BT-Drucksache 17/9929

Wahlfreiheit gewährleisten, Kindertagesbetreuung ausbauen

Vom 12. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9929
17. Wahlperiode 12. 06. 2012

Antrag
der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Britta Haßelmann, Brigitte Pothmer,
Sven-Christian Kindler, Kai Gehring, Agnes Krumwiede, Monika Lazar,
Tabea Rößner, Krista Sager, Ulrich Schneider und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Wahlfreiheit gewährleisten, Kindertagesbetreuung ausbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Förderung von Wahlfreiheit bezogen auf die individuelle Lebensführung ist
ein zentraler Leitgedanke moderner Familienpolitik. Wahlfreiheit ist dann ge-
geben, wenn Menschen eine private Entscheidung zwischen mindestens zwei
Alternativen – wie die Entscheidung über die Betreuung ihres Kindes – ohne
staatliche Einmischung treffen können. Wahlfreiheit ist nicht mehr gegeben,
wenn der Staat die Entscheidung für oder gegen eine Alternative mit der Aus-
zahlung einer Geldleistung wie dem geplanten Betreuungsgeld belohnt.

Wahlfreiheit ist eben nicht gegeben, wenn das Fehlen einer Alternative keine
Auswahl anbietet. Der kürzlich der Öffentlichkeit vorgestellte Achte Familien-
bericht stellt daher zutreffend fest: „Notwendig ist ein bedarfsgerechter Ausbau
an qualitativ hochwertigen Betreuungsplätzen in Kindertageseinrichtungen und
in der Tagespflege, der den Bedürfnissen der Kinder und Eltern entspricht und
mit der lokalen Infrastruktur vernetzt ist. Erst wenn für alle Kinder Ganztagsbe-
treuungsplätze in hervorragender Qualität vorhanden sind, haben Eltern tat-
sächlich eine Wahlmöglichkeit.“ Die Bundesministerin für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder, äußerte sich am 25. April 2012 in
gleicher Weise im Gespräch mit dem Südwestdeutschen Rundfunk: „Es gibt
keine Wahlfreiheit für Familien, wenn die Kitaplätze nicht ausreichend ausge-
baut sind.“ Damit wird dem Argument, mit dem Betreuungsgeld werde die
Wahlfreiheit der Eltern forciert, selbst seitens der Bundesregierung widerspro-
chen. Tatsache ist, dass nur ein kleiner Teil der Eltern in Deutschland diese
Wahlmöglichkeit hat, da insbesondere für Kinder unter drei Jahren nicht ausrei-
chend Kinderbetreuungsplätze zur Verfügung stehen.

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund geht derzeit davon aus, dass noch
200 000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren fehlen. Laut Drittem
Zwischenbericht der Bundesregierung zum Stand des Ausbaus der Kinderbe-
treuung 2012 sind es sogar 233 000 fehlende Plätze. Viele Eltern von unter

Dreijährigen haben keine Alternative, wenn die von ihnen gewünschten und
dringend benötigten Plätze nicht bald entstehen.

Seitens der Bundesregierung wird mit Blick auf Krippenausbau und Betreu-
ungsgeld oftmals suggeriert, das Betreuungsgeld sei gewissermaßen ein mate-
rieller Ausgleich für die steigenden Finanzbedarfe bei der Kindertagesbetreu-
ung. Dabei wird bewusst die Tatsache ausgeklammert, das die materielle Ehe-

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und Familienförderung in Deutschland schon lange beträchtliche Dimensionen
hat. Davon profitieren insbesondere zu Hause Erziehende bzw. Elternteile, die
keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Zu nennen sind hierbei etwa das Ehegatten-
splitting, die Ehegattenbeitragsfreiheit in der Krankenversicherung oder die
Anerkennung der Erziehungsleistungen bei der Rente. Dies sind im Übrigen
Komponenten, die seit jeher explizite ökonomische Anreize für – zumeist –
Frauen setzen, ihren Wunsch nach Erwerbstätigkeit zurückzustellen. So ist
auch zu verstehen, dass der seit fast zwei Jahrzehnten bestehenden gesetzlichen
Verpflichtung, ausreichend Krippenplätze bereitzustellen, in den westlichen
Bundesländern de facto nie Rechnung getragen wurde.

