BT-Drucksache 17/9933

Die Ukraine kurz vor der Fußball-Europameisterschaft 2012

Vom 11. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9933
17. Wahlperiode 11. 06. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Volker Beck (Köln), Tom
Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), Agnes Brugger, Thilo Hoppe, Uwe
Kekeritz, Katja Keul, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour,
Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Ukraine kurz vor der Fußball-Europameisterschaft 2012

Im Anschluss an die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Situation in der Ukraine vom
21. März 2012 auf Bundestagsdrucksache 17/9042 haben sich neue Fragen zur
menschenrechtlichen und innenpolitischen Lage der Ukraine ergeben.

Sie betreffen insbesondere das Versagen der ukrainischen Polizei bei der Siche-
rung der kyivpride2012 am Sonntag den 20. Mai 2012, die 200 friedliche LGBT-
Demonstrantinnen und -demonstranten (LGBT = Lesben, Schwule, Bisexuelle,
Transgender) nicht vor 700 Neonazis und 300 christlich-fundamentalistischen
Gegendemonstrantinnen und -demonstranten schützen wollte oder konnte. Dies
stellt eine kaum für möglich gehaltene Form der Ignoranz gegenüber den Men-
schenrechten von LGBT auf Seiten der ukrainischen Polizei dar. Vor diesem
Hintergrund stellt sich die Frage, wie die ukrainische Polizei die Sicherheit
tausender Fußballfans bei der Fußball-Europameisterschaft 2012 (EURO 2012)
gewährleisten will, wenn ihr der Schutz von etwa 200 friedlichen Demonstran-
tinnen und Demonstranten nicht möglich war. Das Auswärtige Amt warnt in den
Reise- und Sicherheitshinweisen zur Ukraine derzeit (Stand: 4. Juni 2012): „Seit
einiger Zeit gibt es jedoch vermehrt Fälle von Übergriffen gegenüber Auslän-
dern insbesondere mit nicht-europäischem Aussehen. Ein fremdenfeindlicher
Hintergrund ist nicht auszuschließen.“ Ein ähnlicher Hinweis für LGBT existiert
nicht. Ukrainische Menschenrechtsorganisationen bemängeln, dass die ukraini-
sche Polizei Opfer von vorurteilsmotivierter (beispielsweise fremdenfeindlicher,
LGBT-feindlicher) Gewalt nicht schütze sowie vorurteilsmotivierte Straftaten
nicht mit Nachdruck verfolge. Allein in den letzten sechs Jahren haben Nicht-
regierungsorganisationen zwölf rassistisch motivierte Morde und 300 Über-
griffe auf Migranten dokumentiert (vgl. Deutschlandradio, 3. Juni 2012). Ein
BBC-Bericht vom 28. Mai 2012 dokumentierte das enorme Ausmaß an Rassis-
mus und Antisemitismus sowie gezielte Gewaltakte gegen Nicht-Weiße in ukra-
inischen Fußballstadien.
Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Gefahr ein, dass Fußballfans in der
Ukraine Opfer von vorurteilsmotivierter Gewalt werden können?

Drucksache 17/9933 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. Wie bewertet die Bundesregierung das Verhalten der ukrainischen Polizei bei
der Sicherung der Kyiv Pride2012 am Sonntag den 20. Mai 2012?

3. Schätzt die Bundesregierung das Verhalten der ukrainischen Polizei in die-
sem Fall als vorsätzlich oder als grob fahrlässig ein?

Wenn nein, welche anderen Beweggründe oder äußeren Umstände sind der
Bundesregierung bekannt, die das Handeln bzw. insbesondere das Unterlas-
sen der ukrainischen Polizei erklären könnten?

4. Wie hat die Bundesregierung auf dieses Verhalten der ukrainischen Polizei
auch vor dem Hintergrund der Debatten, u. a. im Europäischen und nieder-
ländischen Parlament, reagiert?

5. Hat der Bundesminister des Auswärtigen Dr. Guido Westerwelle angesichts
der Vorfälle gegenüber der ukrainischen Regierung protestiert?

Wenn nein, warum nicht?

Stimmt die Bundesregierung der Einschätzung des ehemaligen Kapitäns der
britischen Nationalmannschaft, Sol Campbell, zu, dass es für nicht weiße
Fußballfans aufgrund des gewaltsamen Rassismus zu gefährlich sei, zu der
Europameisterschaft in Polen und der Ukraine zu reisen (SPIEGEL ONLINE
vom 28. Mai 2012), und wenn nein, mit welcher Begründung?

6. Hält die Bundesregierung angesichts der Vorfälle an ihrer Einschätzung fest,
dass „die ukrainische Führung bestrebt sein wird, sich der internationalen Öf-
fentlichkeit anlässlich der Fußballeuropameisterschaft 2012 als weltoffener,
europäischer, moderner und demokratischer Staat zu präsentieren“ und dass
dies […] sich auch positiv auf die Menschenrechtslage in der Ukraine auswir-
ken [könne] (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der
Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/9042, Frage 18 sowie
Antwort auf die Mündliche Frage 52, Plenarprotokoll 17/177, Anlage 30)?

