BT-Drucksache 18/13181

Bestandsaufnahme des deutschen Tarifvertragssystems

Vom 20. Juli 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/13181
18. Wahlperiode 20.07.2017

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Susanna Karawanskij, Thomas Lutze, Thomas Nord, Richard Pitterle,
Michael Schlecht, Dr. Axel Troost, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Bestandsaufnahme des deutschen Tarifvertragssystems

Seit Mitte der 1990er-Jahre erodiert das deutsche Tarifvertragssystem. Es ist fest-
zustellen, dass die tarifpolitisch gut regulierten Kerne immer kleiner und die
tarifvertragsschwachen und -freien Zonen immer größer werden. Es handelt sich
dabei um einen inkrementellen Prozess, der mehrere Ursachen und Verlaufs-
formen hat: die Erosion struktureller Macht, gewerkschaftlicher Organisations-
macht und institutioneller Macht (vgl. WSI:4:2009 S. 201, www.boeckler.de/wsi
mit_2009_04_bispinck_schulten.pdf). Das Tarifvertragssystem wird gestützt
durch die Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) von Tarifverträgen nach
§ 5 des Tarifvertragsgesetzes (TVG). Dadurch sollen tarifvertragliche Schmutz-
konkurrenzen und damit sozial unfaire Wettbewerbsvorteile verhindert werden.
Auch die Bundesregierung stellt fest, dass „in Deutschland […] die Beschäfti-
gung zu niedrigen Löhnen in den vergangenen Jahren zugenommen [hat]. Insbe-
sondere im Bereich einfacher Tätigkeiten sind die Tarifvertragsparteien oftmals
nicht mehr selbst in der Lage, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor unange-
messen niedrigen Löhnen zu schützen“ (Bundestagsdrucksache 18/1558). Die
Fragesteller bezweifeln, dass das Tarifautonomiestärkungsgesetz die richtigen In-
strumente bereithält.
Die Bundesregierung versucht nun, unter anderem mit sogenannten tarifdisposi-
tiven Regelungen die Attraktivität von Tarifverträgen für Arbeitgeber zu stärken.
Beispiele für solche Regelungen sind unter anderem im Arbeitnehmerüberlas-
sungsgesetz, im Teilzeit- und Befristungsgesetz sowie im Betriebsrentenstär-
kungsgesetz zu finden. Die Bundesregierung lässt ausdrücklich Abweichungen
von bestehenden Gesetzen zu. Die Tarifparteien dürfen somit über Verschlechte-
rungen vom Gesetz verhandeln. Tarifgebundene Unternehmen sollen damit „prä-
feriert“ (Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auf dem Meseberger Treffen am
23. Juni 2016, www.faz.net/aktuell/wirtschaft/f-a-z-exklusiv-nahles-gibt-startschuss-
fuer-grosse-experimente-mit-der-arbeitszeit-14534469.html) und „privilegiert“
(Bundesministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles in der FAZ am
19. November 2016, www.boerse-online.de/nachrichten/aktien/Regierung-prueft-
Staerkung-der-Tarifbindung-1001268146) werden.
Kritische Stimmen sehen in tarifdispositiven Regelungen die Gefahr einer einsei-
tigen Stärkung der Arbeitgeber. Der Arbeitsrechtler Prof. Dr. Wolfgang Däubler
sieht „(…) nicht, dass die Gewerkschaften auf diesem Wege bessere Arbeitsbe-
dingungen erreichen könnten. Eine solche Erweiterung tariflicher Möglichkeiten
stellt in Wahrheit eine Belastung dar. Die Arbeitgeber werden Druck ausüben,
weil sie mehr Flexibilität erreichen wollen. Um diesen Druck abzuwehren,

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braucht man gewerkschaftliche Kraft. Fehlt sie, bleibt nur der Weg zu immer
schlechteren Tarifverträge“ (Junge Welt, 7. Januar 2017, S. 15).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele Anträge auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifver-

trages gab es nach Kenntnis der Bundesregierung in den Jahren 2000 bis
2017, wie viele mündeten in eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung, und
wie viele wurden abgelehnt (bitte nach Branchen differenzieren; bitte die
Gründe der Ablehnung benennen sowie die ablehnende Institution angeben;
bitte auch ausweisen, ob es sich um Folgeanträge oder Neuanträge handelt,
sowie nach Arbeitnehmerentsendegesetz und nach Tarifvertragsgesetz diffe-
renzieren, bitte nach Anträgen auf Bundesebene und auf der Ebene der Län-
der unterscheiden)?

2. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Anzahl von Klagen ge-
gen bestehende Allgemeinverbindlichkeitserklärungen (bitte nach Bundes-
ländern und Bund aufschlüsseln)?

3. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Zusammensetzung der
Tarifvertragsausschüsse nach Organisationen/Institutionen (bitte nach Bun-
desländern und Bund aufschlüsseln)?

4. In welchen und in wie vielen Allgemeinverbindlichkeitserklärungen wurde
nach Kenntnis der Bundesregierung die komplette Lohntabelle und in wel-
chen und in wie vielen wurden nur einzelne Lohngruppen für allgemeinver-
bindlich erklärt (bitte nach Bundesländern und Bund aufschlüsseln)?

5. Wie viele und welche Tarifverträge wurden nach Kenntnis der Bundesregie-
rung aufgrund des neuen § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt (bitte
nach Anträgen auf Bundesebene und auf der Ebene der Länder unterschei-
den)?

6. In welchen Branchen sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf oder hat
die Bundesregierung in Planung, Tarifverträge nach § 5 Absatz 1 TVG für
allgemeinverbindlich zu erklären?

7. Wie viele Tarifverträge wurden nach Kenntnis der Bundesregierung seit
2000 von Innungen abgeschlossen (bitte Abschlüsse jährlich, nach Innung,
nach Neuabschlüssen und nach Folgetarifverträgen ausweisen, bitte nach
Ost/West, einzelnen Bundesländern sowie nach Branchen differenzieren, je-
weils bitte auch die Tarifbindung der Betriebe und der Beschäftigten auswei-
sen)?

8. Wie erklärt sich die Bundesregierung die sinkende Zahl der Allgemeinver-
bindlichkeitserklärung von Tarifverträgen?

Sieht die Bundesregierung hier Handlungsbedarf?
Wenn ja, welchen?

9. Wie hat sich die Tarifbindung nach Kenntnis der Bundesregierung in den
einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in den vergangenen
15 Jahren entwickelt, und wie hoch ist sie derzeit jeweils?

10. Wie hat sich die Anzahl von Tarifverträgen nach Kenntnis der Bundesregie-
rung in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in den ver-
gangenen 15 Jahren entwickelt (bitte jährlich darstellen)?

11. Wie viele Beschäftigte fallen nach Kenntnis der Bundesregierung in den Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union unter den Geltungsbereich eines Tarif-
vertrages (bitte die letzten 15 Jahre ausweisen und jährlich darstellen)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/13181

12. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil der für allge-

meinverbindlich erklärten Tarifverträge in den Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union, und wie hoch ist der Anteil der Beschäftigten, die in den Gel-
tungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages fallen?

13. Wie viele Ausfalltage aufgrund von Arbeitskampfmaßnahmen gab es nach
Kenntnis der Bundesregierung in Deutschland jährlich seit dem Jahr 1991
(bitte jährlich darstellen und nach Branchen und Ost/West differenzieren)?

14. Wie viele Ausfalltage aufgrund von Arbeitskampfmaßnahmen gab es nach
Kenntnis der Bundesregierung seit dem Jahr 1991 in den einzelnen Mitglied-
staaten der Europäischen Union und in den USA (wenn möglich, bitte für
jedes Land einzeln die jährlichen Daten ausweisen)?

