BT-Drucksache 18/2021

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 18/1558, 18/2010 - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz)

Vom 2. Juli 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2021
18. Wahlperiode 02.07. 2014

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae,
Markus Kurth, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Katja Dörner, Dieter Janecek,
Sven-Christian Kindler, Maria Klein-Schmeink, Dr. Gerhard Schick, Kordula
Schulz-Asche, Dr. Julia Verlinden, Beate Walter-Rosenheimer und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 18/1558, 18/2010 (neu) –

Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie
(Tarifautonomiestärkungsgesetz)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Es ist ein großer Fortschritt, dass nun endlich auch in Deutschland ein allgemeiner
gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde eingeführt werden
soll. Diese Entscheidung ist seit langem überfällig. Bis zu fünf Millionen Beschäf-
tigte könnten davon profitieren. Damit der Mindestlohn wirken kann, muss er
umfassend gelten. Denn je mehr Ausnahmen vom Mindestlohn zugelassen werden,
desto weniger kann er als Schutz vor Lohndumping fungieren. Im Gegenteil: Die
Ausnahme großer Gruppen vom Geltungsbereich des Mindestlohns birgt die Ge-
fahr, dass er systematisch unterlaufen wird und ein neuer Niedriglohnsektor unter-
halb des Mindestlohns entsteht. Darum lehnt die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN die weitreichenden Ausnahmen vom Mindestlohn entschieden ab. Auch
Sonderlösungen für ganze Branchen oder Gruppen wie sie die Bundesregierung
jetzt plant, sind in keiner Weise akzeptabel.
Der Trend zu Niedriglöhnen und die Erosion des Tarifvertragssystems in Deutsch-
land müssen gestoppt werden. Ein Blick in andere europäische Länder zeigt, dass
das möglich ist, denn viele europäische Länder verfügen über eine hohe Tarifbin-
dung. Dort ist das Tarifsystem stabil und seine Funktionsfähigkeit abgesichert,
indem die Politik regelnd eingreift. Zudem gibt es in 21 europäischen Staaten einen
allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, mit dem das Ausfransen der Verdienste
nach unten verhindert wird. Inzwischen hat auch die Bundesregierung die Problem-
lage erkannt und das Tarifautonomiestärkungsgesetz in den Bundestag eingebracht.
Den Dreiklang von gesetzlichem Mindestlohn, Erleichterungen für mehr allge-
meinverbindlich erklärte Tarifverträge nach dem Tarifvertragsgesetz und das Öff-

