BT-Drucksache 18/10532

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksache 18/9984, 18/10349, 18/10444 Nummer 1.8, 18/10519 - Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch

Vom 30. November 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10532
18. Wahlperiode 30.11.2016
Entschließungsantrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W.
Birkwald, Roland Claus, Dr. Petra Sitte, Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald
Weinberg, Birgit Wöllert, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 18/9984, 18/10349, 18/10444 Nr. 1.8, 18/10519 –

Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur
Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenz- und Teilhabeminimums ist ein
verfassungsrechtlich fundiertes soziales Grundrecht. Dies hat das Bundesverfassungs-
gericht im Jahr 2010 mit Bezug auf die Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes klargestellt.
Die Leistungen der Grundsicherungssysteme haben die Aufgabe, dieses Grundrecht in
die Praxis umzusetzen. Die Leistungen bestehen derzeit aus Regel-, Mehr- und Son-
derbedarfen sowie gesondert definierten Leistungen zur Finanzierung der Kosten der
Unterkunft und Heizung. Der Regelbedarf beträgt für eine alleinstehende Person 404
Euro im Monat und liegt damit auch inklusive der Kosten für Unterkunft und Heizung
deutlich unterhalb der bekannten Armutsrisikogrenzen. Derzeit gilt: Unter 1.050 Euro
im Monat droht Armut. Die unzureichende Höhe der Leistungen führt zu einem Leben
mit erheblichen materiellen Entbehrungen. Leistungsberechtigte werden durch unzu-
reichende Leistungen sozial isoliert und ausgegrenzt. Ein Leben in Würde ist für die
Betroffenen nicht möglich.
Nach der Erhebung neuer Daten im Rahmen der Einkommens- und Verbrauchsstich-
probe (EVS) ist der Bundesgesetzgeber verpflichtet, die Regelbedarfe in den Grundsi-
cherungssystemen neu zu ermitteln. Diese Daten lagen seit Ende 2015 vor. Die Bun-
desregierung hat die Gelegenheit versäumt, die Leistungen der Grundsicherung durch
ein sachgerechtes und transparentes Verfahren auf ein bedarfsdeckendes Niveau anzu-
heben. Stattdessen hat sie einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Regelbedarfe klein-
rechnet. Dabei orientiert sich das zuständige Bundesministerium am Vorgehen der
Vorgängerregierung, das von der jetzt zuständigen Bundesministerin und der SPD-
Fraktion seinerzeit massiv kritisiert worden ist (vgl. z. B. Bundestagsdrucksa-
che 17/3648).