15. Welche Berufsgruppen weisen nach Kenntnis der Bundesregierung in den
Jahren 2010 bis 2017 in Deutschland besonders hohe Durchschnittszahlen
bezüglich der Dauer und Anzahl von Arbeitskämpfen auf, und wie viele Aus-
falltage sind jeweils zu verzeichnen (bitte die ersten zehn ausweisen)?

16. Wie hoch war die Streikbeteiligung bei Arbeitskampfmaßnahmen nach
Kenntnis der Bundesregierung seit dem Jahr 1991 in den Bundesministerien
und Bundesämtern bzw. in den Bundesbehörden und -instituten (bitte jeweils
jährlich insgesamt angeben sowie nach Bundeskanzleramt und Bundesmini-
sterien mit den entsprechenden Bundesämtern bzw. -behörden und -institu-
ten aufschlüsseln)?
Ist ein Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Befristungen und der
Streikbereitschaft zu erkennen?

17. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Tarifbindung in
Deutschland seit dem Jahr 1991 bis heute entwickelt (bitte nach Ost/West,
den einzelnen Bundesländern sowie nach Branchen differenzieren, jeweils
die Tarifbindung der Betriebe und der Beschäftigten ausweisen sowie die
Tarifbindung nach Firmentarifvertrag und Branchentarifvertrag unterschei-
den)?

18. Ist nach Auffassung der Bundesregierung eine Erosion des Systems der
Branchen- bzw. Flächentarifverträge zu beobachten?
Wenn ja, welches sind nach Auffassung der Bundesregierung die wesentli-
chen Ursachen für diese Entwicklung?

19. Wie viele Beschäftigte sind in Deutschland nach Kenntnis der Bundesregie-
rung als Leiharbeitskräfte beschäftigt (bitte die letzten zehn Jahre ausweisen
und nach Geschlecht, Alter, Branche, mit/ohne Tarifbindung, mit/ohne be-
triebliche Mitbestimmungsorgane differenzieren)?

20. Wie hat sich die Anzahl der Beschäftigten nach Kenntnis der Bundesregie-
rung in tarifgebundenen und nichttarifgebundenen Betrieben entwickelt
(bitte nach Branche, Geschlecht, Alter, Vollzeit/Teilzeit, Werkverträge, Be-
fristungen mit und ohne Sachgrund aufschlüsseln; bitte die letzten zehn Jahre
ausweisen)?

21. Wie haben sich die Arbeitszeiten der Beschäftigten nach Kenntnis der Bun-
desregierung in tarifgebundenen Betrieben und Branchen im Vergleich zu
nicht tarifierten entwickelt (bitte die letzten 15 Jahre ausweisen, bitte nach
Branchen aufschlüsseln)?

22. Wie haben sich die Löhne der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben
und Branchen nach Kenntnis der Bundesregierung im Vergleich zu nicht ta-
rifierten entwickelt (bitte die letzten 15 Jahre ausweisen sowie nach Real-
und Nominallöhnen differenzieren; bitte nach Branchen aufschlüsseln)?

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23. Wie viele und welche Tarifverträge gibt es nach Kenntnis der Bundesregie-

rung, in denen tarifdispositive Regelungen (hier verstanden als Möglichkeit
zur Abweichung von den gesetzlichen Regelungen, kein Äquivalenzaus-
gleich) zur Anwendung kommen (bitte die letzten zehn Jahre ausweisen,
nach Branche aufschlüsseln und die Abweichung zur gesetzlichen Regelung
darstellen)?

24. Wie viele Betriebsräte gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung in
Deutschland (bitte die letzten 15 Jahre, nach Branche und Unternehmens-
größe und tarifierte und nichttarifierte Unternehmen aufschlüsseln)?

25. Wie viele Klagen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung gegen Be-
triebsratsmitglieder in den letzten 15 Jahren beim Bundesarbeitsgericht ver-
handelt (bitte jährlich aufschlüsseln und angeben, wie viele Klagen zuguns-
ten des Klägers entschieden wurden)?

Berlin, den 19. Juli 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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