Wenn ja, wie passt dies zu der Bewertung der Vorfälle vom 20. Mai 2012?

Wenn nein, welche Auswirkungen auf die Menschenrechtslage in der
Ukraine erwartet die Bundesregierung nunmehr von der EURO 2012?

7. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den oben geschilderten
Vorkommnissen

a) hinsichtlich der EURO 2012,

b) hinsichtlich der Reise- und Sicherheitshinweise für die Ukraine in Bezug
auf LGBT,

c) hinsichtlich der Reise- und Sicherheitshinweise für die Ukraine in Bezug
auf dunkelhäutige oder vermeintlich andersartig aussehende Menschen,

d) hinsichtlich der weiteren Verhandlungen über das am 30. März 2012 para-
phierte Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und
der Ukraine (insbesondere angesichts der Antwort der Bundesregierung
auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdruck-
sache 17/9042, Frage 6b),

e) hinsichtlich des Rückübernahmeabkommens mit der Ukraine insbeson-
dere für Menschen, die angeben, dort aufgrund ihrer sexuellen Identität
verfolgt zu werden,

f) für ihre Gespräche mit der ukrainischen Regierung über den Schutz von
Minderheiten und eine umfassende Antidiskriminierungsgesetzgebung
(vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion
DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/9042, Frage 19)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9933

8. Hält die Bundesregierung angesichts der Vorfälle vom 20. Mai 2012 und
ihrer bislang ausgesprochenen Reise- und Sicherheitshinweise die Sicher-
heit von Fans, die anlässlich der EURO 2012 in die Ukraine reisen und die
homosexuell oder nicht weiß sind, für ausreichend gewährleistet?

9. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Stand der Ermittlungen be-
züglich der von Gegendemonstrantinnen und -demonstranten bei der Kyiv
Pride2012 begangenen Straftaten, insbesondere der Körperverletzungen an
mindestens zwei Personen?

10. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Gesundheitszustand der
verletzten Personen?

11. War der Umgang mit und der Schutz von Minderheiten ein ausdrücklicher
Bestandteil des Erfahrungsaustauschs im Nachgang zur Fußballweltmeis-
terschaft 2006 sowie bei Aus- und Fortbildungsmaßnahmen im Zusammen-
hang mit der EURO 2012 (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine
Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/9042,
Frage 41)?

a) Wenn nein, warum nicht?

b) Wenn ja, in welchem Umfang, mit welchen Schwerpunkten, in Bezug
auf welche Gruppen, und mit welcher Zielsetzung?

c) Wenn ja, wie erklärt sich die Bundesregierung vor diesem Hintergrund
das Verhalten der ukrainischen Polizei am 20. Mai 2012 im Rahmen der
Kyiv Pride2012?

12. Beeinflussen die Vorfälle vom 20. Mai 2012 und das Verhalten der ukraini-
schen Polizei die Vorbereitungen der Bundesregierung für eine polizeiliche
Zusammenarbeit im Rahmen der EURO 2012 (vgl. Vorbemerkung der Bun-
desregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE
LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/9386)?

13. Wurden oder werden vor dem Hintergrund dieser Vorfälle die beiden deut-
schen Polizeiverbindungsbeamten, die in dem internationalen Polizeifüh-
rungsstab in Kiew eingesetzt werden, besonders dazu angehalten, auf ein
menschenrechtskonformes und diskriminierungsfreies Verhalten ihrer uk-
rainischen Kolleginnen und Kollegen hinzuwirken?

14. Welche gezielten Maßnahmen gegen Rassismus und Antisemitismus wur-
den nach Kenntnis der Bundesregierung im Vorfeld der EURO 2012 in
Polen und der Ukraine unternommen, und wie wurde diese von deutscher
bzw. europäischer Seite unterstützt?

15. Welche konkreten Maßnahmen gegen Rassismus und Antisemitismus hat
die UEFA nach Kenntnis der Bundesregierung im Vorfeld der EURO 2012
in Polen und der Ukraine unternommen?

16. Welche konkreten Projekte werden nach Kenntnis der Bundesregierung
durch das „Respect Diversity“-Programm des FARE-Netzwerks (Fußball
gegen Rassismus in Europa) im Rahmen der EURO 2012 gefördert, und wie
werden diese von deutscher Seite unterstützt?

17. Wie war nach Kenntnis der Bundesregierung das bisherige parlamentari-
sche Beratungsverfahren des sogenannten Gesetzes gegen die Propaganda
der Homosexualität, und mit welchem weiteren Beratungsablauf rechnet
die Bundesregierung?

18. Wie gestaltet sich nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit die öffent-
liche Diskussion zu diesem Gesetzentwurf innerhalb der ukrainischen Ge-

sellschaft?