Seit Jahren wurde der quantitative und qualitative Ausbau der Kindertagesbe-
treuung nicht mit der nötigen Konsequenz vorangetrieben. Bereits seit 1992
verpflichtet das Kinder- und Jugendhilferecht die öffentlichen Träger dazu, ein
bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuungsplätzen auch für Kinder
unter drei Jahren vorzuhalten. Doch in vielen Kommunen hatte der Ausbau der
Kinderbetreuung nicht oberste Priorität und der Bedarf überstieg das Angebot
bei Weitem. Vor diesem Hintergrund einigten sich Bund, Länder und Kommu-
nen im August 2007 beim so genannten Krippengipfel auf einen bedarfsgerech-
ten Ausbau der sogenannten U3-Betreuung für im Bundesdurchschnitt 35 Pro-
zent der unter Dreijährigen (bzw. 750 000 Plätze), eine anteilige Bundesfinan-
zierung sowie die Einführung eines individuellen Rechtsanspruchs auf einen
Kitaplatz ab 2013. Dafür wurden Kosten in Höhe von 12 Mrd. Euro veran-
schlagt, von denen der Bund ein Drittel (4 Mrd. Euro) übernahm.

Doch auch infolge des Krippengipfels bekam der quantitative Ausbau der Kin-
dertagesbetreuung nicht die notwendige Dynamik. Sowohl der Erste als auch
der Zweite Zwischenbericht der Bundesregierung zum Stand des Ausbaus der
Kinderbetreuung mahnten das unzureichende Tempo an; zur Ausbaudynamik
heißt es darin: „Um wie geplant bis 2013 eine bedarfsgerechte Kinderbetreuung
zu schaffen, muss diese Dynamik weiter gesteigert werden.“. Die jährliche
Steigerung an Betreuungsplätzen übertraf kaum 2,5 Prozent und so war bereits
im Mai 2010, spätestens 2011, deutlich, dass die Realisierung des Rechtsan-
spruchs nicht ohne nachdrückliche Anstrengungen möglich sein würde. Doch
jenseits von Schuldzuweisung insbesondere in Richtung der Bundesländer hat
die Bundesregierung nichts unternommen.

Inzwischen ist es äußerst fraglich, ob es überhaupt gelingen kann, bis zum In-
krafttreten des Rechtsanspruchs im August 2013 die beabsichtigten 750 000
Plätze für unter Dreijährige zu schaffen. Es fehlt an Geld, Räumlichkeiten und
Fachkräften. Darüber hinaus ist klar, dass mit den geplanten 750 000 Plätzen
für unter Dreijährige der Rechtsanspruch nicht realisiert werden wird, denn der
Bedarf der Familien ist höher. Neuere Erhebungen des Deutschen Jugendinsti-
tuts lassen einen Bedarf von mindestens 39 Prozent erwarten. In einigen Städ-
ten und Regionen ist sogar mit einer Nachfrage von deutlich über 50 Prozent zu
rechnen. Für Kommunen, die in den vergangenen Jahren ernsthafte Ausbaube-
mühungen im U3-Bereich gezeigt haben und auch darüber hinaus in den Aus-
bau investieren, deren Bedarf deutlich über 35 Prozent liegt, muss ein Sonder-
programm beim Bund aufgelegt werden. Bis zum 1. August 2013 fehlen min-
destens rund 230 000 Plätze für Kinder unter drei Jahren in frühkindlichen
Bildungseinrichtungen und in der Tagespflege. Bereits jetzt klagen die Einrich-
tungen über einen Mangel an Fachkräften. Dieser Fachkräftemangel wird sich
bis 2013 noch verschärfen. So werden bundesweit zwischen 13 000 und 20 000
Erzieherinnen und Erzieher in Tageseinrichtungen und bis zu 17 500 Tagespfle-
gepersonen fehlen.

