BT-Drucksache 18/11597

Prekäre Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft wirksam bekämpfen

Vom 21. März 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/11597
18. Wahlperiode 21.03.2017
Antrag
der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Klaus Ernst,
Dr. Rosemarie Hein, Jutta Krellmann, Ralph Lenkert, Norbert Müller
(Potsdam), Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra Sitte, Katrin Werner
und der Fraktion DIE LINKE.

Prekäre Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft wirksam bekämpfen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der jüngst erschienene Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2017 hat erneut
die überbordende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse im Wissenschaftsbetrieb of-
fengelegt. Im Jahr 2014 waren demnach 93 Prozent aller wissenschaftlichen und künst-
lerischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter 45 Jahren an Hochschulen befristet
beschäftigt (Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2017, S. 52). In der Folge
fehlt jungen Wissenschaftlern und vor allem Wissenschaftlerinnen häufig die Pla-
nungssicherheit, die zum Beispiel eine Voraussetzung für Familiengründung darstellt,
weswegen übermäßig viele von ihnen kinderlos bleiben.
Eine Hauptursache für die ausufernde Befristungspraxis liegt in der wachsenden Ab-
hängigkeit der Hochschulen von kurzfristigen Drittmitteln, deren Volumen von 2000
bis 2014 um über 150 Prozent gewachsen ist, während die zur Verfügung stehenden
laufenden Grundmittel im selben Zeitraum nicht einmal um 50 Prozent gestiegen sind
(Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2017, S. 52). Die Hochschulen geben
die ihnen entstehende Planungsunsicherheit in der Folge an ihre Beschäftigten weiter.
Die Bundesregierung hatte dieser Problematik durch eine Novellierung des Wissen-
schaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) zu begegnen versucht und unter anderem
die „Förderung der eigenen wissenschaftlichen oder künstlerischen Qualifikation“ zur
Bedingung für die Befristung von Arbeitsverträgen gemacht, die unter dieses Gesetz
fallen. Die Neufassung lässt der Befristungspraxis jedoch nach wie vor breite Spiel-
räume: So vertritt der „Arbeitskreis Dienst- und Tarifrecht im Sprecherkreis der Kanz-
lerinnen und Kanzler der Universitäten Deutschlands“ in seinem Leitfaden zum Wis-
senschaftszeitvertragsgesetz die Auffassung, dass beispielsweise Aufgaben im Bereich
der Antragstellung für Forschungsförderung oder managementbezogene Tätigkeiten
bereits die wissenschaftliche Qualifizierung der Beschäftigten fördern und daher aus-
reichen, um eine Befristung im Rahmen des WissZeitVGs zu rechtfertigen.
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Im Falle des wissenschaftsunterstützenden Personals, das durch die Novelle aus dem
Geltungsbereich des WissZeitVG herausgefallen ist, mehren sich aktuell Berichte,
dass auch hier weiterhin ein hoher Anteil an befristeten Arbeitsverträgen abgeschlos-
sen wird. Diese erfolgen nun auf Grundlage des Teilzeit- und Befristungsgesetzes an-
stelle des WissZeitVG.
Zentrale Voraussetzung für eine spürbare Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der
Wissenschaft ist daher einerseits eine massive Aufstockung der Grundetats an Hoch-
schulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen und andererseits eine er-
neute Überarbeitung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, um die Bedingungen für
die Befristung von Arbeitsverträgen im Wissenschaftsbetrieb zu konkretisieren und
Mindeststandards für gute Arbeit in der Wissenschaft zu definieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. in Abstimmung mit den Ländern die Politik der durch temporäre Pakte befristeten
Finanzierung des Wissenschaftssystems zu beenden und stattdessen eine dauer-
hafte, umfängliche Finanzierung sicherzustellen. Diese muss die wachsenden
Aufgaben der Hochschulen, die aktuelle Unterfinanzierung und die Preis- und
Einkommensentwicklung berücksichtigen:
a) die erste Säule des Hochschulpakts 2020 ist zu verstetigen und auf dem Ni-

veau von 2017 dauerhaft fortzuführen;
b) anstelle des Pakts für Forschung und Innovation ist gemeinsam mit den Län-

dern eine dauerhafte Vereinbarung über die Finanzierung der von ihnen ge-
meinsam finanzierten außeruniversitären Forschungseinrichtungen abzu-
schließen, in der sie diesen einen jährlichen Ausgleich für die Lohn- und
Preissteigerungen sowie einen darüber hinausgehenden prozentualen An-
stieg zur Finanzierung ihrer Weiterentwicklung zusichern. Im gleichen Zuge
sind Grundsätze zur Herstellung der Gleichstellung von Frauen und Män-
nern in Führungspositionen und in der Wissenschaft nach dem Vorbild der
Forschungsorientierten Gleichstellungsstandards der Deutschen For-
schungsgemeinschaft (DFG) festzuschreiben;

c) die Länder sollen darauf verzichten, die Finanzierung ihrer Hochschulen so-
wie der gemeinsam finanzierten außeruniversitären Forschungseinrichtun-
gen an auf Wettbewerb abzielende Erfolgsindikatoren zu koppeln;

2. mittelfristig die Einnahmesituation der Länder durch die stärkere Besteuerung
von Vermögen und hohen Einkommen, insbesondere durch die Ausschöpfung
des Aufkommenspotentials der Erbschaftsteuer sowie der Wiedererhebung der
Vermögensteuer, zu verbessern;

