BT-Drucksache 18/12941

Wahlrecht für alle Menschen mit Behinderungen garantieren

Vom 27. Juni 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/12941
18. Wahlperiode 27.06.2017
Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald,
Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Cornelia Möhring, Norbert Müller
(Potsdam), Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra Sitte, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Wahlrecht für alle Menschen mit Behinderungen garantieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In der Bundesrepublik Deutschland ist wahlberechtigt, wer das achtzehnte Lebensjahr
vollendet hat (Artikel 38 Absatz 2 des Grundgesetzes – GG). Davon sind bestimmte
Gruppen jedoch ausgenommen. Menschen, denen „zur Besorgung aller […] Angele-
genheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist“ (§ 13 Num-
mer 2 Bundeswahlgesetz – BWG) oder die eine Straftat im Zustand der Schuldunfä-
higkeit begangen haben und wegen befürchteter Allgemeingefährlichkeit in einem
psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind (§ 13 Nummer 3 BWG), werden vom
aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Vergleichbare ausschließende Rege-
lungen sind auch im Europawahlgesetz (EuWG) zu finden (§ 6a Absatz 1 Nummer 2
und 3 EuWG).
Die Bundesrepublik Deutschland verletzt mit den in § 13 Nummer 2 und 3 BWG und
in § 6a Absatz 1 Nummer 2 und 3 EuWG geregelten Wahlrechtsausschlüssen seit Jah-
ren bestehende völkerrechtliche Verpflichtungen. Das betrifft Art. 25 des Internatio-
nalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt). Der UN-Men-
schenrechtsausschuss betonte in seiner „Allgemeinen Bemerkung Nummer 25“ vom
12.07.1996, dass Artikel 25 UN-Zivilpakt ausdrücklich die Rechte aller Staatsbürge-
rinnen und Staatsbürger schützt.
Die seit März 2009 auch für die Bundesrepublik Deutschland rechtsverbindliche UN-
Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) entwickelt
die Grundsätze des Artikels 25 UN-Zivilpakt fort und konkretisiert diese. Artikel 29
der UN-BRK (Schattenübersetzung des NETZWERK ARTIKEL 3 e. V.) verpflichtet
die Vertragsstaaten „Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte sowie die
Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit anderen zu genießen“ zu garantieren. Artikel
29 Buchstabe a. iii) garantiert zudem „die freie Willensäußerung von Menschen mit
Behinderungen als Wählerinnen und Wähler und erlauben zu diesem Zweck im Be-
darfsfall auf ihren Wunsch, dass sie sich bei der Stimmabgabe durch eine Person ihrer
Wahl unterstützen lassen“.

