BT-Drucksache 17/9838

Einschränkungen der Menschenrechte von Homosexuellen in Russland

Vom 24. Mai 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9838
17. Wahlperiode 24. 05. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Agnes Brugger,
Viola von Cramon-Taubadel, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Ute Koczy,
Tom Koenigs, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Lisa Paus, Claudia Roth
(Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Einschränkungen der Menschenrechte von Homosexuellen in Russland

Am Mittwoch den 7. März 2012 hat der Gouverneur von St. Petersburg eine
Gesetzesänderung zum Ordnungswidrigkeitengesetz unterzeichnet, welche die
„Propaganda von Homo-, Bi- oder Transsexualität gegenüber Minderjährigen“
– also auch Information und Aufklärung – unter Strafe stellen soll. Homo-, Bi-
und Transsexualität werden dabei in den Artikeln 7.1 und 7.2 des Gesetzes in
einem Atemzug mit Pädophilie genannt und mit dem gleichen Strafmaß belegt.
Ein ähnliches Gesetz existiert bereits in der Region Rjasan (Artikel 4 des Geset-
zes über den Schutz der Moral von Minderjährigen in der Region Rjasan in Ver-
bindung mit Artikel 3.10 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten in Rjasan),
der Region Archangelsk (Gesetz zu Maßnahmen zum Schutz der Moral und der
Gesundheit von Minderjährigen). Inzwischen wurde auch in der drittgrößten
Stadt Russlands, in Novosibirsk, ein entsprechendes Gesetz debattiert. In der
russischen Duma, dem nationalen Parlament, wurde einem Bericht der Nach-
richtenagentur „Interfax“ zufolge am 29. März 2012 ein Gesetz eingebracht, das
ähnliche Strafen für die gesamte Russische Föderation in Aussicht stellt.

Diese Gleichsetzung von Homosexuellen, Bisexuellen und Transsexuellen
(LGBT) mit Straftätern, die Sexualstraftaten an Kindern begangen haben, ist
eine infame Propaganda gegen lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle
Menschen. Der dadurch bewusst erzeugte falsche Eindruck ist in der Lage, eine
negative Einstellung in der Gesellschaft gegenüber LGBT zu wecken oder zu
verstärken und möglicherweise daraus folgende Straftaten gegen LGBT (hate
crime) hervorzurufen. Darüber hinaus ist das neue Gesetz wohl geeignet, Ermitt-
lungsverfahren im Falle von Straftaten gegen LGBT zu behindern.

Auch die Bundesregierung hat in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 17/8265) das Gesetz
in St. Petersburg verurteilt. Sie teilt demnach die Einschätzung von Interessen-
verbänden und Organisationen wie Amnesty International, dass sich die An-
nahme der Initiative nachteilig auf die Rechte sexueller Minderheiten auswirken

könne. Allerdings vertrat die Bundesregierung die Auffassung, dass das Gesetz
durch die Neuwahl der Stadtvertretung in St. Petersburg und einer damit verbun-
denen Diskontinuität gegenstandslos geworden sei. Dies hat sich leider als Fehl-
interpretation erwiesen.

Russland hat sowohl die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als
auch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR)
unterzeichnet. Beide internationalen Vereinbarungen machen deutlich, dass eine

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Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit von Minderheiten
nicht zulässig ist. Mit der Verabschiedung des vorgelegten Gesetzes und der
Durchsetzung der bestehenden Regelungen in anderen Teilen des Landes stellt
sich Russland außerhalb des geltenden menschenrechtlichen Konsenses der Ver-
einten Nationen. Zudem verstoßen die geplanten Regelungen gegen die Verfas-
sung der Russischen Föderation.

Bereits in der Vergangenheit hat Russland die Meinungs- und Versammlungs-
freiheit von Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen eingeschränkt. So wurde
wiederholt die Ausrichtung von Pride-Paraden in Moskau und in St. Petersburg
untersagt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 21. Oktober
2010 diese Verbote als nicht mit der EMRK vereinbar erklärt. Dennoch wurden
auch im Jahr 2011 Pride-Paraden erneut verboten. Auch ohne eine explizite Ge-
setzesänderung wird in Russland die Versammlungsfreiheit eingeschränkt. So
verbot das Landgericht Krasnodar im Februar 2012 die Gründung einer Initia-
tive mit dem Ziel ein „Sochi Pride House“ zu initiieren. Derartige Pride-Häuser
schwuler und lesbischer Athletinnen und Athleten hatte es zuletzt in Vancouver
als Austragungsstätte der letzten Olympischen Spiele gegeben, um für Toleranz
und Gleichberechtigung im Sport zu werben. Auch in London ist ein entspre-
chendes Pendant geplant.

