BT-Drucksache 18/1872

Bestandsobergrenzen für Tierhaltungen einführen

Vom 24. Juni 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/1872
18. Wahlperiode 24.06.2014

Antrag
der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, Karin Binder, Heidrun Bluhm, Eva Bulling-Schröter, Roland
Claus, Kerstin Kassner, Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Michael Leutert,
Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze, Hubertus Zdebel und
der Fraktion DIE LINKE.

Bestandsobergrenzen für Tierhaltungen einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Wie landwirtschaftliche Nutztiere in der Bundesrepublik Deutschland gehalten
werden, wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Die Empörung der Verbraucherin-
nen und Verbraucher über negative Auswirkungen von Tierhaltungsanlagen und
aus ihrer Sicht unzureichenden Haltungsverfahren lässt keineswegs nach.

Etliche Stallneubauten und -erweiterungen werden immer öfter von Protesten der
Anwohnerinnen und Anwohner, von Umwelt- und Verbraucherschutz- sowie kriti-
schen Agrarverbänden begleitet. Gleichzeitig wachsen unabhängig von der Größe
der Tierhaltungsanlage die gesetzlichen Anforderungen an die Haltungsbedingun-
gen, was zu einer Verdrängung kleiner Tierhaltungen führen kann. Damit ist die
Debatte über die Tierhaltung, welche gern als „Massentierhaltung“ von Medien
aufgegriffen wird, weniger eine Debatte „Groß gegen Klein“, sondern vor allem
über die Qualität der Tierhaltung, die Tiergesundheitsvorsorge und die konkrete
Situation vor Ort. Es ist auch eine Debatte über eine ungerechte Marktordnung, die
soziales und ökologisches Handeln zum betriebswirtschaftlichen Risiko in Tierhal-
tungsbetrieben werden lässt.

Ein gesellschaftlicher Konsens scheint weit entfernt zu sein. So sehr die intensive
Tierhaltung einerseits von einer breiten Bevölkerungsmehrheit abgelehnt wird, so
sehr werden andererseits erschwingliche Produkte tierischer Herkunft nachgefragt.
Nachhaltige Tierhaltung ist keine Aufgabe, die die Politik der Abstimmung mit
dem Einkaufswagen oder dem Markt allein überlassen sollte. Vielmehr ist sie ge-
fordert, aktiv zu werden. Sie muss den gesellschaftlichen Dialog über die Massen-
tierhaltung aufnehmen und unterstützen.

Wie und wie viele Tiere an einem Standort und in einer Region gehalten werden,
muss bei einer solchen Diskussion im Fokus stehen. Dabei ist die Tiergesundheit in
den Mittelpunkt der Gesetzgebung zu rücken. Es müssen Kriterien verbindlich
festgelegt werden, die sowohl den Anforderungen des Tierschutzes als auch den
Umweltanforderungen für eine nachhaltige, regionale Entwicklung gerecht werden.
Ein wichtiger Aspekt, den es zu berücksichtigen gilt, ist neben der Größe der Nutz-
tierbestände an einem Standort auch die Höhe der Tierkonzentration in der jeweili-

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gen Region. Neben Anforderungen an die Realisierbarkeit von Maßnahmen zur
Verhütung und Bekämpfung von Tierseuchen und -erkrankungen gehört dazu unter
Anderem die Analyse, welche Flächen zum Anbau der Futtermittel und zur Aus-
bringung der Wirtschaftsdünger zur Verfügung stehen. Darüber hinaus ist es wich-
tig, welche Verkehrswege vor Ort real zur Ver- und Entsorgung nutzbar sind.

Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag sind in der Pflicht, die Leitplan-
ken einer nachhaltigen, gesellschaftlich gewollten Tierhaltung in der Bundesrepub-
lik Deutschland zu präzisieren. Sie müssen dem Tierwohl, den Interessen der Ver-
braucherinnen und Verbraucher, dem Boden-, Gewässer-, Natur- und Klimaschutz
sowie dem Anspruch wirtschaftlich vitaler ländlicher Räume gerecht werden. Da-
durch wird auch den Agrarbetrieben Planungs- und Betriebssicherheit gegeben. Zu
einer nachhaltigen Tierhaltung gehören darüber hinaus vernünftige Arbeitsbedin-
gungen und gute Bezahlung sowie bedarfsgerechte Ausstattung mit gut qualifizier-
tem Personal.

