BT-Drucksache 18/11737

Mit Erasmus+ europäische Gemeinschaft erleben

Vom 29. März 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/11737
18. Wahlperiode 29.03.2017
Antrag
der Abgeordneten Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer, Özcan Mutlu,
Manuel Sarrazin, Katja Dörner, Dr. Franziska Brantner, Maria Klein-Schmeink,
Tabea Rößner, Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws,
Dr. Harald Terpe, Doris Wagner, Marieluise Beck (Bremen), Ekin Deligöz, Britta
Haßelmann, Dr. Thomas Gambke, Sven-Christian Kindler, Cem Özdemir, Claudia
Roth (Augsburg), Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Dr. Julia Verlinden und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mit Erasmus+ europäische Gemeinschaft erleben

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Europa ist ein Friedens-, Freiheits- und Zukunftsversprechen, ein Stabilitätsanker in
einer Welt mit Krisen und Konflikten, ein Kontinent der Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit mit garantierten Menschen- und Freiheitsrechten. Lange Zeit schienen die eu-
ropäische Gemeinschaft und die Integration mit ihrem grenzüberschreitenden Zusam-
menwirken eine für die meisten Europäerinnen und Europäer selbstverständliche und
geschätzte Entwicklung.
Nun scheint einerseits Europaskepsis immer stärker um sich zu greifen. Rechtspopu-
listische, europafeindliche und nationalistische Strömungen stellen europäische Werte
und unser gemeinsames Europa zunehmend infrage. Spätestens mit der Brexit-Ent-
scheidung blicken immer mehr Europäerinnen und Europäer mit Sorge auf die Zukunft
Europas. Andererseits ist Europa selbstverständlicher Alltag, eint und begeistert Men-
schen in einer Welt, die zunehmend aus den Fugen gerät. Gerade die Jugend lebt und
schätzt Europa mit all seiner Vielfalt, seinen Freiräumen und Möglichkeiten. Mehr als
sieben Millionen Europäerinnen und Europäer haben dank „Erasmus+“ und seiner
Vorgängerprogramme schon einmal in einem anderen europäischen Land gelebt und
gelernt. Wer Europa auf diese Weise erfahren hat, kennt seinen Wert.
Jetzt muss es darum gehen, diese Begeisterung zu stärken und weiterzuverbreiten.
Dazu gehört eine europaweite Offensive für sozial-ökologische Investitionen und In-
novationen. Mit ihr muss die „europäische Jugendgarantie“ endlich umgesetzt werden.
Alle jungen Europäerinnen und Europäer müssen nach ihrem Schulabschluss einen
Ausbildungs- oder Arbeitsplatz erhalten.
Der europäische Bildungs-, Forschungs- und Innovationsraum ist kein ferner Traum.
Viele Menschen haben den freien Austausch in Europa als Azubis, als Studierende, als
Lehrende und Forschende erlebt. Sie tragen die Idee der europäischen Einigkeit, des

