelung ungleich stark für die laufenden Kosten Verantwor-
tung übernehmen mussten. Im Rahmen dieser Neuregelung sind die Elternbei-
träge für die Kinderbetreuung abzuschaffen und eine hochwertige gebührenfreie
Essensversorgung einzurichten;

4. für den Übergangszeitraum bis zu einer Neuregelung der Finanzierung das Son-
dervermögen zum Ausbau der Kinderbetreuung seitens des Bundes jährlich um
1 Mrd. Euro aufzustocken.

Berlin, den 23. September 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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