Die Bundesregierung muss zur Befriedung der zugespitzten gesellschaftlichen
Konflikte beitragen. Beispielsweise, indem sie Regelungen vorschlägt, die grund-
sätzliche Erwägungen im Gemeinwohlinteresse bereits berücksichtigen und die
Entscheidungsspielräume entsprechend begrenzt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, um Obergrenzen für Nutztierbestandsgrößen
pro Standort (epidemiologische Einheiten) und Bestandsdichten für Regionen
zu definieren, die folgende Anforderungen erfüllen:
o Minimierung des Risikos der Einschleppung und Verbreitung von Tier-

seuchen, insbesondere Zoonosen, und Minimierung volkswirtschaftlicher
Schäden;

o Sicherung der Umsetzung von wissenschaftlich begründeten Bekämp-
fungskonzepten im Fall des Ausbruchs von Tierseuchen, insbesondere
Zoonosen, und Minimierung volkswirtschaftlicher Schäden;

o Berücksichtigung der ökologischen Belastbarkeit der Umgebung (Nähr-
stoffsalden) und der regional verfügbaren Flächenkapazitäten bzw. anderer
ökologischer Risiken;

die Agrarressortforschung zu beauftragen, die dafür notwendigen wissen-
schaftlichen Grundlagen zu schaffen und dafür die notwendigen personellen
und finanziellen Ressourcen zur Verfügung zu stellen;
einen Gesetzentwurf vorzulegen, um die Privilegierung der Landwirtschaft im
Baugesetzbuch entsprechend dieser Grenzen der Nutztierbestandsgrößen am
Standort und Bestandsdichten in Regionen zu deckeln und ein Mitspracherecht
der regionalen Bevölkerung und ihrer kommunalen Vertretungen bei Standort-
entscheidungen zu sichern;
einen Gesetzentwurf vorzulegen, um das Düngerecht so zu ändern, dass euro-
parechtliche Schutzvorgaben für Gewässer und Böden eingehalten werden;
sich mit den Bundesländern darauf zu verständigen, dass im Rahmen des Ag-
rarinvestitionsförderprogramms (AFP) bei Stallneubauten der Anteil der be-
sonders tiergerechten Premiumförderung gegenüber der Basisförderung konti-
nuierlich erhöht und mittelfristig nur noch die Premiumförderung angeboten
wird;
einen Gesetzentwurf vorzulegen, um ein obligatorisches Prüf- und Zulas-
sungsverfahren für Haltungssysteme, Betäubungseinrichtungen beim Schlach-
ten und für Tiertransporte für alle Nutztiere („Tierschutz-TÜV“) zu schaffen;

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einen Gesetzentwurf zur Änderung des Tierschutzgesetzes vorzulegen, um
Eingriffe bei Tieren zur Anpassung an Haltungsbedingungen, wie beispiels-
weise das Kupieren von Schwänzen und Schnäbeln oder die betäubungslose
Ferkelkastration, unverzüglich zu verbieten und zu regeln, dass in die Bundes-
republik importierte Waren diesen Anforderungen ebenfalls genügen müssen;
die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung so zu ändern, dass dort alle land-
wirtschaftlichen Nutztiere erfasst und ihre tiergerechte Haltung festgeschrieben
werden. Bestehende Vorschriften sind auf ihre Tiergerechtigkeit zu überprüfen
und tierschutzrelevante Verbesserungen vorzuschlagen;
einen Gesetzentwurf vorzulegen, um schnellstmöglich das Verbandsklagerecht
als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage für anerkannte Tierschutzorganisa-
tionen auf Bundesebene einzuführen.

Berlin, den 24. Juni 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die Europäische Union ist mit rund 45 Millionen Tonnen der weltweit zweitgrößte Fleischproduzent. In
Deutschland wurden im Jahr 2013 8 449 000 Tonnen Fleisch erzeugt. Der Pro-Kopf-Verbrauch lag bei 90,6
Kilogramm pro Jahr. Der Selbstversorgungsgrad lag für Rindfleisch bei 109 Prozent, bei Schweinefleisch bei
116 Prozent, bei Geflügelfleisch bei 111 Prozent und für Konsummilch bei 122 Prozent (Situationsbericht
des Deutschen Bauernverbandes 2013/2014). Bereits heute werden in der Bundesrepublik Deutschland deut-
lich mehr Lebensmittel tierischen Ursprungs produziert als im Land selbst nachgefragt. Jeder neue Stall ist
somit ein weiterer Beitrag zum Agrarexport und damit den Dumpingpreisen eines globalen Agrarmarktes
ausgeliefert.

Im Koalitionsvertrag schreiben CDU/CSU und SPD: „Wir nehmen die kritische Diskussion zur Tierhaltung
in der Gesellschaft auf und entwickeln eine nationale Tierwohl-Offensive.“ Darüber hinaus erkannten die
Koalitionspartner die Notwendigkeit über Bestandsgrößen zu diskutieren: „Wir werden überdies einen wis-
senschaftlichen Diskurs über Größen tiergerechter Haltung von Nutztieren auf den Weg bringen.“ Das war
im Herbst 2013. Doch passiert ist bisher nichts. Es blieb lediglich bei diesen Ankündigungen. Das reicht
nicht, denn die kritische Diskussion zur Tierhaltung wird kontinuierlich intensiver.