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Mehrwerts für alle, in sich. Sie können ihn weitertragen und aus ihm eine Neubegrün-
dung der europäischen Gemeinschaft und Idee bewirken. Denn das Lernen und Leben
auf Reisen haben ihnen allen in einem Lebensabschnitt die gemeinschaftlichen huma-
nistischen Werte gezeigt. Sie alle haben europäische Gemeinschaft ganz konkret er-
lebt, ob im Hörsaal, am Schreibtisch oder am Küchentisch ihrer internationalen Wohn-
gemeinschaft. Genau durch diese Begegnungen werden demokratische Bildungsideale
zu ganz persönlichen Erfahrungen. Und das wirkt, denn es gibt ihnen und den Men-
schen, denen sie davon erzählen, die sie davon begeistern wollen, ein neues Teilhabe-
versprechen für die Zukunft. Denn „Erasmus+“ will alle bewegen – von der Jugendli-
chen in den Sommerferien bis zum erwachsenen Altenpflege-Umschüler, vom Studie-
renden bis zur Auszubildenden in der Systemgastronomie.
Diese Gruppe der Begeisterten kann bis Ende 2020 auf rund zehn Millionen anwach-
sen. Denn Kommission und Parlament haben 2014 für die Jahre bis 2020 fast 15 Mrd.
Euro dafür zur Verfügung gestellt. Um gemeinsam mehr Schwung in die Lernreisen
zu bringen, hat nun nicht mehr jede Bildungsphase ihr eigenes Programm. Als „Eras-
mus+“ sind die Klassiker von „Erasmus“, „Leonardo da Vinci“, „Jugend in Aktion“
über „Comenius“ bis „Grundtvig“ unter einem Dach vereint. Auch wenn 15 Mrd. Euro
viel Geld sind, so werden von den rund 500 Millionen Europäerinnen und Europäern
nur wenige selbst einen solchen Austausch erlebt haben. Für zwei von 100 EU-Bürge-
rinnen und -Bürgern reicht das Geld. In Deutschland sollen in den Jahren zwischen
2014 und 2020 bis zu 275.000 Studierende, 150.000 Auszubildende und 130.000 junge
Menschen unterstützt werden. Besonders wichtig ist es daher, dass das Geld vor allem
für die eingesetzt wird, die es sich privat nicht leisten können. Denn das „Reisen, um
zu lernen“ ist eine Herausforderung, sowohl finanziell als auch organisatorisch.
Diese Herausforderung ist aber aller Anstrengung wert. Denn Bildung kann zum einen
aus volkswirtschaftlicher Sicht zu Wachstum und Beschäftigungsfähigkeit beitragen.
Aus gesellschaftlicher Sicht hat sie einen noch viel höheren Wert. Dem Lernen und
Sichbilden werden noch umfassendere Wirkungen zugeschrieben: das Verringern von
sozioökonomischer Ungleichheit, das Fördern sozialer Inklusion, die Integration von
Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, das Bekämpfen von Ge-
schlechterstereotypen, das Vorbeugen gegen Radikalisierung und insgesamt das Ent-
falten der individuellen Potenziale und nicht zuletzt die Entwicklung der eigenen Per-
sönlichkeit. All das trifft umso mehr auf internationale Lernerfahrungen zu. Das alles
klappt aber nicht automatisch, nur weil A von B nach C reist. Gerade für junge Aus-
zubildende müssen in Deutschland noch mehr Anstrengungen unternommen werden,
damit auch sie Informationen über ihre Möglichkeiten durch Erasmus+ bekommen.
Auch ihre Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern sich, wenn das Sprachenler-
nen, das Verständnis für kulturelle Vielfalt und die Teilhabe an der Gesellschaft ihnen
offen stehen.
Und auch der Brexit schafft neue Herausforderungen. Er bedroht für viele Interessierte
dies- und jenseits des Kanals den Austausch mit dem wichtigen Wissenschaftsstandort
Vereinigtes Königreich. Selbst wenn die derzeitige britische Regierung die Zukunft
der rund drei Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger in ihrem Land zum Faustpfand
in den Austrittsverhandlungen machen sollte, sollte sie den europäischen Austausch
im Bereich Wissenschaft und Bildung nicht gefährden. Werte überzeugen, wenn sie
die eigene Haltung auch in schwierigen Zeiten prägen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich auf EU-Ebene für folgende Maßnahmen einzusetzen:
1) mit einer europaweiten Offensive für sozial-ökologische Investitionen und Inno-

vationen die „europäische Jugendgarantie“ endlich umzusetzen, damit alle jungen

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Europäerinnen und Europäer spätestens vier Monate nach ihrem Schulabschluss
einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz erhalten;

2) in allen Teilnehmerstaaten die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, damit vor
allem Menschen die Chancen von „Erasmus+“ ergreifen, die sich das Lernen im
Ausland ohne die Förderung nicht leisten könnten;