Drucksache 18/2021 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

nen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes für alle Branchen unterstützt die Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
In Deutschland hat sich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern in den
vergangenen zwei Jahrzehnten ein ausgeprägter Niedriglohnbereich entwickelt. So
verdienen in Schweden nur 3 Prozent der Beschäftigten und in Frankreich 6 Pro-
zent einen Niedriglohn (zwei Drittel des Medianlohnes). In Deutschland hingegen
sind es 22 Prozent der Beschäftigten. Auch eine starke Ausdifferenzierung des
Niedriglohnbereichs mit extrem niedrigen Stundenlöhnen ist an der Tagesordnung.
Mehr als 2,5 Millionen Menschen in Deutschland verdienen weniger als 5 oder 6
Euro in der Stunde.
Um diese Entwicklung umzukehren, sind die Einführung eines gesetzlichen Min-
destlohns und die Stabilisierung des Tarifvertragssystems in Deutschland unerläss-
lich.
Ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde hat das Ziel, dass Vollzeit erwerbstäti-
ge Alleinstehende ihre Existenz eigenständig sichern können. Er verhindert darüber
hinaus ein weiteres Absinken des Lohnniveaus in Deutschland insgesamt und kann
damit sowohl einen Beitrag zur Bekämpfung von Armut trotz Erwerbstätigkeit als
auch für eine bessere ökonomische Entwicklung leisten. Insbesondere Frauen, die
die Mehrheit der Niedriglohnbeschäftigten stellen, werden mit dem Mindestlohn
mehr Geld als zuvor im Portemonnaie haben. Der Mindestlohn verhindert auch,
dass der Staat und damit die Steuerzahlerinnen und -zahler weiter als Ausfallbür-
gen für Lohndumping herhalten müssen. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn
trägt darüber hinaus zu fairen Wettbewerbsbedingungen bei. Konkurrenz auf dem
Rücken der Beschäftigten und mit negativen Folgen für Unternehmen, die faire
Arbeitsbedingungen anbieten, wird damit unterbunden.
Um den Trend zu Niedriglöhnen in Deutschland umzukehren, muss aber zugleich
auch die Erosion des Tarifvertragssystems gestoppt werden, die eine wichtige Ur-
sache für die Ausbreitung des Niedriglohnsektors in Deutschland ist. In der Ver-
gangenheit haben die Flächen- und Branchentarifverträge immer mehr an Bedeu-
tung verloren. Mittlerweile ist die Zahl der von Tarifverträgen geschützten Be-
schäftigten von einst 80 Prozent auf heute 59 Prozent zurückgegangen.
Diese Entwicklung muss konsequent gestoppt werden. Der Reform der Allgemein-
verbindlicherklärung (AVE) nach dem Tarifvertragsgesetz kommt dabei eine be-
sondere Rolle zu, denn Tarifverträge schützen Beschäftigte sehr wirkungsvoll vor
Niedriglöhnen. Eine wichtige Bedeutung hat darüber hinaus die Öffnung des Ar-
beitnehmer-Entsendegesetzes für alle Branchen. Branchenmindestlöhne sind un-
verzichtbar, weil sie tariflich vereinbarte Mindestarbeitsbedingungen in schwieri-
gen Branchen absichern und – anders als die AVEs – staatlich kontrolliert werden
und mit Sanktionen unterlegt sind. Im Zusammenspiel mit dem gesetzlichen Min-
destlohn werden sie das weitere Ausfransen der Löhne nach unten stoppen. Der
Dreiklang aus Mindestlohn, Branchenmindestlöhnen und AVEs wird das Tarifver-
tragssystem stabilisieren, die Tarifbindung erhöhen und die Verteilungskonflikte
auf Betriebsebene reduzieren. Für tariftreue Betriebe entsteht ein verlässlicher
Wettbewerbsrahmen und Schutz vor Dumpingkonkurrenz. Tarifflucht wird sich
immer weniger lohnen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung weist insgesamt in die richtige Richtung.
Allerdings sind etliche Punkte insbesondere beim Mindestlohngesetz nicht zufrie-
denstellend gelöst.
Die Ausnahmen vom Mindestlohn für Langzeitarbeitslose und junge Menschen
unter 18 Jahren wirken stigmatisierend und sind nicht dazu geeignet, die mit
den Ausnahmen verbundenen Zielsetzungen zu erreichen. Der Verzicht auf jeg-
liche Lohnuntergrenze für die genannten Gruppen ermöglicht weiter Dumping-
löhne bis hin zur Sittenwidrigkeitsgrenze. Zudem schwächen die Ausnahmen