Drucksache 17/9933 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

19. Welche Fraktion welcher Partei und welche/welcher Abgeordnete genau ist
nach Kenntnis der Bundesregierung für diesen Gesetzentwurf verantwort-
lich?

20. Haben sich Vertreterinnen oder Vertreter der ukrainischen Regierung nach
Kenntnis der Bundesregierung bislang zu diesem Gesetzentwurf geäußert?

Wenn ja, wie?

21. Haben sich führende ukrainische Kirchenvertreter nach Kenntnis der Bun-
desregierung bislang zu diesem Gesetzentwurf geäußert?

Wenn ja, welche und wie?

22. Welche Mitglieder ehemaliger ukrainischer Regierungen befinden sich
nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit in der Ukraine in Haft?

23. Aufgrund welcher Tatvorwürfe wurden sie nach Kenntnis der Bundesregie-
rung inhaftiert, und wie hoch sind ihre Freiheitsstrafen?

24. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung ihr Gesundheitszustand (soweit
bekannt)?

25. Welche dieser Fälle verfolgen die Europäische Kommission oder die Bun-
desregierung mit Prozessbeobachtern, und zu welchen Ergebnissen sind
diese Beobachter gekommen?

26. Wie bewerten die Prozessbeobachter die Zusammenarbeit mit den ukraini-
schen Behörden?

Haben sie freien Zugang zu den Verhandlungen, und wird den Beobachtern
freier Einblick in die Dokumente des Verfahrens gewährt?

27. Welche Schlussfolgerungen bzw. Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus dem Vorschlag des früheren Präsidenten des Bundesverfassungsge-
richts Dr. Dres. h. c. Hans-Jürgen Papier (vgl. DER TAGESSPIEGEL,
7. Mai 2012), die Ukraine wegen der Inhaftierung ehemaliger Regierungs-
mitglieder vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ver-
klagen?

28. Wie bewertet die Bundesregierung den Zustand und die Umstände in den
ukrainischen Haftanstalten im Allgemeinen?

29. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Anwendung von Fol-
ter in der Ukraine?

Welche Schlussfolgerungen bzw. Konsequenzen zieht sie aus entsprechen-
den Berichten von Amnesty International (Jahresbericht 2012) und der Ver-
einigung ukrainischer Menschenrechtler zur Beobachtung von Rechtsver-
letzungen (UMDPL), denen zufolge im Jahr 2011 etwa 900 000 Inhaftierte
Opfer von Folter geworden sind (vgl. taz, 26. April 2012 und 5. Juni 2012)?

30. Inwieweit unterscheiden sich nach Kenntnis der Bundesregierung die
eigens für die EURO 2012 neu errichteten oder zur Verfügung gestellten
Gewahrsams- und Arrestzellen (vgl. Antwort der Bundesregierung auf
die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache
17/9042, Frage 40) von regulären ukrainischen Gefängnissen im Hinblick
auf menschenrechtliche Standards (etwa bei der Maximalbelegung oder den
hygienischen Standards)?

31. Inwieweit unterscheidet sich nach Kenntnis der Bundesregierung die
geplante Verfahrensweise der ukrainischen Strafverfolgungsbehörden und
Gerichte zur Bestrafung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten durch
ausländische Fans von den ansonsten in der Ukraine üblichen Ordnungs-

widrigkeits- und Strafverfahren?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9933

32. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Praxis ukrainischer
Universitäten, im Vorfeld der EURO 2012 Studierendenwohnheime ohne
Entschädigungszahlungen, Mieterlässe oder Stellen von Ersatzunterkünften
für die Betroffenen zu räumen, um die Zimmer an Reisekonzerne zu ver-
mieten (vgl. DER TAGESSPIEGEL, 25. April 2012)?

33. Welche Mitglieder der Bundesregierung beabsichtigen zu welchen Spielen
der EURO 2012 in die Ukraine zu fahren?

34. Welche Schlussfolgerungen bzw. Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der Ankündigung der Europäischen Kommission und der französischen
Regierung, dass keines ihrer Mitglieder die Spiele der EURO 2012 in der
Ukraine besuchen werde?

35. Haben Mitglieder der Bundesregierung bis dato darum ersucht, Mitglieder
ehemaliger ukrainischer Regierungen, die sich derzeit in Haft befinden, dort
zu besuchen?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, welches Mitglied der Bundesregierung hat um welche(n) Be-
such(e) ersucht?

Wie wurden die Ersuche beantwortet?

36. Erachtet die Bundesregierung es als sinnvoll, wenn Mitglieder der deutschen
Fußballnationalmannschaft der Herren ihren Unmut über die Menschen-
rechtslage in der Ukraine äußern (vgl. etwa die Äußerungen von Philipp
Lahm in DER SPIEGEL vom 7. Mai 2012), und erhofft sie sich davon eine
Verbesserung der Menschenrechtslage in der Ukraine?

Berlin, den 11. Juni 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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