3) zwischen den Teilnehmerstaaten Ideen voranzubringen, wie alle europäischen
Regionen von „Erasmus+“ profitieren können. Eingefahrene Ströme nur in eine
bestimmte Richtung oder nur zwischen bestimmten Staaten sollten zugunsten
vielfältiger Austauschkontakte überwunden werden. Dazu müssen vor allem klei-
nere Staaten in Randlagen, mit komplexen Sprachen und auf den ersten Blick
herausfordernden Lern- und Lebensbedingungen als Anlauforte gestärkt und ver-
mehrt ins Bewusstsein gebracht werden;

4) um auch Auszubildende und Geringqualifizierte mehr als bisher über „Erasmus+“
zu informieren und zu begeistern, sollte auch die EU-Agentur Cedefop stärker
involviert werden. Sie kann Qualitätsstandards für Ausbildungsangebote in der
gesamten EU entwickeln. Dann wird das Potenzial für die eigene Qualifikation
steigen, die Anerkennung im eigenen Ausbildungsgang erleichtert und die Teil-
nahme am Mobilitätsprogramm damit ein erkennbaren und motivierenden Mehr-
wert bekommen;

5) alle betroffenen Stakeholder in die Planung und Umsetzung der Programme ein-
zubeziehen: Ausbildende, Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Arbeitgeberinnen
und Arbeitgeber, Bildungsinstitutionen und Arbeitsagenturen;

6) für alle Interessierten die Informationen bezüglich der Anerkennung von erbrach-
ten Leistungen im Ausland zu verbessern, damit sie sich leichter für die Teil-
nahme entscheiden können;

7) sicherzustellen, dass die britische Regierung den europäischen Austausch im Be-
reich Wissenschaft und Bildung nicht gefährden wird;

8) den Austausch v. a. mit Staaten, die derzeit rechtsstaatliche Prinzipien schwächen
oder unterlaufen, dafür zu nutzen, die Kenntnisse über Demokratie und Rechts-
staat zu vertiefen und sich vor allem im Rahmen des Studierendenaustauschs für
die Freiheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einzusetzen.

Außerdem fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, auf nationaler
Ebene dafür zu sorgen, dass
9) weiterhin das Ziel gilt, bis 2020 endlich für die Bildung 7 % des BIP aufzuwen-

den. Ferner muss für Forschung und Entwicklung endlich ein ehrgeizigeres Ziel
in den Blick genommen werden als 3 %. Die Bundesregierung ist gefordert, sich
dafür einzusetzen, dass gesamtstaatlich bis 2025 insgesamt mindestens 3,5 % des
Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Entwicklung ausgegeben werden.
Beide Ziele gehen Hand in Hand: Spitzenleistungen in Forschung und Entwick-
lung sind auf Dauer nur zu erreichen und zu halten, wenn das Bildungssystem
leistungsfähiger, d. h. durchlässiger, chancenreicher und individuell fördernder
wird;

10) die Unternehmen ihre Auszubildenden, dual Studierenden und Beschäftigten da-
bei unterstützen, die Möglichkeiten von „Erasmus+“ zu nutzen, damit in Zukunft
auch Menschen, die im Betrieb lernen und arbeiten, öfter wertvolle Erfahrungen
im europäischen Ausland sammeln können. Dazu gehört auch das vorbereitende
Lernen etwa von Fremdsprachen;

11) die Angebote zum europäischen Austausch in Deutschland von allen Bevölke-
rungsgruppen gleichermaßen genutzt werden. Dazu gehört vor allem, bei den Stu-
dierenden gezielt dazu beizutragen, dass mehr junge Menschen aus nichtakade-
misch gebildeten Familien den Schritt ins Auslandssemester oder Auslandsstu-
dium wagen;

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12) BAföG und Berufsausbildungsbeihilfe so ausgestaltet sind, dass Studium und

Ausbildung im Ausland so unterstützt werden, dass auch junge Menschen aus
weniger gut gestellten Familien und auch Menschen mit Behinderungen diesen
Schritt wagen;

13) die Anerkennung von Studienleistungen im Rahmen der Bologna-Studiengänge
gesichert wird.

Berlin, den 28. März 2017

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

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