In einigen Regionen der Bundesrepublik Deutschland, beispielsweise in Brandenburg, Niedersachsen, Meck-
lenburg-Vorpommern oder Nordrhein-Westfalen, nehmen die Proteste gegen geplante Tierhaltungsanlagen
weiter zu. In Brandenburg wurde Anfang 2014 eine „Volksinitiative gegen Massentierhaltung“ gestartet,
welche die Verbesserung der Tierhaltungsbedingungen zum Ziel hat. Das Bündnis „Bauernhöfe statt Agrar-
fabriken“ ist seit Jahren aktiv und vernetzt erfolgreich etliche lokale und regionale Bürgerinitiativen. Unter
dem Motto „Wir haben es satt“ gehen alljährlich tausende Menschen im Januar in Berlin auf die Straße. Der
Protest macht deutlich: Aktuelle Stallneubauprojekte bis zu 40 000 Schweinen oder 400 000 Hähnchen sind
jenseits dessen, was die meisten Menschen als verträgliche Tierkonzentrationen akzeptieren würden. Doch
solche Investitionen werden nach wie vor geplant und beantragt.

In den besonders nutztierintensiven Regionen sind die Grenzen der Umweltbelastung seit Langem erreicht.
Sie führen lokal und regional oft zu Ungleichgewichten zwischen Gülleerzeugung und Nährstoffbedarf. Die
Akzeptanz der intensiven Tierhaltungsanlagen sinkt, vor allem wegen der zunehmenden Nährstoffanreiche-
rung in Böden und Gewässern. Teilweise ist die Nitratbelastung des Trinkwassers so hoch, dass eine Trink-
wassergewinnung kaum oder nur noch mit teuren und aufwendigen Aufbereitungsmethoden möglich ist.
Hinzu kommt, dass Überdüngung zu einem Ungleichgewicht im Nährstoffhaushalt des Bodens führen kann.
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Artengemeinschaften verschieben sich. Die biologische Vielfalt wird bedroht oder geht verloren. Gleichzeitig
sorgen Geruch und Transporte für Unmut bei den Anwohnerinnen und Anwohnern. Es macht aber mehr
Sinn, die Tierhaltung ausgewogen regional zu verteilen, statt Gülle über große Strecken zu transportieren und
unnötig zwischenzulagern.

Die immer stärker ansteigenden Bestandsgrößen führen zu einer schlechteren Überwachung der Tierbestände.
Im Sinne des Tierschutzes und des schnellstmöglichen Eingreifens im Fall eines Tierseuchenverdachtes ist es
notwendig, ausreichend und vor allem gut geschultes Personal zu haben sowie die Ein- und Verschleppungs-
risiken zu minimieren. Dazu trägt auch bei, wenn möglichst geringe Tierzahlen auf eine betreuende Person
verteilt und damit eine optimale Überwachung für die Tiere einerseits und die Verbraucherinnen und Ver-
braucher andererseits gewährleistet ist. Auch kommt eine tiergerechte Haltung der Qualität des tierischen
Produkts zugute, denn dies wird maßgeblich durch die Lebensbedingungen und Gesundheit des Tieres beein-
flusst. Darüber hinaus spielt auch die Gesundheit des Verbrauchers oder der Verbraucherin eine Rolle. Ein
erhöhtes Risiko für die Belastungen mit multiresistenten Keimen (MRSA) kann vor allem in Großbetrieben
mit Schweinemast bestehen.

Ein großes Problem der modernen intensiven Tierhaltung stellen die sogenannten Technopathien dar. Diese,
durch nicht artgerechte Haltung bzw. Nutzungssysteme hervorgerufenen Erkrankungen, machen es den Tie-
ren unmöglich, ohne Leiden zu leben. Bei einigen Rinderrassen sind Schwergeburten an der Tagesordnung.
Euter- und Klauenerkrankungen haben hohe betriebswirtschaftliche Bedeutung für die Landwirtin oder den
Landwirt.

Ziel sollte es sein, dass die Tiere ihr natürliches Verhalten ausleben können und die Haltungssysteme den
Bedürfnissen der Tiere angepasst werden – statt umgekehrt. Dies kommt zum einen dem Tierwohl zu Gute
und führt zum anderen zur Reduzierung von Ausgaben für ärztliche Behandlungen und zur Senkung von
Medikamenteneinsätzen bei vermeidbaren Erkrankungen. Gleichzeitig reduziert dies gesundheitliche Risiken,
z. B. Resistenzbildungen.

Wenn Tiere nicht tiergerecht gehalten werden, ist dies neben einer unzureichenden Bestandsbetreuung und
eventuellen Qualzuchten einer der Hauptgründe für die Kritik an der so genannten Massentierhaltung. Um
die Haltungsbedingungen so tiergerecht wie möglich auszugestalten, sollte ein Prüfverfahren für
Aufstallungssysteme und Stalleinrichtungen etabliert werden. Dieses muss die Anforderungen an eine tierge-
rechte Tierhaltung so definieren, dass Neuinvestitionen automatisch zu deutlichen Verbesserungen im Be-
reich des Tierschutzes führen. Das gleiche gilt für Schlachtungen und Tiertransporte (vgl. Bundestagsdruck-
sache 17/2143). Im Koalitionsvertrag verpflichten sich CDU/CSU und SPD „ein bundeseinheitliches Prüf-
und Zulassungsverfahren für Tierhaltungssysteme“ zu erarbeiten. Das darf nicht weiter hinausgeschoben
werden.

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