Verschiedene Menschenrechtsorganisationen haben kritisiert, dass das in St. Pe-
tersburg beschlossene Gesetz gegen das Diskriminierungsverbot, gegen die
Meinungs-, die Presse- und die Versammlungsfreiheit sowie den Grundsatz der
Gleichheit vor dem Gesetz verstoße. Nicola Duckworth, Leiterin der Sektion
Europa und Mittelasien von Amnesty International, bewertet das Gesetz als
„kaum verschleierten Versuch, Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Inter-
und Transsexuellen in Russland zu legalisieren“ (siehe www.amnesty.org/en/
news/russia-st-petersburg-urged-halt-draconian-anti-gay-bill-2011-11-18). Der
russische Menschenrechtsaktivist Nikolai Alekseev befürchtet sogar, dass ein
öffentliches Coming-Out – etwa das Tragen eines Regenbogenpins – krimina-
lisiert werden könnte. Zudem könnte die Aids-Aufklärungs- und Präventions-
arbeit zusätzlich geschwächt werden. Die Bundesregierung hat zu diesen Be-
fürchtungen in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage auf Bundestagsdrucksache
17/8265 keine Stellung genommen, da sie den Gesetzgebungsprozess als „vor-
zeitig beendet“ ansah.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung das am 7. März 2012 in Kraft getretene
Gesetz, mit dem die „Propaganda von Homo-, Bi- und Transsexualität gegen-
über Minderjährigen“ unter Strafe gestellt wird?

2. Hält die Bundesregierung das in St. Petersburg verabschiedete Gesetz für
vereinbar mit

a) den Diskriminierungsverboten gemäß Artikel 26 IPbpR und Artikel 14 in
Verbindung mit Artikel 8 EMRK,

b) dem Recht auf Meinungsfreiheit gemäß Artikel 19 IPbpR und Artikel 10
EMRK,

c) dem Recht auf Versammlungsfreiheit gemäß Artikel 21 IPbpR und Arti-
kel 11 EMRK und

d) der russischen Verfassung?

3. Welche Auswirkungen erwartet die Bundesregierung für die Meinungs- und
Versammlungsfreiheit von Lesben, Schwulen, Bi- oder Transsexuellen in der
Stadt St. Petersburg, für homosexuelle Kulturveranstaltungen, Coming-Out-

und Aufklärungsarbeit?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9838

4. Welche Auswirkungen erwartet die Bundesregierung für die Aids-Aufklä-
rungs- und Präventionsarbeit in St. Petersburg?

5. Wie bewertet die Bundesregierung die Festnahmen von Igor Kochetkov und
Sergey Kondrashov aufgrund des genannten Gesetzes am 7. April 2012?
Hat die Bundesregierung gegen die Festnahmen protestiert, und begleitet
die Bundesregierung den Prozess durch Beobachter?

6. Wie bewertet die Bundesregierung die Festnahme von 17 Demonstranten
bei einer Demonstration anlässlich des 1. Mai 2012?
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass diese Demonstranten insbe-
sondere wegen des Tragens von Regenbogenfahnen verhaftet wurden und
nicht aufgrund allgemeiner Vorschriften des Versammlungsrechts?

7. Wie bewertet die Bundesregierung die Festnahme und Verurteilung von
Nikolai Alekseev am 12. April 2012 zu einer Geldstrafe, der ein Schild mit
dem Zitat „Homosexualität ist keine Perversion – Feldhockey und Eisballet
dagegen schon“ der russischen Schauspielerin Faina Ranevskaya in der
Öffentlichkeit hielt (siehe http://themoscownews.com/russia/20120504/189
694594.html)?

8. Welche Beschränkungen ihrer persönlichen Freiheit müssen homo- oder
transsexuelle Touristinnen und Touristen aus Deutschland in St. Petersburg
befürchten, sollte das Gesetz verabschiedet werden?
Können sie beispielsweise für öffentliches Küssen oder Handhalten oder
das Tragen eines Regenbogenpins bestraft werden?
Wird die Bundesregierung eine Reisewarnung für St. Petersburg ausspre-
chen?

9. Wie bewertet die Bundesregierung den am 29. März 2012 in die russische
Duma eingebrachten Gesetzentwurf, der dieselben Tatbestände für ganz
Russland unter Strafe stellen will?

10. Wann und in welcher Form hat die Bundesregierung gegenüber den russi-
schen Behörden den Gesetzentwurf vom 29. März 2012 thematisiert?
Mit welchem Ergebnis?

11. Welche Schritte wird die Bundesregierung unternehmen, um eine Verab-
schiedung dieses Gesetzentwurfs zu verhindern?

12. Welche Strategien verfolgen andere Mitgliedstaaten der Europäischen
Union und die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik,
Catherine Ashton, um die Verabschiedung des Gesetzentwurfs zu verhin-
dern?

13. Teilt die Bundesregierung die Befürchtung, dass eine Verabschiedung des
Gesetzes auf nationaler Ebene eine Vorbildwirkung für andere Staaten und
Städte Osteuropas, etwa in der Ukraine oder in Moldavien, entfalten
könnte?
Falls ja, welche Gegenstrategie entwickelt die Bundesregierung, um einer
solchen Entwicklung zu begegnen?

14. Wie bewertet die Bundesregierung das Urteil des Landgerichtes Krasnodar
vom Februar 2012, dass die Gründung eines „Sochi Pride Houses“ für die
Olympischen Winterspiele von Sotschi 2014 untersagt?

15. In welcher Weise beschäftigt sich der Europarat mit diesen Tendenzen und
Entwicklungen in der russischen Gesetzgebung und Rechtspraxis?

Berlin, den 24. Mai 2012
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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