BT-Drucksache 17/9879

Werkverträge, Leiharbeit und Lohndumping im Einzelhandel

Vom 6. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9879
17. Wahlperiode 06. 06. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, Matthias
W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Werner Dreibus, Katja Kipping, Cornelia Möhring,
Kornelia Möller, Yvonne Ploetz, Kathrin Vogler, Harald Weinberg und der
Fraktion DIE LINKE.

Werkverträge, Leiharbeit und Lohndumping im Einzelhandel

Im Drogerieunternehmen Rossmann werden systematisch Werkverträge und
Leiharbeit eingesetzt. Es ist zu vermuten, dass auf diesem Wege zu Lasten der
Beschäftigten Kosten gesenkt werden sollen. Laut „Handelsblatt“ vom 15. Mai
2012 werden Werkverträge und Leiharbeit bei Rossmann genutzt, um Kassen-
tätigkeit, Regaleinräumung und Inventur zu erledigen. In manchen Filialen
bleibt somit nur noch ein einziger, direkt bei Rossmann Beschäftigter übrig:
der Filialleiter bzw. die Filialleiterin (www.handelsblatt.com/unternehmen/
handel-dienstleister/lohnwucher-die-verborgene-seite-des-rossmann-reiches/
6628640.html). Der Fall Rossmann zeigt zum einen, dass das Arbeitnehmer-
überlassungsgesetz durch die Ausschreibung von Werkverträgen umgangen
werden kann und zum anderen, dass der Einsatz von Leiharbeit trotz der Regu-
lierung im vergangenen Jahr weiterhin ein profitables Geschäft bleibt, um Kos-
ten zu reduzieren.

Das „System Rossmann“ erinnert an die Methoden, die auch die Firma
Schlecker genutzt hat, um die Lohnkosten zu reduzieren. Ebenso scheinen Prak-
tiken angewandt zu werden, die an das Vorgehen von „Netto“ und „Kaufland“
erinnern und dort zu breit angelegten Ermittlungen der Finanzkontrolle
Schwarzarbeit (FKS) geführt haben (24. Januar 2012: www.zeit.de/wirt-
schaft/unternehmen/2012-01/ermittlung-netto-kaufland). In diesen beiden Fäl-
len wurden Ermittlungen eingeleitet, um zu prüfen, inwiefern dort sogenannte
Scheinwerkverträge zum Einsatz kommen. Hinsichtlich des Unternehmens
Rossmann sind bisher keine ähnlichen Ermittlungen bekannt.

Die bei Rossmann auf der Basis von Werkverträgen oder Leiharbeit eingesetzten
Beschäftigten erhalten deutlich weniger Lohn als die regulär Beschäftigten.
Beim Regaleinräumen sinkt der Verdienst von 9,86 Euro (ver.di-Tarifvertrag des
Einzelhandels in Niedersachsen) auf 6,63 Euro (DHV-Tarifvertrag, West). Das
ist ein Minus von 33 Prozent. Auch an der Kasse wird nicht das tarifliche Entgelt
nach dem geltenden Tarifvertrag für den Einzelhandel gezahlt, sondern der Leih-
arbeitstarif. Bei der Inventur werden die Beschäftigten auf der Grundlage eines
polnischen Tarifvertrags entlohnt. Wieder spart Rossmann: 6,60 Euro statt

7,73 Euro (Inventurhelfer, nach ver.di-Tarifvertrag des Einzelhandels, Nieder-
sachsen).

Bei den beschriebenen Praktiken ist auch die wirtschaftliche Verflechtung des
Unternehmens Rossmann zu berücksichtigen. Die auf der Basis eines Werkver-
trages mit der Regaleinräumung beauftragte Firma „instore solutions services
gmbh (ISS)“ ist eine 49-prozentige Tochter des Rossmannkonzerns. An der

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Leiharbeitsfirma „instore solutions personell gmbH (ISP)“, welche für das Erle-
digen der Kassentätigkeit zuständig ist, ist Rossmann zu 22,5 Prozent beteiligt.
Die polnische Firma „Invent“ erledigt per Werkvertrag die Inventuren bei
Rossmann – sie ist ein Tochterunternehmen von ISS Polska, die wiederum mit
der 49- prozentigen Rossmanntochter ISS verbunden ist. Die ISS arbeitet auch
für andere namhafte deutsche Einzelhandelsunternehmen und erzielte allein im
Jahr 2010 einen Umsatz von 32 Mio. Euro und einen Gewinn von 1,27 Mio.
Euro.