Um 2013 den Rechtsanspruch auf einen Kindertagesbetreuungsplatz für Kinder

ab dem ersten Lebensjahr erfüllen zu können, ist es höchste Zeit, gemeinsam
alle Kräfte zu mobilisieren und zielgerichtet zu handeln. Wenn Bund, Länder,
Kommunen und freie Träger nicht aktiv werden, sind alle Chancen verspielt,

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den ab dem 1. August 2013 in Kraft tretenden Rechtsanspruch auf einen Kin-
derbetreuungsplatz erfüllen zu können. Dieses Versagen wäre eine familien-
und gleichstellungspolitische Katastrophe und ein beschämendes Armutszeug-
nis für unser Land. Es ist nicht zu verantworten, dass die Bundesregierung be-
reit ist, zukünftig jährlich mindestens 1,2 Mrd. Euro für eine unsinnige Maß-
nahme wie das Betreuungsgeld auszugeben, sich aber nicht an den zusätzlich
notwendigen Ausgaben zur Erfüllung des Rechtsanspruchs auf einen Kinderbe-
treuungsplatz beteiligt. Auch die Europäische Kommission kritisiert das Be-
treuungsgeld: Es setze keinen Anreiz für Mütter, bald wieder erwerbstätig zu
sein und stehe somit der Integration von Frauen am Arbeitsmarkt entgegen. Das
Risiko bestehe, dass insbesondere Kinder aus benachteiligten Schichten in den
ersten Lebensjahren keine Krippen oder Kindergärten besuchten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
tatsächliche Wahlfreiheit für Eltern zu schaffen und hierzu

• einen zweiten Krippengipfel einzuberufen. Bund, Länder und Kommunen
müssen gemeinsam eine realistische Bestandsaufnahme der Ausbausituation
und der bestehenden Probleme vorlegen und eine solide Finanzierungsver-
einbarung treffen, wie insbesondere die Differenz an Plätzen zwischen der
2007 angenommenen Bedarfslage und der tatsächlich für 2013 zu erwarten-
den Bedarfssituation finanziert werden soll. Auch über 2013 hinaus wird der
Bedarf an Plätzen für unter dreijährige Kinder ansteigen, sodass diese Frage
in eine neue Finanzierungsvereinbarung einbezogen werden muss, um die
Kommunen mit der Erfüllung des Rechtanspruchs über 2013 hinaus nicht im
Regen stehen zu lassen;

• ein Sonderprogramm für die Kommunen aufzulegen, die in den vergange-
nen Jahren ernsthafte Ausbaubemühungen gezeigt haben und deren Bedarf
an Plätzen für unter Dreijährige deutlich über dem 2007 angenommenen
Durchschnittswert von 35 Prozent liegt, um diesen Kommunen bei ihren
weiteren Ausbaubemühungen schnell unter die Arme zu greifen und von
dem auch finanzschwache Kommunen profitieren können;

• gemeinsam mit den Ländern, kommunalen Spitzenverbänden und freien
Trägern der Wohlfahrtspflege eine Taskforce einzurichten, die kreative
(Zwischen-)Lösungen für den Fachkräfte- und Platzmangel erarbeitet und
bislang ungenutzte Potentiale erschließt;

• alle Möglichkeiten des Bundes zu nutzen, um die Länder bei der Ausbildung
und ggf. Nachqualifizierung bzw. Umschulung von Erzieherinnen und
Erziehern zu unterstützen. Hierzu gehört auch, dass die Bundesagentur für
Arbeit Umschulungen zur Erzieherin und zum Erzieher mittelfristig über
volle drei Jahre fördern kann;

• ein Sonderprogramm aufzulegen, dass die Kommunen bei der Anwerbung
(beispielsweise über die Arbeitsagenturen und Jobcenter) und Ausbildung
von Tagespflegepersonen unterstützt;

• bei den Bundesländern darauf hinzuwirken, dass diese die von ihnen beim
Krippengipfel 2007 getätigten Finanzierungzusagen zum Ausbau der U3- Be-
treuung einhalten;

• die Pläne für das Betreuungsgeld zu beenden und die für das Betreuungsgeld
schon im Bundeshaushalt eingeplanten 400 Mio. Euro bzw. 1,2 Mrd. Euro
umgehend für den Kitaausbau umzuwidmen.

Berlin, den 12. Juni 2012
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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