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Die Ermittlung der Regelbedarfe erfolgt derzeit in der Theorie nach dem Prinzip des
Statistikmodells. Von den Ausgaben einer festgelegten sozialen Gruppe oberhalb der
Grundsicherung (Referenzgruppe) soll das notwendige Existenz- und Teilhabemini-
mum abgeleitet werden. Dieses Vorgehen ist bereits im Grundsatz problematisch, da
regelmäßig von den Ausgaben einkommensarmer Haushalte ausgegangen wird. Auch
wird nicht geprüft, ob deren Ausgaben überhaupt die grundlegenden Bedarfe abde-
cken.
Die Bundesregierung bezieht sich in dem vorliegenden Gesetzentwurf bewusst auf
eine ärmere Referenzgruppe, indem sie bei den Alleinstehenden die untersten 15 Pro-
zent der Haushalte auswählt. Diese Gruppe leidet neben Einkommensarmut zum Teil
erheblich unter materieller Unterversorgung. Noch bis zur Neuermittlung der Regel-
bedarfe durch die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Bundesministerin von der
Leyen war es üblich, auf die untersten 20 Prozent der Haushalte abzustellen. Darüber
hinaus: Die zur Berechnung des Existenz- und Teilhabeminimums herangezogenen
Referenzgruppen haben in den fünf Jahren zwischen den EVS-Erhebungen an Kauf-
kraft verloren (vgl. Paritätischer Wohlfahrtsverband, Stellungnahme zur neuen Regel-
bedarfsermittlung, September 2016).
Unverändert gibt es in dem Gesetzentwurf verfassungsrechtlich und sachlich proble-
matische Zirkelschlüsse, da in der Referenzgruppe sowohl sogenannte verdeckt Arme
als auch SGB-II-Leistungsberechtigte mit geringen Erwerbseinkommen vertreten sind.
Von Menschen, die Anspruch auf Hartz IV haben, diesen aber nicht realisieren (ver-
deckt Arme), von Hartz-IV-Leistungsbeziehenden und von anderen Personen mit Ein-
kommen unter dem Grundsicherungsniveau wird damit in unzulässiger Weise das Ni-
veau von Hartz-IV-Leistungen abgeleitet.
Die Personen in der Referenzgruppe (Alleinstehende) haben durchschnittlich 764 Euro
Einkommen zur Verfügung. Dies liegt weit unter den bekannten Armutsrisikogrenzen
und bedeutet eine zum Teil erhebliche materielle Unterversorgung. Es ist offenkundig,
dass die Ausgaben dieser statistisch konstruierten Gruppe nicht das soziokulturelle
Existenzminimum spiegeln, sondern Mangellagen (vgl. etwa Irene Becker: Regelbe-
darfsbemessung – Methode und Ergebnisse: Eine kritische Bestandsaufnahme, Kurz-
expertise für die Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, 2016).
Darüber hinaus kürzt die Bundesregierung den Regelbedarf, indem zahlreiche Ausga-
ben schlicht als nicht regelbedarfsrelevant erklärt werden. Mit einem Statistikmodell
hat das Vorgehen daher nicht mehr viel zu tun. Das derzeitige Verfahren entspricht
weder dem Statistikmodell noch einem Warenkorbmodell, sondern ist „politisch-nor-
mativ ausgerichtet“ (Becker, a. a. O., S. 25). Faktisch wird durch die Bundesregierung
ein bevormundender Warenkorb festgelegt. Die Bundesregierung entscheidet („poli-
tisch-normativ“), was Grundsicherungsbeziehende noch weniger haben dürfen als die
Referenzgruppe.
Lediglich drei Viertel der Ausgaben der Referenzgruppe werden von dem Gesetzent-
wurf als regelbedarfsrelevant anerkannt. Ausgaben in einer Größenordnung von etwa
150 Euro gelten dagegen als nicht regelbedarfsrelevant (vgl. Stellungnahme der Dia-
konie vom 15. September 2016). Dazu zählen insbesondere Ausgaben für die soziale
und kulturelle Teilhabe. Soziale Ausgrenzung wird zum politischen Programm, wenn
die Bundesregierung beispielweise argumentiert, dass es sich bei Ausgaben für Beher-
bergungs- und Gaststättendienstleistungen „grundsätzlich nicht um regelbedarfsrele-
vante Ausgaben“ handele, weil diese „nicht zum physischen Existenzminimum“ zäh-
len (Bundestagsdrucksache 18/9984, S. 47).
Wenn ein Viertel der Ausgaben nicht als relevant anerkannt wird, ist der Bezug zu den
Lebensbedingungen der Referenzgruppe nur noch eine Illusion. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat 2014 ausgeführt, dass der Gesetzgeber mit Kürzungen in dieser Grö-
ßenordnung „an die Grenze dessen (kommt), was zur Sicherung des Existenzmini-
mums verfassungsrechtlich geboten ist“ (BVerfG 1 BvL 10/12 vom 23. Juli 2014,

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10532
Rn. 121). Die Grenzen des sozialpolitisch Erträglichen sind mit diesen Kürzungen je-
denfalls deutlich überschritten. Allein eine sachgerechte Ermittlung auf der Grundlage
des Statistikmodells, also ohne unsachgemäße Abzüge (vgl. Stellungnahme der Dia-
konie, a. a. O.), ergäbe für eine alleinstehende Person einen Regelbedarf von 560 Euro.
Bei den Regelbedarfen der Kinder und Jugendlichen versagt das Statistikmodell. Nach
Ansicht des Paritätischen Gesamtverbandes reicht die geringe Anzahl an Haushalten
mit Kindern nicht aus, um verlässliche Ergebnisse zu ermitteln. Solange keine alterna-
tiven Berechnungen vorliegen, müssen allerdings noch die von der Bundesregierung
vorgelegten Daten zugrunde gelegt werden. Nach Analyse der Diakonie werden auch
Kindern und Jugendlichen zugeordnete Ausgaben der Referenzgruppe (hier: Paar mit
einem Kind) in Höhe von 65 bis 80 Euro nicht anerkannt.
Im Rahmen der Neuermittlung der Regelbedarfe im Jahr 2010 führte die Bundesregie-
rung das Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder und Jugendliche ein. Diese Leistun-
gen müssen seitdem separat beantragt werden. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist
hochgradig bürokratisch organisiert und führt dazu, dass zahlreiche Berechtigte ihre
Ansprüche nicht realisieren. Zusätzlich wird bei Kindern, die Mittagessen in der
Schule oder in der Kita bekommen, 1 Euro als Eigenbeteiligung beim Regelbedarf
angerechnet. Weder wurde bei den Leistungen offiziell geprüft, inwieweit sie den Be-
darf der Kinder und Jugendlichen tatsächlich decken, noch wurden sie seit der Einfüh-
rung angepasst. Jenseits einer notwendigen grundlegenden Reform des Bildungs- und
Teilhabepakets besteht daher kurzfristig ein Anpassungsbedarf bei den Leistungen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Gesetzentwurf zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung
des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch zurückzuziehen und
grundlegend neu zu erarbeiten. Bis zur Vorlage dieser revidierten Neuermitt-
lung wird der Regelsatz ohne unsachgemäße Abzüge bei den Ausgaben der
Referenzgruppen kalkuliert (vgl. Stellungnahme der Diakonie vom 15. Sep-
tember 2016) und demnach wie folgt festgelegt: Erwachsene Leistungsbe-
rechtigte erhalten einen Regelsatz von 560 Euro. Die Regelbedarfe für Kin-
der und Jugendliche werden auf 326 Euro (bis zum vollendeten 6. Lebens-
jahr), 366 Euro (7 bis 13 Jahre) und 401 Euro (14 bis zum vollendeten 18. Le-
bensjahr) festgelegt. In die Regelsätze für Kinder und Jugendliche ist das
sog. Teilhabegeld aus dem Bildungs- und Teilhabepaket in voller Höhe
(10 Euro) bereits integriert;