Bereits im Januar dieses Jahres haben die FKS und die Staatsanwaltschaften
Bamberg, Regensburg und Stuttgart Großrazzien bei den Unternehmen Netto
und Kaufland durchgeführt, bei denen es um den Verdacht von Scheinwerkver-
trägen ging (www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2012-01/ermittlung-netto-
kaufland). Aktuell erregte das Unternehmen Kaufland im Mai dieses Jahres Auf-
merksamkeit, da es osteuropäische Werkvertragsunternehmen beauftragt, die an
den Sozialversicherungsbeiträgen ihrer Beschäftigten sparen, indem sie den
überwiegenden Teil ihres Lohnes als nicht sozialversicherungspflichtige Spesen
auszahlen (vgl. REPORT MAINZ, www.swr.de/report/presse/-/id=1197424/
nid=1197424/did=9802796/13j7yzy/index.html).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Sieht die Bundesregierung in Anbetracht der in der Vorbemerkung genannten
Beispiele für den Einsatz von Werkverträgen nach wie vor „keinen Hand-
lungsbedarf“ (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der
Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/6714), oder hat sich die
Meinung der Bundesregierung hinsichtlich der Bewertung des Regulierungs-
bedarfs bei Werkverträgen geändert (bitte begründen)?

2. Sind der Bundesregierung die Ergebnisse der Betriebsrätebefragung der Ge-
werkschaft NGG (Nahrung-Genuss-Gaststätten) vom April 2012 bekannt
(www.ngg.net/werkvertraege/), in der 400 Betriebsräte in der Ernährungs-
wirtschaft angeben, dass inzwischen 7,8 Prozent der Beschäftigten in der Er-
nährungswirtschaft Werkvertragsbeschäftigte und 5,3 Prozent Leiharbeits-
beschäftigte sind, Werkvertragsarbeitnehmer in der Ernährungsindustrie
durchschnittlich 6 Euro weniger die Stunde als die Stammbelegschaft verdie-
nen und im Durchschnitt 1 Euro weniger als Leiharbeitsbeschäftigte?

Leitet die Bundesregierung hieraus einen Handlungsbedarf ab?

Wenn ja, welchen?

Wenn nein, bitte begründen?

3. Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass angesichts der zunehmenden
Aufdeckung eines Missbrauchs von Werkverträgen in zahlreichen Unterneh-
men und Branchen eine statistische Erhebung von Werkverträgen notwendig
ist, um den gesetzgeberischen Handlungsbedarf bezüglich der Regulierung
von Werkverträgen abzuschätzen (bitte begründen)?

Und welchen Handlungsbedarf leitet die Bundesregierung daraus ab?

4. Wie bewertet die Bundesregierung die im Artikel des „Handelsblatts“ vom
15. Mai 2012 beschriebene Geschäftspraxis bei Rossmann, mittels Werkver-
trägen tarifliche Leistungen zu unterwandern?

Leitet die Bundesregierung aus diesem Geschäftsmodell einen gesetzlichen
Handlungsbedarf ab?

Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9879

5. Sieht die Bundesregierung eine Veranlassung, die im Artikel des „Handels-
blatts“ vom 15. Mai 2012 beschriebene Geschäftspraxis der Firma Ross-
mann durch die FKS, die Bundesagentur für Arbeit oder andere Bundesbe-
hörden überprüfen zu lassen?

Wenn nein, warum nicht?

6. Welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung vor dem Hintergrund,
dass die zunehmende Zergliederung eines Betriebes durch Werkverträge,
wie im Beispiel des „Systems Rossmann“ gut erkennbar, auch als Aushebe-
lung der im Betriebsverfassungsgesetz geregelten Mitbestimmungsrechte
der Beschäftigten eines Betriebes dienen kann?

7. Haben die Firmen Invent, „instore solutions services gmbh“ „Instore Logis-
tic Services“ und „instore solution services polska“ eine Erlaubnis zur Ar-
beitnehmerüberlassung, und wurden diese im Bereich der Arbeitnehmer-
überlassung geschäftlich tätig?