Drucksache 18/12941 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Die Garantie des gleichberechtigten Wahlrechts in Artikel 29 ist verknüpft mit dem in
Artikel 5 verpflichtenden Diskriminierungsverbot, durch „angemessene Vorkehrun-
gen“ zu gewährleisten, dass Benachteiligungen unterbleiben.
Die Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention im Deutschen Institut für
Menschenrechte kritisierte bereits in einem Papier vom Oktober 2011 vorhandene,
zahlreiche Barrieren beim Wahlverlauf und Probleme bei der Erlangung von Assis-
tenzleistungen sowie die Wahlrechtsausschlüsse von Menschen mit Behinderungen.
Sie legte darin einen Maßnahmenkatalog vor und empfahl, diesen umzusetzen und
entsprechende Änderungen vorzunehmen.
Auch die Aussagen des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinde-
rungen in seinen Abschließenden Bemerkungen von 13.5.2015 sind sehr deutlich (dt.
Übersetzung). Das Gremium ist besorgt über die Wahlrechtsausschlüsse von Men-
schen mit Behinderungen und über die Barrieren, die diese an der gleichberechtigten
Ausübung des Wahlrechts hindern. Der UN-Ausschuss empfiehlt Deutschland, „alle
Gesetze und sonstigen Vorschriften aufzuheben, durch die Menschen mit Behinderun-
gen das Wahlrecht vorenthalten wird, Barrieren abzubauen und angemessene Unter-
stützung bereitzustellen“.
Die Bundesregierung wollte zunächst eine Wahlrechtsstudie in Auftrag geben, um die
Datenlage über den betroffenen Personenkreis zu verbessern. Unmut kam bei Men-
schen mit Behinderungen und ihren Selbstvertretungsorganisationen, Verbänden und
Vereinen auf, als ein erstes Teilkonzept für die Studie im Jahr 2015 veröffentlicht
wurde. Dieses sah laut dem Deutschen Behindertenrat (DBR) vor, dass ein Kriterien-
katalog zum wissenschaftlich begründeten Wahlrechtsausschluss erarbeitet werden
sollte. Am 21.05.2015 fand dazu im Bundesministerium für Arbeit und Soziales
(BMAS) ein Gespräch mit Expertinnen und Experten in eigener Sache statt. Der Vor-
schlag wurde seitens der Interessensvertreterinnen und Interessenvertreter der Men-
schen mit Behinderungen empört und mit Unverständnis zurückgewiesen. Diese kriti-
sierten den medizinisch, defizitorientiert ausgerichteten Kriterienkatalog, mit dem
dann die Wahlfähigkeit beurteilt werden sollte. Daraufhin wurde der Katalog zurück-
gezogen und sollte überarbeitet werden.
Im Juni 2016 wurde dann endlich die Studie vorgelegt. In dieser wurde leider erneut
ein medizinisches Behinderungsmodell und kein menschenrechtliches Behinderungs-
modell zu Grunde gelegt. Demnach sind knapp 85.000 Menschen mit Behinderungen
vom Wahlrecht ausgeschlossen. Es wird unter anderem eine einzelfallbezogene Neu-
regelung über das geltende Betreuungsrecht vorgeschlagen.
Prof. Dr. Theresia Degener, Leiterin des Bochumer Zentrums für Disability Studies
(BODYS) und Vorsitzende des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit
Behinderungen, kritisierte in einer Stellungnahme vom 17.08.2016 (veröffentlicht auf
kobinet-nachrichten.org) die Ergebnisse sehr deutlich und forderte die sofortige Strei-
chung der entsprechenden Wahlrechtsausschlüsse.
Der DBR wiederholte anlässlich der Inklusionstage des BMAS im Oktober 2016 seine
Kritikpunkte in einer Pressemitteilung vom 13.10.2016 und forderte, dass auch diese
85.000 Menschen gleichberechtigt wählen dürfen.
Es ist längst überfällig, die diskriminierenden Wahlrechtsausschlüsse umgehend zu
streichen. Das Wahlrecht ist ein Grundrecht und ein Menschenrecht. Diese Aus-
schlüsse entsprechen nicht dem Inklusions- und Teilhabegedanken der rechtsverbind-
lichen UN-BRK. Auch sind sie einer modernen Gesellschaft nicht würdig.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Wahlrechtsausschlüsse in § 13 Nummer 2 und 3 Bundeswahlgesetz (BWG)
und in § 6a Absatz 1 Nummer 2 und 3 Europawahlgesetz (EuWG) ersatzlos zu

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/12941

streichen. Das aktive Wahlrecht ist für die betroffenen Menschen umgehend für
die anstehende Bundestagswahl 2017 noch zu ermöglichen;

2. auf die Bundesländer entsprechend einzuwirken, dass diese die betreffenden Vor-
schriften auf Landesebene und damit die Wahlrechtsausschlüsse, wenn noch nicht
geschehen, ebenso ersatzlos streichen;

3. Unterstützungsangebote, Rahmenbedingungen und Strukturen zu schaffen, um
den bisher von den Wahlen ausgeschlossenen Menschen eine selbstbestimmte
Ausübung ihres Wahlrechts zu ermöglichen und sie zu einem selbstbestimmten
Handeln zu befähigen;

4. alle Maßnahmen zusammen mit Bundesländern und Kommunen zu treffen, die
für eine barrierefreie Ausgestaltung aller Wahllokale notwendig sind. Wo keine
umfassende Barrierefreiheit nach Prüfung aller Möglichkeiten zu erreichen ist,
müssen bedarfsgerechte Assistenz-/Unterstützungsangebote geschaffen werden,
um den Zugang zu garantieren;

5. die Bundeswahlleiterinnen und Bundeswahlleiter und in Zusammenarbeit mit den
Bundesländern die Landeswahlleiterinnen und Landeswahlleiter sowie die Wahl-
vorstände und Wahlhelferinnen und Wahlhelfer für die besonderen Belange von
Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen zu sensibilisieren
und zu schulen. Auch ist zu überprüfen, ob die Vorschriften, die Menschen mit
Behinderungen betreffen, ordnungsgemäß angewendet worden sind.

Berlin, den 27. Juni 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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