2. als ein zentrales Element einer Strategie gegen Armut und soziale Ausgren-
zung kurzfristig ein überarbeitetes Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe
vorzulegen, welches folgende Grundsätze umsetzt:
a) Die Referenzgruppe bezieht sich auch bei den Alleinstehenden auf die

untersten 20 Prozent der einkommensgewichteten Haushalte, wobei die
Haushalte in sog. verdeckter Armut, erwerbstätige Leistungsberechtigte
mit bis zu 100 Euro Erwerbseinkommen sowie Personen (z. B. Studie-
rende) mit einem Einkommen in Höhe oder unterhalb des Grundsiche-
rungsniveaus aus der Betrachtung ausgeschlossen werden.

b) Gemäß den Vorgaben des sog. Statistikmodells werden die Ausgaben
der Referenzgruppen ungekürzt anerkannt, sofern diese Ausgaben typi-
scherweise auch bei Grundsicherungsberechtigten anfallen.

c) Für alle volljährigen Leistungsberechtigten wird einheitlich der volle
Regelbedarf anerkannt. Die Regelbedarfsstufen 2 und 3 werden abge-
schafft.

d) Die Regelbedarfe für Kinder und Jugendliche werden nach den alters-
typisch differenzierten Bedarfen neu ermittelt. Die Bundesregierung

Drucksache 18/10532 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

beruft hierzu eine Kommission ein, die Vorschläge für ein alternatives
System zur Feststellung des soziokulturellen Existenzminimums von
Kindern und Jugendlichen erarbeitet.

e) Das sog. Teilhabegeld wird in voller Höhe in den Regelbedarf von Kin-
dern und Jugendlichen integriert. Die anderen Leistungen des Bildungs-
und Teilhabepakets werden entsprechend den realen Bedarfe angepasst.
Insbesondere die notwendigen Ausgaben für die Schulbedarfe werden
bedarfsdeckend erhöht.

f) Nachweisbare Sonderbedarfe jenseits der Regelbedarfe werden zusätz-
lich übernommen. Insbesondere wird ein einmaliger Sonderbedarf zur
Finanzierung langlebiger und teurer Konsumgüter wie Waschmaschi-
nen, Kühlschränke oder Brillen eingeführt. Die bisherigen Anteilssätze
für Mehrbedarfszuschläge gelten bis auf weiteres fort. Mehrbedarfe, die
sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergeben, werden, soweit
und solange sie nicht von anderen Leistungssystemen gedeckt werden,
übernommen.

g) Die Eigenbeteiligung von 1 Euro beim Schul- und Kita-Essen wird ge-
strichen;

3. in Kooperation mit einer Gruppe von Sachverständigen, Verbänden und Be-
troffenen ein Konzept zu erarbeiten, mit dem das jetzige Hartz-IV-System
durch eine individuelle, sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzt werden
kann. Die Höhe der Mindestsicherung orientiert sich an der jeweiligen Ar-
mutsrisikogrenze und wird durch Warenkorberhebungen überprüft. Derzeit
gilt: Unter 1.050 Euro im Monat droht Armut. Nur eine Mindestsicherung in
dieser Höhe kann die Verarmung und Entwürdigung von Erwerbslosen und
Menschen mit geringem Einkommen in Deutschland beenden.

Berlin, den 29. November 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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