8. Wie viele Unternehmen mit Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung waren
zum Stichtag 30. Juni 2004 Mischbetriebe, und wie viele von diesen hatten
zum selbigen Zeitpunkt keine Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen beschäf-
tigt?

a) Wie hat sich die Zahl der Mischbetriebe in der Arbeitnehmerüberlassung
mit und ohne tatsächliche Verleihpraxis in den Jahren 1994 bis 2004 ent-
wickelt?

b) Warum wurde die Statistik der Bundesanstalt für Arbeit ab 2004 insoweit
verändert, dass die Zahl der Mischbetriebe in der Arbeitnehmerüberlas-
sung ohne tatsächliche Verleihpraxis nicht mehr nachvollziehbar ist?

c) Wie schätzt die Bundesregierung die Entwicklung der Mischbetriebe
ohne Verleihpraxis nach 2004 ein (bitte begründen)?

9. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass es sich um eine Regulie-
rungslücke handelt, wenn Werkvertragsfirmen mit Erlaubnis zur Arbeitneh-
merüberlassung, aber ohne tatsächliche Verleihpraxis, sich und den Auf-
tragnehmer mittels der Erlaubnis vor den Folgen eines nachgewiesenen
Scheinwerkvertrags schützen?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, leitet die Bundesregierung aus diesem Umgehungsverhalten ge-
setzlicher Bestimmungen einen Handlungsbedarf zum Schutze der Beschäf-
tigten ab (bitte begründen)?

10. Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass es sich bei der Praxis mittels
Gründung eigener Werkvertragsunternehmen, Aufträge „inhouse“, aber un-
ter verschlechterten Tarifbedingungen, auszuschreiben, wie der Sachver-
ständige Frank Schmidt-Hullmann in der Anhörung des Ausschusses für
Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages am Beispiel der Deutschen
Lufthansa AG berichtete (Protokoll 17(11)99), um eine Umgehung beste-
hender Tarifverträge, vergleichbar mit der Gründung von betriebseigenen
Leiharbeitsfirmen durch die Firma Schlecker, handelt?

Leitet die Bundesregierung hieraus einen Handlungsbedarf ab?

Wenn ja, welchen?

Wenn nein, bitte begründen?

a) Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass für konzerninterne Werkver-
träge genauso wie für konzerninterne Leiharbeit das Prinzip Equal Pay

gelten sollte (bitte begründen)?

Drucksache 17/9879 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
b) Leitet die Bundesregierung aus dem Beteiligungssystem des Unterneh-
mens Rossmann an den Leiharbeits- und Werkvertragsfirmen, deren Be-
schäftigte im eigenen Unternehmen zu schlechteren Lohnbedingungen
als die Stammbeschäftigten tätig sind, einen gesetzlichen Handlungsbe-
darf ab?

Wenn ja welchen?

Wenn nein, warum nicht?

11. Sieht die Bundesregierung

a) im Falle von Unternehmensbeteiligungen an den Werkvertragsfirmen,
wie beim Beispiel Rossmann, und

b) im Falle von Tochterunternehmen als Werkvertragsfirmen, wie beim
Beispiel Lufthansa,

die Trennung der Weisungsbefugnis als eines der wesentlichen Abgren-
zungskriterien zwischen (konzerninterner) Arbeitnehmerüberlassung und
(konzerninterner) Werkvertragsvergabe dadurch verletzt, dass diese in der
Unternehmensverpflechtung nicht mehr zu trennen ist?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, welchen Handlungsbedarf leitet die Bundesregierung daraus ab?

12. Liegen der Bundesregierung bereits Ergebnisse der Ermittlungen der FKS
bei den Unternehmen Kaufland und Netto vor?

Wenn ja, welche?

Wenn nein, bis wann ist damit zu rechnen?

Gegen wie viele unterschiedliche Unternehmen wurde dabei ermittelt, um
welche Unternehmen handelt es sich im Einzelnen, und wegen welcher Ver-
gehen wird gegen sie ermittelt?

13. Wie beurteilt die Bundesregierung Fälle von Missbrauch von Werkverträ-
gen, wie sie für das Einzelhandelsunternehmen Kaufland im REPORT
MAINZ bekanntgeworden sind?

Welchen gesetzlichen Handlungsbedarf leitet die Bundesregierung daraus
ab?

14. Sieht die Bundesregierung eine unzulässige Ungleichbehandlung gegeben,
wenn entsandte Beschäftigte, wie im Beispiel der Werkvertragsfirmen von
Kaufland, nur einen Teil ihres Lohnes sozialversicherungspflichtig ausge-
zahlt bekommen?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, welche Schritte leitet die Bundesregierung ein, um eine Gleich-
behandlung innerhalb der EU zu erreichen?

Berlin, den 6. Juni 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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