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2021

das Tarifsystem, weil sie nur von tarifungebundenen Betrieben genutzt werden
können. Das widerspricht der Zielsetzung des Gesetzes.
Eine zusätzliche Sonderregelung führt dazu, dass Zeitungszustellern der allge-
meine Mindestlohn bis 2018 vorenthalten werden kann. Dies benachteiligt die
betroffenen Beschäftigten und untergräbt die Wirksamkeit des Mindestlohns.
Mit Blick auf die Saisonarbeit wurde zudem die versicherungsfreie kurzfristige
Beschäftigung von 50 auf 70 Tage ausgeweitet. Das ist ein sozialpolitischer
Rückschritt. Die Möglichkeit für Arbeitgeber, Kost und Unterkunft vom Lohn
abzuziehen, ist missbrauchsanfällig und schwer zu kontrollieren. Damit unter-
läuft die Regierungskoalition zudem ihre eigene Vorgabe, wonach Übergangs-
regelungen eine allgemeinverbindliche tarifliche Einigung voraussetzen. Eine
spezifische Bevorteilung einzelner Branchen gegenüber anderen ist nicht ge-
rechtfertigt.
In der Mindestlohn-Kommission bleibt die Wissenschaft ohne Stimmrecht.
Damit verzichtet die Bundesregierung auf einen wichtigen Erfolgsfaktor des
britischen Mindestlohnkonzepts. Die verbindliche und ständige Begleitung des
Mindestlohnprojektes durch die Wissenschaft hat dort wesentlich zur breiten
Akzeptanz des Mindestlohns beigetragen. Diese große Zustimmung über alle
Interessenlager hinweg hat die tatsächliche Durchsetzung des Mindestlohns er-
heblich erleichtert. Die politische Festlegung der Mindestlohnhöhe auf 8,50 Eu-
ro pro Stunde bis mindestens 2017 entwertet die Rolle der Mindestlohn-
Kommission zusätzlich.
Die Evaluation des Gesetzes im Jahr 2020 greift zu spät. Eine Reform dieses
Ausmaßes bedarf einer wissenschaftlichen Begleitung von Anfang an. Die vor-
gesehene Auswertung durch die Mindestlohn-Kommission wird diesem An-
spruch nicht gerecht. Nur eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation eröff-
net die Chance, mögliche Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen und zu
korrigieren. Insbesondere das Unterlaufen von Mindestlöhnen und allgemein-
verbindlich erklärten Tarifverträgen durch Scheinwerkverträge und Schein-
selbstständigkeit muss frühzeitig verhindert werden.
Die Einführung des Mindestlohns muss zudem effektiv kontrolliert werden.
Dafür ist die für die Kontrolle zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS)
entsprechend personell und finanziell auszustatten. Bisher ist nicht zu erkennen,
dass die Bundesregierung ausreichende Mittel bereitzustellen gedenkt. Ohne
wirksame Kontrollen droht der Mindestlohn aber zum Papiertiger zu verkom-
men.
Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen und branchenspezifi-
schen Mindestlöhnen nach dem Tarifvertragsgesetz und Arbeitnehmer-
Entsendegesetz können weiterhin im Tarifausschuss von den Spitzenverbände
der Arbeitgeber und Arbeitnehmer blockiert werden, obwohl sich die zuständi-
gen Branchen-Tarifvertragsparteien auf einen gemeinsamen Antrag geeinigt
haben. Das entspricht nicht der Intention des Gesetzes.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt und unterstützt das Tarifautonomiestär-
kungsgesetz und insbesondere, dass ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn ein-
geführt werden soll. Damit diese Absicht umfassend und wirkungsvoll umgesetzt
werden kann, fordert er die Bundesregierung zugleich auf, ihren Gesetzentwurf an
einigen Punkten nachzubessern und

1. den allgemeinen Mindestlohn für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland, also auch für vormals Langzeitarbeitslose sowie Jugendliche, ein-
zuführen;

2. von Sonderregelungen für Zeitungsausträger und Saisonarbeitskräfte abzuse-
hen;
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3. die Mindestlohn-Kommission um stimmberechtigte Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler zu erweitern, sie mit Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes
einzusetzen und selbständig darüber entscheiden zu lassen, wann und wie der
Mindestlohn erstmalig angepasst werden soll;

4. eine regelmäßige und unabhängige wissenschaftliche Evaluierung des Gesetzes
von Anfang an zu beauftragen. Wird ein Unterlaufen von Mindestlöhnen durch
Scheinselbstständigkeit oder Scheinwerkverträge festgestellt, sind zügig geeig-
nete Gegenmaßnahmen zu ergreifen;

5. die wirksame Kontrolle des allgemeinen Mindestlohnes sowie von Branchen-
Mindestlöhnen durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) sicherzustellen,
indem der zusätzliche von der FKS ermittelte Bedarf von 1 600 Personalstellen
schrittweise aufgebaut wird;

6. die Möglichkeit von Blockaden beim Abstimmungsverfahren im Tarifausschuss
des Tarifvertragsgesetz zu verhindern, indem der Tarifausschuss um die Antrag
stellenden Tarifparteien erweitert wird.

Berlin, den 1. Juli 2014

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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