3. mit einem Anreizprogramm zehn Jahre lang die Einrichtung von 100.000 unbe-
fristeten Stellen an Hochschulen zu fördern, um auf diesem Wege knapp der
Hälfte des gegenwärtig angestellten wissenschaftlichen Personals an den Hoch-
schulen eine dauerhafte Perspektive zu ermöglichen. Dabei ist eine Besetzung der
Stellen mit einem Anteil von 50 Prozent Frauen anzustreben. Mindestens 10.000
dieser Stellen sind an Fachhochschulen einzurichten;

4. einen Entwurf für die Überarbeitung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes vor-
zulegen, welcher sicherstellt, dass
a) die eigene wissenschaftliche oder künstlerische Qualifizierung i.S.d. § 2 Ab-

satz 1 WissZeitVG als Befristungsgrund ausschließlich den Erwerb formaler
Abschlüsse (z. B. Promotion, Habilitation) umfasst. Ein Beschäftigungsver-
hältnis an einer Hochschule oder einer Forschungseinrichtung begründet
nicht grundsätzlich eine Qualifizierung;

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b) Mindestvertragslaufzeiten definiert sind, so dass die Verträge die in dem be-
treffenden Fach üblicherweise aufgewandte Zeitdauer zur Erreichung des
angestrebten Qualifikationsziels nicht unterschreiten. Insgesamt darf eine
Mindestlaufzeit von 24 Monaten nicht unterschritten werden. Bei Befristun-
gen zur Förderung eines Qualifikationsziels dürfen 36 Monate Mindestver-
tragslaufzeit nicht unterschritten werden, auch wenn die Stellen aus Mitteln
Dritter finanziert werden. In Fällen, in denen die Projektlaufzeit die Min-
destvertragslaufzeit überschreitet, entspricht die Vertragslaufzeit der Pro-
jektlaufzeit. Zudem ist über das WissZeitVG sicherzustellen, dass nach der
Promotion Kettenbefristungen verhindert werden, indem die Anzahl zuläs-
siger aufeinanderfolgender befristeter Verträge bei demselben Arbeitgeber,
die unter das WissZeitVG fallen, auf zwei begrenzt wird;

c) in Beschäftigungsverhältnissen, die dem Erreichen eines Qualifizierungs-
ziels dienen, die hierfür verfügbare Arbeitszeit zwei Drittel der vereinbarten
Arbeitszeit, mindestens jedoch 20 Stunden pro Woche, nicht unterschreiten
darf;

d) abweichende Regelungen durch Tarifverträge zugunsten der Beschäftigten
grundsätzlich möglich sind, um mittels dieser Anpassungsmöglichkeit
durch die Tarifpartner vor Ort den unterschiedlichen Situationen an Hoch-
schulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen Rechnung tragen
zu können;

e) nach abgeschlossener Promotion eine Befristung mit Qualifizierungsziel nur
dann zulässig ist, wenn mit den betroffenen Beschäftigten vertraglich ver-
einbart wurde, dass bei Erreichung des Qualifikationsziels die Befristungs-
abrede entfällt (Tenure-Track). Diese Feststellung erfolgt mindestens zwei
Jahre vor Erreichen der maximalen Befristungsdauer durch ein unabhängi-
ges Gutachten von internem und externem Fachpersonal sowie der Perso-
nalvertretung, in dem die fachliche, pädagogische und persönliche Eignung
im Hinblick auf das Qualifikationsziel bewertet wird;

f) Beschäftigten, die an einer wissenschaftlichen Qualifikation oder in einem
Projekt arbeiten, das überwiegend aus Mitteln Dritter finanziert wird, zur
Betreuung eines oder mehrerer eigener Kinder unter 18 Jahren, eine Verlän-
gerung ihrer befristeten Arbeitsverträge um die Dauer von zwei Jahren je
Kind anzubieten ist, um eine Benachteiligung gerade von Frauen zu verhin-
dern. Zur Finanzierung dieser Verlängerung sollten entsprechende Finanz-
mittel in zentrale Fonds zurückgestellt werden, um kleine Hochschulen und
Institute nicht zu benachteiligen. Hierfür sollte vom Träger der jeweiligen
Fonds ein jährlich zu prüfender fester Prozentsatz auf die Einzelkosten jedes
Drittmittelprojekts erhoben werden;

g) Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen eine Verlän-
gerung der in § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2 WissZeitVG festgelegten Höchst-
dauer der befristeten Beschäftigung zu Qualifizierungszwecken um zwei
Jahre anzubieten ist;

h) der Begriff Drittmittel klar gefasst und auf Geldgeber jenseits des Hoch-
schulträgers beziehungsweise der Träger der Forschungsinstitute beschränkt
ist;

i) überwiegend mit Lehraufgaben betraute Mitarbeiter sowie Studierende in
grundständigen oder weiterführenden Studiengängen des § 1 Absatz 1 Satz 1
WissZeitVG ebenso wie die Hochschullehrer ausgenommen werden;

j) Hochschulen und öffentliche Forschungseinrichtungen, die unter das Wiss-
ZeitVG fallen, zur unbefristeten Beschäftigung verpflichtet werden, wenn

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dem betreffenden Personal Daueraufgaben übertragen werden und ein Be-
fristungsgrund nach diesem Gesetz bzw. dem Teilzeit- und Befristungsge-
setz nicht besteht;

k) die Auswirkung des WissZeitVG auf die Zusammensetzung der Beschäftig-
ten (z. B. Geschlecht, soziale Zusammensetzung) und ihrer Arbeitsverhält-
nisse in regelmäßigen Abständen zu evaluieren ist.

Berlin, den 21. März 2017

Dr. Dietmar Bartsch, Dr. Sahra Wagenknecht und Fraktion

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